Interview mit dem "Spiegel"

Schwerpunktthema: Interview

4. März 2013

Der Bundespräsident hat dem Wochenmagazin "Der Spiegel" vom 4. März 2013 ein Interview gegeben.

Bundespräsident Joachim Gauck im Interview mit dem Spiegel

Herr Bundespräsident, zu Ihrer Wahl vor einem Jahr haben wir nach einem langen Gespräch mit Ihnen geschrieben: „Gut möglich, dass er bald abgeschliffen sein wird wie ein Kieselstein. Er ahnt, dass er bald schon an den goldenen Stäben des Schlosses rütteln wird.“ Rütteln Sie?

Ja, das tue ich gelegentlich. Aber natürlich mit der Einsicht eines älter gewordenen Mannes, der das politische Leben kennen gelernt hat und deshalb nicht ungeduldig an diesen Stäben rüttelt.

Ist Ihre zweite Befürchtung auch eingetroffen?

Natürlich wird man glatter geschliffen. Es ist eine merkwürdig ambivalente Situation. Wo ich auch hinkomme, sagen mir die Leute: Behalten Sie bloß diese Fähigkeit zu zugespitzten Formulierungen! Das ist die eine Beobachtung.

Und die andere?

Ein Teil der Medien überprüft unglaublich genau jeden Halbsatz, aus dem man herauslesen kann, dass ich etwas falsch mache.

Waren Sie deshalb so vorsichtig in Ihrer Europarede?

Nein, ich wollte meine Grundhaltung deutlich machen: Dieser Präsident betreibt keine Neben-Außenpolitik und auch keine Neben-Innenpolitik. Er betreibt auch nicht die eigentliche, die gute, die schöne, die edle Politik, während sich die gewählten Politiker mit den schwierigen und schmerzhaften Dingen auseinandersetzen müssen. Das ist der Hintergrund für meine Vorsicht, nicht die Angst, etwas Falsches zu sagen.

Dafür haben Sie einen Preis gezahlt. Es fehlte die Zuspitzung, die Provokation.

Das war gewollt. Ich wusste genau, dass diejenigen, die mehr Europa haben wollten, ähnlich unzufrieden sein würden wie die Europakritiker, die den ganzen Weg als gefährlich ansehen. In meinen eigenen Bekanntenkreis hat jemand gefragt: Was war das denn jetzt? Zeitgeist?

Was haben Sie geantwortet?

Nein, habe ich gesagt, ich denke tatsächlich so. Ich habe lange an der Rede gearbeitet und mich dann entschlossen, diesem Prozess, in dem wir uns in Europa gerade befinden, nicht Häme zu widmen, sondern Bejahung, leidenschaftliche Bejahung. Ich möchte mir mit den Bürgern zusammen bewusst machen, wie kostbar ein solidarisches Europa ist, wo es seine Wurzeln hat, und welche Chancen es auch für die Zukunft birgt. Klar, dass mein Kurs nicht allen gefällt. Dazu sind die Vorstellungen von so einer Rede viel zu unterschiedlich, mehr noch, sie sind widersprüchlich.

Wenn Sie morgens aufwachen – wie lange brauchen Sie, um sich vom Bürger in den Bundespräsidenten zu verwandeln?

Ich stehe als Joachim Gauck auf. Wenn ich mich dann rasiere, kommt so langsam der Umschwung. Ich weiß, in einer Stunde steht unten das Auto, dann geht es ins Büro und da bin ich Präsident. Das ist schon anders als früher. Was ich lernen musste, ist das Amtsbewusstsein. Früher konnte ich jederzeit offen meine Meinung sagen und damit auch mal ordentlich anecken. Auch heute vertrete ich meine Standpunkte, aber eben zurückhaltender, denn ich bin hier nicht privat, sondern repräsentiere das Land. Manchen bin ich dabei zu vorsichtig, anderen nicht vorsichtig genug. Mit diesem doppelten Erwartungsdruck cool umzugehen, gelingt mir noch nicht immer.

Wie deutlich darf Joachim Gauck in seinem Amt als Bundespräsident die Dinge ansprechen?

Ein Beispiel von vielen: Er darf Kritik üben, sollte aber nicht der Versuchung folgen, in die ziemlich verbreitete Politikerschelte einzufallen. , indem er den Bürgern augenzwinkernd vermittelt: „Ihr wisst ja, liebe Leute, wie die Politiker sind. Wir sind uns doch einig, die taugen nichts. Aber seid getrost: Hier steht der Mann, der die Politik in Reinheit vertritt.“

Einige Ihrer Amtsvorgänger sind genau dieser Versuchung erlegen. Richard von Weizsäcker zum Beispiel, der Politiker als „machtvergessen und machtversessen“ beschrieb.

