Interview mit der Tageszeitung "Bild"

Schwerpunktthema: Interview

18. März 2013

Bundespräsident Joachim Gauck in seinem Amtszimmer

Herr Bundespräsident, Sie sind jetzt seit einem Jahr im Amt. Haben Sie Ihre Kandidatur schon einmal bereut?

Nein. Ich habe mich zwar anfangs nicht durchgängig wohlgefühlt, weil ich mich erst daran gewöhnen musste, rund um die Uhr unter Beobachtung zu stehen. Aber bereut habe ich den Schritt nie.

Hat sich Ihr Bild von Deutschland und den Deutschen im Amt verändert?

Ja, es hat sich weiter verbessert. Das liegt an den vielen Menschen, die ich treffen durfte und die in Vereinen und Initiativen dieses Land am Laufen halten. Sie bilden das Rückgrat dieser Gesellschaft. Deutschland kann sich auf seine Bürger verlassen.

Es gibt immer wieder die Klage, dass der Wohlstand in Deutschland ungleich verteilt sei und die Gesellschaft auseinanderdrifte. Sehen Sie diese Gefahr?

Man sieht sie besonders dann, wenn man an soziale Brennpunkte geht oder mit Vertretern von Verbänden spricht, die sich der Menschen, die dort leben, annehmen. Wenn man sich dann mit Betroffenen unterhält, weitet sich der Blick noch mal. Sie sind nicht selten optimistischer und zupackender, als man das zunächst vermutet. Das ist mir erst kürzlich bei meinem Besuch in der brandenburgischen Uckermark aufgefallen. Da konnte ich meine ganzen mitgebrachten Trostworte ungenutzt wieder einstecken. Mehr Aufmerksamkeit für die Tatkraft vieler Menschen in schwierigen Lebenssituationen, die wünsche ich mir schon.

Es heißt auch, gerade junge Menschen hätten kaum noch Chancen, ihr Leben wirklich zu gestalten.

Das sehe ich anders. Die meisten jungen Menschen in Deutschland haben diese Chancen nicht nur, sie nutzen sie auch - zum Glück. Daneben gibt es aber andere junge Menschen, deren Familien mit sehr wenig Geld auskommen müssen. Für sie ist es natürlich schwer, das Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Dann gibt es junge, Männer und Frauen, denen es zu schaffen macht, dass sie – jedenfalls auf bestimmten Feldern - mit vielen hoch qualifizierten Altersgenossen um ordentlich bezahlte, sichere Arbeitsplätze konkurrieren müssen. Auch diesen Menschen fällt es nicht leicht, das Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Und schließlich gibt es junge Männer und Frauen, die zwar im Wohlstand leben, deren Arbeitskraft auch gefragt ist, die aber ungenügend motiviert sind und denen man bisher zu wenig Verantwortung und Eigeninitiative abverlangt hat – die es nicht schaffen, ihr Leben wirklich zu gestalten.

Wenn ein erheblicher Teil einer Generation sagt: „Ich mach später Hartz IV“ – fehlt uns dann der Aufstiegswille?

Zunächst mal: So resigniert ist nur ein kleiner Teil der jungen Männer und Frauen. Über sie würde man in manchen anderen Ländern sagen, ihnen gehe es zu gut. Das empfinde ich als kaltherzig, denn wir wollen niemanden aufgeben. Aber ich denke schon, dass die Balance von Fördern und Fordern in der Sozialpolitik sehr wichtig ist. Ich meine, dass Gerhard Schröder sich mit diesem Ansatz der Agenda 2010 bleibende Verdienste erworben hat. Eine Unterforderung von Menschen – und sei es eine liebevolle – ist nicht besonders menschlich. Anders ausgedrückt: Wir tun uns nichts Gutes, wenn wir zu wenig von uns verlangen. Wir werden nicht als Opfer geboren, wir werden zum Opfer gemacht.

Verderben hohe Manager-Gehälter die guten Sitten?

