Interview mit der "Bild am Sonntag"

Schwerpunktthema: Interview

25. August 2013

Der Bundespräsident hat am 25. August der Wochenzeitung "Bild am Sonntag" ein Interview gegeben. Die Fragen stellten 20 Bürgerinnen und Bürgern, die zum Teil als Ehrenamtliche aktiv sind und als Vertreter ihrer Organisationen auf dem Bürgerfest des Bundespräsidenten am 30. und 31. August zu Gast waren.

Bundespräsident Joachim Gauck während einer Diskussion (Archivbild)

Der Bundespräsident hat in der Wochenzeitung "Bild am Sonntag" 20 Fragen von, zum Teil prominenten, Bürgerinnen und Bürgern beantwortet:

Dirigent Daniel Barenboim:
Als Bundespräsident im Jahr 2013 und als Ost-Deutscher, wie gerecht, finden Sie, war der Umgang mit Ex-SED-lern nach der Wiedervereinigung im Vergleich mit dem Umgang mit ehemaligen Mitgliedern der NSDAP in Deutschland nach 1945?

Die Mitglieder der SED haben 1990 einen relativ leichten Übergang in die Demokratie erlebt. Ihre Partei wurde nicht verboten; sie hat sich umbenannt und war kontinuierlich politisch aktiv. Eine Entkommunisierung, wie in Tschechien, gab es nicht, anders als die Entnazifizierung nach dem Krieg. Eine wesentlich kleinere Gruppe als die 2,3 Mio. Parteimitglieder hat tatsächlich Karriereabbrüche, vor allem im öffentlichen Dienst, hinnehmen müssen, nämlich jene Menschen, die hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter der Stasi waren. Diese waren nicht vertrauenswürdig genug, um weiter als Richter, leitende Beamte, Lehrer oder Polizisten zu arbeiten. Allerdings sind nicht alle IM aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden, sondern nur etwa die Hälfte. Alles in allem: Die ehemaligen Systemträger sind nicht über Gebühr belastet worden.

Moderatorin Nazan Eckes:
Mit Blick auf die Bundestagswahl im September: Über 18 Prozent der deutschen Bevölkerung hat fremde Wurzeln, jedoch nur knapp vier Prozent der Parlamentskandidaten haben einen Migrationshintergrund. Woran, glauben Sie, liegt das? Und brauchen wir mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag?

Ich ermuntere die Parteien, verstärkt um Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu werben und sie für ein Engagement in der Politik zu gewinnen. Wir alle profitieren, wenn Frauen und Männer mit ganz unterschiedlichen Wurzeln ihre Erfahrungen auch in die Parlamente einbringen. Außerdem wäre es ein wichtiges Zeichen dafür, dass alle Bürger, egal woher sie, ihre Eltern oder Großeltern kommen, zu diesem Land gehören und es mitgestalten.

Claire Klindt, Togo-Hilfe – Lebenschance e.V.:
2011 haben wir in Bremen den ersten Landtagsabgeordneten mit afrikanischer Herkunft direkt gewählt. Wann schätzen Sie, dass Deutschland soweit wäre, einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin mit Migrationshintergrund zu wählen?

Der Bremer Bürgerschaftsabgeordnete Elombo Bolayela war im Mai zu Gast bei der Veranstaltung „Afrika in Deutschland“ im Schloss Bellevue. Mir ging es darum zu zeigen: Es geht doch! Deutsche mit afrikanischen Wurzeln sind ein selbstverständlicher Teil der Vielfalt Deutschlands. In den Parlamenten und Regierungen gibt es bisher nur wenige Frauen und Männer mit ausländischen Wurzeln, aber das ändert sich zum Glück – zwar langsam, aber stetig. Warum sollte es also eines Tages nicht auch eine Bundespräsidentin oder einen Bundespräsidenten geben, die oder der mit eigener Zuwanderungsgeschichte die gewachsene Vielfalt unseres Landes verkörpert?