Ich schätze meine Amtsvorgänger sehr. Aber eine solche Kritik an der Politik werden Sie von mir sicher nicht hören. Der Verdruss über sie ist zu groß, als dass ich ihn noch fördern möchte. Außerdem missfällt es mir, wenn die Parteien pauschal schlecht gemacht werden. Sie tragen seit Jahrzehnten wesentlich zur Ausgestaltung unserer Freiheit, unseres sozialen Friedens, unseres Wohlstandes bei. Ohne sie wären wir nicht da, wo wir heute sind. Das darf man, bei aller zulässigen Kritik nicht ignorieren.

Man könnte Ihnen vorwerfen, Sie wollten sich nur gut mit den Mächtigen stellen.

Und wenn schon. Das ist doch nicht der eigentliche Grund für meine Haltung. Ich habe mir vorgenommen, die politische Klasse nicht mit dem erwünschten Besten zu vergleichen, sondern mit dem vorhandenen Guten, also unsere Regierung und unser Parlament mit anderen Regierungen und Parlamenten. Wissen Sie, was dann passiert?

Wir können es uns denken. Unter Blinden ist der Einäugige König.

Wenn man sich von der romantischen Vorstellung gelöst hat, dass es in der Politik Vollkommenheit gebe, kommt man zu einer sehr realistischen und auch eher würdigenden Sicht auf diejenigen, die bei uns Politik machen. Dann kann man die Fehler Einzelner Fehler nennen, ohne gleich am System zu verzweifeln.

Empfinden Sie sich selbst als Angehöriger der politischen Klasse?

Ja, klar. Aber um mein Selbstbild geht es nicht. Ich wünsche mir, dass, Leute, die mich anschauen sagen: „Ach so, es sind wir, die Bürger, die Politik machen“. Sie sollen die eigenen Möglichkeiten von Mitwirkung erkennen und auch die Schönheit, die darin liegt, Verantwortung zu übernehmen.

Die Schönheit Ihres Amtes besteht auch darin, dass Sie keine unangenehmen Entscheidungen treffen müssen.

Ja, mir bleibt vieles erspart. Ich muss nicht Steuerregelungen beschließen, ich muss nicht die Härte oder die Freundlichkeit eines Asylgesetzes gestalten. Ich darf manches anders sehen als die Regierung oder die Opposition. Aber ich darf und will nicht einfach das Gegenmodell zur aktiven Politik abgeben.

Halten Sie den Verdruss über die Politik, den Sie konstatieren, für berechtigt?

Bei den Politikern ist es wie bei uns – es gibt die große Bandbreite zwischen total daneben und fast schon erleuchtet. Das bildet sich oben wie unten ab. Das zu akzeptieren, ist natürlich schwieriger, als einfach mit dem Finger auf jemanden zu zeigen.

Worin sehen Sie dann Ihre Rolle?

Ich möchte dazu beitragen, dass Politik und Bürger sich wieder näher kommen. Dazu müssten wir uns klar machen: Politiker sind Menschen wie andere auch. Wir müssten gemeinsam darauf achten, dass wir Verantwortung wirklich ernst nehmen, dass wir uns korrigieren, wenn etwas nicht klappt. Aber diesen Prozess sollte die ganze Gesellschaft vollziehen, nicht bloß die da oben. Die müssen sich natürlich schärfer anschauen lassen. Scharf ist gut, unfair ist schlecht.

War der öffentliche Umgang mit Rainer Brüderle in den letzten Wochen scharf oder unfair?

Wenn so ein Tugendfuror herrscht, bin ich weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwarten würde.

Das heißt?

Ich finde es richtig, wenn Bemerkungen von Politikern genau überprüft werden Aber ich finde gleichzeitig, man muss die Dinge auch erden. Es gibt sicher in der Frauenfrage bei uns noch einiges zu tun. Aber eine besonders gravierende, flächendeckende Fehlhaltung von Männern gegenüber Frauen kann ich hierzulande nicht erkennen.

War die Aufregung um Brüderle für Sie symptomatisch für die Debattenkultur bei uns?