Ganz grundsätzlich gilt: Wir sind eine Gesellschaft, die sensibel auf allzu große Unterschiede bei Einkommen reagiert. Ja, es gibt unangemessene Gehälter. Aber wenn wir uns allein daran festbeißen, vergeuden wir viel Energie, die anderswo sinnvoller eingesetzt werden könnte – zum Beispiel bei der Diskussion darüber, wie man auch hierzulande gerechtere Bildungs- und damit mehr Aufstiegschancen schafft.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie der Botschafter der Bürger bei der Regierung sein wollen. Was würden Sie der Bundesregierung heute für eine Botschaft überbringen?

Dahinter steht der Wunsch des Vermittelns zwischen den unmittelbar politisch Verantwortlichen und den Wählern. Das Wichtigste in der Politik ist, mit den Menschen zu reden. Das gilt für Regierungsmitglieder, Parlamentarier und natürlich auch für mich selbst. Politik, die hinter einem Vorhang aus Rhetorik die eigentlichen Härten und Schwierigkeiten, die zu erwarten sind, verbirgt, erzeugt auf Dauer Frust. Für den Moment mag das helfen, vielleicht auch die nächste Wahl zu gewinnen. Aber wenn wir zum Beispiel in Europa solidarisch sein wollen, dann müssen wir den Menschen erklären, warum es – wie bei der deutschen Einheit – notwendig und sinnvoll ist, Geld in die Hand zu nehmen. Und: Dort wo die Politik sich scheut, Risiken zu benennen, wird sie Vertrauensverlust ernten. Kommunikation ist kein Anhängsel von Politik. Politik ist auch gelebte Kommunikation!

Die Deutschen durften nie direkt über die Europapolitik abstimmen. Ist Europa „zu wichtig“ für wirkliche Demokratie?

Es gibt Situationen und Themen, die sich nur schwer durch eine Ja/Nein-Entscheidung regeln lassen, bei denen die von der Bevölkerung Gewählten sich intensiver mit langfristigen Entwicklungen und auch mit Detailfragen beschäftigen können als viele Wähler. Entscheidungen der repräsentativen Demokratie sind demokratisch.

Vor gar nicht allzu langer Zeit bekam der jährliche Bericht zum Stand der deutschen Einheit noch riesige Aufmerksamkeit. Seit einiger Zeit kennt man nicht einmal mehr den Ost-Beauftragten. Sind wir schon fertig mit der inneren Einheit?

Es gibt natürlich immer noch Unterschiede – aber immer weniger und immer schwächer, bei den Jungen eigentlich überhaupt nicht mehr. Es gibt noch immer eine andere politische Kultur in Ost und West. Das zeigt sich zum Beispiel in den Ergebnissen der Linkspartei. Aber auch in Umfragen: Gleichheit wird im Osten im Vergleich zur Freiheit noch immer deutlich höher geschätzt als im Westen. Die Menschen im Westen haben schon länger Freiheit und Selbstbewusstsein geübt und treten auch so auf. Im Osten waren Eigenverantwortung und Eigeninitiative über Jahrzehnte gefährlich. Um so größer ist meine Bewunderung für die Ostdeutschen, die sich seit Langem engagieren und auf allen Ebenen einbringen.

Gegen Ihren Vorgänger Christian Wulff wird immer noch ermittelt. Tut er Ihnen manchmal leid?

Zunächst einmal gehört ein ganz genaues Überprüfen und Hinterfragen von Politikern zu unserer politischen Kultur. Trotzdem bewegt mich das Schicksal von Christian Wulff und seiner Frau. Ich habe damals das junge Paar hier ins Schloss Bellevue einziehen sehen mit all ihren Hoffnungen, was sie vielleicht politisch bewegen könnten. Wenn ich dann heute sehe, was aus diesen Hoffnungen geworden ist, dann tut mir das menschlich leid.