Schauspielerin Dennenesh Zoude:
Gerade wegen Ihrer Vergangenheit wollten Sie ein unbequemer Präsident sein. Warum sind Sie seit Beginn der NSA-Affäre so lange so zurückhaltend geblieben?

Meine Rolle als Bundespräsident bringt es mit sich, in aktuellen, tagespolitischen Fragen öffentlich Zurückhaltung zu üben. Gleichzeitig verfolge ich die Entwicklung der Affäre sehr genau und sie beunruhigt mich. Allein die Möglichkeit, dass unsere Kommunikation in großem Umfang von ausländischen Geheimdiensten von uns nicht kontrollierbar abgeschöpft werden könnte, schränkt unsere Freiheit ein. Deswegen brauchen wir mehr Transparenz und die Sicherheit, dass auch Nachrichtendienste befreundeter Staaten sich an die bei uns geltenden Regeln halten. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger lernen nun, was im Netz möglich ist – neue Freiheiten der Kommunikation und Information ebenso wie Überwachung und Manipulation. Jetzt brauchen wir eine sachliche Debatte darüber, wie wir uns wirksam vor Missbrauch schützen können. Da ist der Staat gefordert, aber eben auch jeder Einzelne und die private Wirtschaft.

Wohnungsloser Torsten Meiners:
Wie kann es sein, dass Bundespräsidenten immer wieder Gesetze unterschreiben, die vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden?

Als Bundespräsident habe ich die Aufgabe, Gesetze dann zu unterschreiben, wenn ich sie für verfassungsgemäß halte, ebenso wie zuvor schon der Gesetzgeber. Das Bundesverfassungsgericht kann allerdings, im Rahmen eines anhängigen Verfahrens, anschließend zu einer anderen Auffassung gelangen und feststellen, dass das Gesetz nicht mit der Verfassung in Einklang steht. Diese Fälle sind, gemessen an der großen Zahl von Gesetzen, aber sehr selten.

Erzbischof Robert Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz:
Was bedeutet es als Christ, politisch engagiert zu sein?

Im christlichen Glauben werden uns zwei Dinge tief ins Herz gelegt: die Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen. Also dürfen uns die Verhältnisse, in denen Menschen leben, nicht gleichgültig sein, weder als wir als Glaubende unter Diktaturen lebten, noch wenn es gilt, den Raum der Freiheit lebenswerter und menschlicher zu gestalten.

Sterne-Koch Nelson Müller:
Welchen Eintopf lieben Sie und essen ihn bereits seit Ihrer Kindheit?

Apfel und Kartoffel, etwas flüssiger als Kartoffelbrei, aber nicht so flüssig wie Suppe. Gebratene Zwiebelringe darüber und am besten grobe Leberwurst dazu.

Marie-Luise Wolff, Chefin des Energieversorgers HSE und einzige weibliche CEO der 300 größten Unternehmen:
Was gibt Ihnen Energie?

Ganz Unterschiedliches: Begegnungen mit Menschen, die etwas für sich und andere leisten, auch begabte, geniale Menschen – von deren Energie und Begeisterung lasse ich mich gerne anstecken. Mich beflügeln auch gute Texte, manchmal ein Gedicht, große Musik, ein Bibelwort oder ein Choral im Gottesdienst, der Blick in das Gesicht eines Enkelkindes, den Frühling zu erleben, das Meer…

Nicole Schmidt (16), Junghelferin aus dem THW – Ortsverband Berlin – Spandau:
Beim THW lernt man den Umgang mit technischem Gerät, der einem auch viel in Beruf und Alltag bringen kann. Nehmen Sie gelegentlich zu Hause auch einmal ein Werkzeug in die Hand?

Wer damals in der DDR nicht mit Zange und Schraubenschlüssel den Trabbi wieder zum Laufen bringen konnte, war schnell aufgeschmissen. Heute reicht es bei mir zum Steckdosen- und Lampenreparieren. Aber das will ich lieber nicht mit dem vergleichen, was die Frauen und Männer vom THW alles beherrschen.

Michael Sommer, DGB-Vorsitzender:
Wie bewerten Sie die Gewerkschaften, ihre Arbeit und den Wert der Mitbestimmung für unser Land?