Ja, und mich beschäftigt die Frage nach dem Warum. Ein Teil der Gesellschaft scheint zufrieden damit zu sein, dass die meisten von uns gut und sicher leben. Komplexe politische, ökonomische oder gesellschaftliche Themen scheut man eher. Viele Medien reagieren darauf. Sie bieten mehr Unterhaltung als Information, setzen auf Personalisierung statt auf Analyse. Und beide, ein Teil der Bürger und der Medien, beschäftigen sich ausführlich mit Fragen, zu denen man sich leicht eine Meinung bilden kann: Wir reden tagelang intensiv über das Verhalten eines Politikers abends an der Bar – aber wir sprechen nur wenig über die brandgefährliche Lage in Mali. Wir befassen uns leidenschaftlich mit der Doktorarbeit einer Politikerin – aber ungleiche Bildungschancen thematisieren wir kaum. Politikergehälter treiben viele Bürger richtig um – nicht aber die Frage, was sie selbst zu einem gelingenden Europa beitragen können. Angesichts dieser Gewichtungen denke ich manchmal, schon: Wenn es keine schlimmeren Sorgen gibt, dann lasst uns mal sehen, was jenseits dieser Wallungen wirklich kritikwürdig ist. Aber das zieht im medialen Wettbewerb häufig nicht. Also werden eingängige Themen hochgejazzt.

Wahrscheinlich haben viele Deutsche ein Gespür dafür, dass sie im besten Deutschland leben, in dem jemals Deutsche lebten. Aber wenn wir Sie richtig verstehen, beklagen Sie, dass zu wenige sagen: Das ist eigentlich meins. Und nicht fragen: Was ist mein Anteil daran, dass es so bleibt?

Ob Sie es nun wollten oder nicht: Sie sind beim Hauptthema meiner Präsidentschaft angelangt.

John F. Kennedy hat es auf die berühmte Formel gebracht: „Fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann – fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt.“

Wenn die Formulierung nicht so altbekannt wäre, würde ich sie gerne öfter benutzen. Mir geht es um Folgendes: Ein Miteinander ohne Engagement funktioniert nicht. Man kann nicht nur User sein. Nur in seinem Computer, dem Fernseher oder einem Magazin, nachzuschauen, was in der Welt passiert, reicht nicht. Da muss noch etwas kommen.

Und zwar was?

Ich würde gerne noch mehr Menschen in diesem Land sehen, die Zutrauen zur den eigenen Gaben, zu ihrer Kraft und Verlässlichkeit entwickeln, die bewusst und selbstbewusst etwas gestalten wollen und auch mal eine Führungsaufgabe übernehmen.

Sie haben uns kurz vor Ihrem Amtsantritt vor einem Jahr gesagt, irgendwann werde der Tag kommen, an dem Sie den Satz sagen würden: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein.“ Wollen die Deutschen das von Ihnen hören?

Dieser Satz ist so missbraucht, dass ich eine andere Formulierung vorziehe. Wir können stolz auf unser heutiges Deutschland sein, stolz darauf, was es nach dem Ende von Krieg und Nazi-Zeit geleistet hat. Und das darf man, wenn einem danach ist, auch sagen. Da bin ich ganz anderer Sicht als jene Linken, die diese Rede per se für gefährlich halten, weil sie noch einem Deutschlandbild von 1968 verhaftet sind, wobei ich die 68er zum Verdruss der Konservativen, oft gelobt habe.

Was ist für Sie so lobenswert an ihnen?

Für lobenswert halte ich nicht, dass viele von ihnen sich kommunistischen Ideologien verschrieben hatten. Aber ich lobe sie dafür, dass sie der Wirklichkeit von Schuld einen Raum im öffentlichen Diskurs gegeben haben. Ich habe unter anderem auch am Beispiel der DDR gesehen, was mit einem kollektiven Bewusstsein geschieht, wenn man die Tiefe dieser Einkehr scheut.

Schwierig wird es nur, wenn man gedanklich an diesem Punkt stehen bleibt.

Ja, wer noch heute nur den tiefsten Fall unserer Geschichte im Blick hat, ist für mich unhistorisch und unpolitisch. Er unterschätzt eine sehr erfreuliche Entwicklung .Es ist doch kein Trugbild, das wir im heutigen Deutschland sehen: Frieden, Demokratie, Rechtsstaat, eine ostdeutsche Bevölkerung, die eine Freiheitsrevolution zuwege gebracht hat…

...Errungenschaften also, auf die man stolz sein kann?