Herr Bundespräsident, ganz Deutschland diskutiert über die Gleichstellung von Homo-Paaren. Hat die klassische Ehe ausgedient?

Nein, natürlich nicht. Sie ist die Institution, die durch alle Zeiten Bestand gehabt und unsere Gesellschaft getragen hat. Ich mag allerdings keine Ungleichbehandlung, mehr noch, ich begrüße eine Entwicklung hin zu mehr Gleichberechtigung. Ich fände es aber falsch, wenn die Gruppe in der Bevölkerung, die mit dieser Sicht hadert, kein Gehör fände. Deshalb ist die Debatte, wie sie beispielsweise die Union gerade führt, so wichtig. Die Gesellschaft muss sich über die nächsten Schritte der Gleichstellung wirklich austauschen. Und das bedeutet, es zählt das Wort derer, die mehr Gleichstellung wollen, und derer, die das nicht möchten.

Gestatten Sie eine persönliche Frage: Sie leben im Amt auch keine klassische Familie. Sehen Sie sich bereits als Beispiel für die bunter werdende Gesellschaft oder ist es ein privater Sonderfall?

Diese Familienkonstellation hat sich ergeben und wird von uns nun so gelebt. Mir ist bewusst, dass das für manchen ein Ärgernis darstellt, aber in unseren Familien wird es akzeptiert und in der Bevölkerung im Großen und Ganzen toleriert. Allerdings geht es uns nicht darum, ein Rollen-Modell zu sein.

Sie wurden scharf kritisiert, weil Sie im Zusammenhang mit den Sexismus-Vorwürfen gegen Rainer Brüderle von „Tugendfuror“ gesprochen haben. Einige Aktivistinnen fühlten sich gar als „Furie“ beschimpft. Tut Ihnen das Wort heute leid?

Wenn man das betreffende Interview genau liest, wird man feststellen, dass ich Teile der Mediendebatte kritisiert habe, nicht Frauen, die Opfer von sexistischen Übergriffen werden. Das ist doch völlig klar!

Macht Ihnen das Internet mit seinen Shit-Stürmen und Twitter-Orkanen Angst?

Nein, Angst habe ich nicht. Aber inzwischen macht das alltägliche Kommunikationsverhalten im Netz ja selbst prominente Piraten nachdenklich. Beim Blick ins Internet schauen wir in einen Spiegel, in dem wir all das Wissen kluger Zeitgenossen finden, aber leider eben auch, geschützt durch Anonymität, menschliche Abgründe. Es wäre schön, wenn es eine noch breitere Diskussion darüber gäbe, was im Internet geht und was nicht geht.

Zwei Protestanten stehen an der Spitze der Bundesrepublik. Der deutsche Papst ist zurückgetreten. Ist die katholische Kirche in Deutschland in der Krise?

Die aktiven Katholiken in Deutschland gehen durch eine schwierige Etappe. Der Missbrauchsskandal, die Debatten um den Zölibat oder um die Rolle der Frauen in der Kirche treiben sie um. Aber viele setzen sich mit dieser Krise auseinander und das finde ich gut. Gewiss ist es Nicht-Katholiken und einem Teil der Katholiken fremd, dass die Kirche an einer Reihe von Dogmen und althergebrachten Traditionen festhält. Aber es gibt eben auch Menschen, die das Bewahren und Schützen wichtiger finden als das rasche Verändern. Es ist gut, dass es diese konservativen Menschen gibt, sie gehören genauso zum Reichtum unseres Landes wie jene, die stets zu neuen Gipfeln stürmen wollen. Und: Vergessen wir nicht die ungeheure Kraft der Männer und Frauen in den Orden und Gemeinden, die sich dort engagieren, wo Menschen Hilfe brauchen. Mit anderen Worten: Ich mag mich der manchmal sehr heftigen Kritik an der katholischen Kirche nicht anschließen.

Die Fragen stellten Béla Anda, Marion Horn und Ralf Schuler.