Man kann natürlich den Begriff Stolz vermeiden und demütig sagen: Herr, ich danke Dir! Oder „Liebe Mitmenschen, ich danke Euch“ Aber wir dürfen das Element Stolz auch im Politischen anwenden, wenn es unsere eigenen politischen Kräfte stärkt. Wir dürfen es nicht dorthin abschieben, wo die Rechtsextremen auf ein Deutschland stolz sind, das wir hassen. Dieses Gefühl von Stolz zuzulassen, fällt meiner Generation sehr schwer. Für die Generation der fahnenschwenkenden jungen Leute bei der WM hier in Berlin ist es selbstverständlich. Die sagen: So what? Klar, Deutschland ist toll.

Ist Deutschland inzwischen ein normales Land?

So normal wie andere werden wir wohl nie werden. Aber wir befinden uns in einer neuen, gewissermaßen aufgeklärten Normalität.

Wenn Deutschland wieder in diesem Sinne normal ist, was bedeutet das für seine Außenpolitik?

Ich habe den Begriff normal ja eben mit Attributen versehen, um mich von einer für mich fast obszönen Haltung einer in den 50er-Jahren zu früh eingeforderten Normalität ohne tiefgehende Reue abzugrenzen.

Aber noch mal unsere Frage: Was bedeutet Deutschlands neue Normalität für seine Außenpolitik?

Zu ihr gehört, die eigenen positiven Erfahrungen bei der Gestaltung von Staat, Gesellschaft und internationaler Partnerschaft selbstbewusst zu vertreten.

Um es konkret zu machen: Die Zeiten, in denen Deutschland etwa Frankreich einen natürlichen Vorrang eingeräumt hat, sind vorbei?

Ob es heute noch so etwas wie einen natürlichen Vorrang von welchem Staat auch immer immer geben muss, bezweifle ich. Nach dem Krieg war es eine richtige Selbsterkenntnis: Deutschland hat Europa ruiniert, und wir sollten nicht den Eindruck erwecken, wir wollten es erneut dominieren.

Aber genau das ist der Vorwurf, der im Moment vor allem im Süden Europas erhoben wird.

Dieser Vorwurf lautet: Mit Panzern habt es nicht geklappt, jetzt macht Ihr es anders. Dass das stillos ist, lassen wir mal außen vor. Es ist vor allem politisch falsch, denn das heutige Deutschland hat gar nicht diesen Herrschaftswillen. Auf manchem Gebiet, auf dem ökonomischen etwa, hat es vielleicht ein zu starkes Selbstbewusstsein – das räume ich gerne ein –, aber wir sprechen ja hier über die kollektive Identität, über das, was unser Land ausmacht und trägt. In dieser Hinsicht sind wir dabei, unsere Erfahrungen bei der Bewältigung von Krisen einzubringen und eigene Ansprüche auf Augenhöhe zu vertreten. Das ist okay.

Ein Land wie Frankreich interveniert derzeit mit großer Selbstverständlichkeit in Afrika. Können Sie sich vorstellen, dass Deutschland so etwas auch irgendwann machen wird?

Nein, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, und ich würde es auch nicht wünschen.

Warum nicht? Was unterscheidet uns dabei von Frankreich?

Ich vertraue Deutschland. Es ist ein Garant der Werte, auf die wir uns in Europa geeinigt haben. Dass viele Deutsche allem Militärischen sehr reserviert begegnen ist ja ein Reflex auf die frühere Überhöhung des Militärischen und er ist verständlich.

Das historische Pendel ist also noch nicht wieder in die Mitte zurückgeschlagen?

Noch nicht ganz..

Muss mit Deutschlands Normalisierung eigentlich auch eine Normalisierung und Ausweitung der Waffenexporte einhergehen?

Das ist eine politische Frage, die wir leichter beantworten werden, wenn wir offener über Militäreinsätze reden können. An dieser Stelle gibt es allerdings eine Befangenheit, die ich auch nachvollziehen kann.

Für einen früheren Bürgerrechtler hat die Frage, ob man Waffen auch in Diktaturen liefert, doch sicher eine ganz andere Bedeutung?

Ja, und ich bin entschieden dafür, dass wir das immer wieder debattieren. Es ist ja in der Außen- wie auch in der Wirtschaftspolitik oftmals so, dass uns das Ideale nicht gelingt. Wenn wir Waffen exportieren, dann gibt es dafür Regularien. Es gibt den Bundessicherheitsrat, in dem wir – demokratisch legitimiert – mehr oder weniger offen diskutieren, was geschieht.

Eher weniger offen. Die Sitzungen sind streng geheim.

Gut, nach außen weniger offen. Die meisten Deutschen kommen damit klar. Andere wollen mehr wissen. Das kann ich verstehen.

Finden Sie es richtig, dass so wenig Transparenz in diesem Bereich herrscht?

Ich will der deutschen Außen- und Wirtschaftspolitik keine Empfehlungen geben. Lassen Sie es mich so sagen: Gute Dinge kann man in der Regel auch gut kommunizieren. In seltenen Fällen gibt es Gründe für Geheimhaltung.

Über Ihre Sorge, im Amt glatt geschliffen zu werden wie ein Kieselstein, haben wir bereits gesprochen. Gilt das auch, wenn der frühere Bürgerrechtler Gauck mit seinen ausländischen Gesprächspartnern über Menschenrechte redet?

Der Lernprozess besteht bei mir nicht darin, dass ich mir die Wichtigkeit der Menschenrechte klar machen müsste. Ich muss aber darauf achten, sie so zu vertreten, dass ich ihrer Bedeutung gerecht werde und gleichzeitig das Interesse der Bundesrepublik an guten Beziehungen zu dem jeweiligen Land nicht aus dem Auge verliere. Da übe ich manchmal noch. Und ich nehme mir die Freiheit, auf meine Art zu kommunizieren.

Wie können wir uns das vorstellen?

Wenn ich zum Beispiel mit Vertretern eher autoritär regierter Länder spreche, schneide ich das Thema Menschenrechte nicht konfrontativ an. Ich sage, dass wir auch in Europa erlebt haben, wie etwa Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sich nach und nach durchgesetzt haben. Dann frage ich: Wie sehen Sie die Entwicklung in Ihrem Land?

Und wie ist dann die Reaktion?

Meine Gesprächspartner wissen, was ich meine. Sie antworten etwa: „Die Frauen dürfen bei uns schon dieses oder jenes“ Man kann und soll also über diese Fragen sprechen. Dass wir Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte unter Wert darstellen, will nicht in meinen Kopf und schon gar nicht in mein Herz.

In Wirklichkeit gibt es in der Politik und vor allem in der Wirtschaft eine größere Zögerlichkeit, Menschenrechtsverletzungen anzusprechen.

Václav Havel hat mal gesagt, er erinnere sich an Zeiten, als seine fortschrittlichen Gesprächspartner aus dem Westen Europas die Straßenseite wechselten, wenn sie sahen, dass er ihnen entgegenkam. Er wollte ausdrücken, dass mancher Politiker das Gespräch mit Dissidenten gemieden hat, um den Dialog mit der herrschenden Klasse nicht zu gefährden. Dabei gewinnen wir Orientierung doch nicht nur durch unsere Diskurse mit den Mächtigen,. Wir müssen die Unterdrückten in den Diskurs einbeziehen. Wir müssen sie fragen: Was braucht Ihr Land und Ihre Gesellschaft, und was brauchen sie nicht?

Im Falle Russlands wird der Ton ja gerade erkennbar verschärft, auch vom Bundestag. Finden Sie das richtig?

Ich kann das gut verstehen.

Wann wird es ähnlichen Wagemut gegenüber China geben?

Natürlich hat die Politik ein legitimes Interesse daran, unsere ökonomischen Interessen dort wahrzunehmen. Aber wir müssen uns fragen: Fördern wir den Menschenrechtsdiskurs mit China genauso intensiv wie die Wirtschaftskontakte? Das Land hat die einschlägigen Menschenrechtsdokumente unterschrieben. Den Verweis auf diese Tatsache werde ich beim Kontakt mit China sicher nicht unterlassen. Mit Gesprächspartnern aus anderen Staaten werde ich mich ebenfalls über Menschenrechte austauschen, wo nötig auch kontrovers. Und ich freue mich über jene Politiker die es genauso handhaben.

Länder wie China können also keine Sonderrolle bei den Menschenrechten für sich beanspruchen?

Nein, wir müssen die Universalität der Menschenrechte beständig behaupten. Ich diskutiere mit jedem darüber, der sagt: Hinter Eurem Insistieren auf westlichen Werten verbirgt sich eine hegemoniale Absicht. Meine Sicht ist das nicht, aber ich bin bereit, mich mit der Frage auseinander zu setzen. Ich debattiere auch über den Vorwurf, wir achteten – je nach politischer oder ökonomischer Opportunität – genauer auf die Lage der Menschenrechte in den einen als in den anderen Staaten. Aber ich bleibe dabei, dass Menschenrechte immer und überall gelten müssen. Warum? Weil Unfreiheit, Folter und bittere Armut jeder Frau und jedem Mann auf der ganzen Welt weh tun.

Herr Bundespräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Die Fragen stellten Georg Mascolo und Konstantin von Hammerstein.