Wir brauchen unsere freien Gewerkschaften als Teil unserer Demokratie. Diktaturen und Despoten fürchten sie und verbieten oder unterwerfen sie. Was unsere deutschen Gewerkschaften wert sind, merkt man besonders im internationalen Vergleich. Wir haben hier etwas Großartiges: Interessenvertretung der Arbeitnehmer mit einem Blick für das Ganze. Das haben wir besonders in der Krise gemerkt, als engagierte Betriebsräte und die Gewerkschaften daran mitgewirkt haben, Arbeitsplätze und Unternehmen zu sichern. Für das nächste Jahr, in dem Betriebsratswahlen anstehen, wünsche ich mir, dass möglichst viele Beschäftigte wählen gehen und auch selber kandidieren.

Paralympics-Siegerin Verena Bentele:
Wie halten Sie sich fit, um dem Job und auch dem Alter zu trotzen?

Na ja, eigentlich sollte ich drei Mal in der Woche schwimmen oder mich körperlich verausgaben. Die Praxis sieht leider ganz anders aus. Wenn ich mal frei habe, setze ich mich meistens lieber in den Sessel und lese. Deswegen schimpfen meine Töchter ein bisschen mit mir. Aber immerhin schaffe ich es öfter einmal, und im Sommer regelmäßig, aufs Fahrrad zu steigen oder spazieren zu gehen. Im Urlaub segele ich gern mit einem kleinen Holzboot auf dem Saaler Bodden.

Dr. Eckart von Hirschhausen von der Stiftung Humor hilft Heilen:
Welches ist Ihr Lieblingswitz?

Es gibt begnadetere Witze-Erzähler als mich. Am meisten lachen kann ich über die Witze, die mir meine Enkel erzählen wollen – vor allem dann, wenn die Pointe ein bisschen unklar bleibt.

Fabian Schwarz, Hotel-Azubi:
Auch in wichtigen Ämtern hat man sicherlich Tage, an denen man lieber etwas anderes machen würde. Wie motivieren Sie sich jeden Tag für Ihren Job?

Es gibt tatsächlich Tage, an denen ich morgens nicht so gerne auf meinen Terminkalender schaue. Wenn ich dann aber anfange, kommen die Motivation und oft auch Freude von selbst. Das liegt auch daran, dass ich bei meiner Arbeit vielen Menschen begegne, die mich begeistern, mir vertrauen und Dankbarkeit in mir erzeugen. Und wirklich schön ist, dass ich ein Deutschland repräsentieren darf, das glaubwürdiger, friedlicher, bescheidener und menschenfreundlicher ist, als alle seine Vorgänger.

Fußballtrainerin Silvia Neid:
Ihr Leben hat sich ja – seit sie Bundespräsident sind – ziemlich verändert. Genießen Sie es, in der Öffentlichkeit zu stehen oder empfinden Sie das auch in manchen Situationen als Belastung?

Es macht mir viel Freude, mit sehr unterschiedlichen Menschen im ganzen Land zusammenzukommen. Das ist spannend, oft überraschend und auch sehr anregend. Aber natürlich gibt es Momente, in denen öffentliches Interesse ein bisschen anstrengend ist. Zum Beispiel, wenn ich in meinem Urlaub an der Ostsee bin oder sonntags spazieren gehe. Die Menschen sind zwar sehr freundlich und oft sogar ausgesprochen liebenswürdig, aber in der Freizeit wünschte ich schon, ab und zu unerkannt unterwegs zu sein.

Volker Langguth-Wasem, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.:
Wie beurteilen Sie die Chancen für eine zeitnahe Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, insbesondere in den Bereichen inklusive Bildung und Barrierefreiheit?

Wir sind augenblicklich auf dem Weg. Die Frage heißt nicht mehr: Wer ist behindert? Sondern: Wer wird behindert – und wodurch? Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen sicher noch mehr als bisher dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen – insbesondere in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt – selbstverständlich teilhaben können.

Menschen mit Behinderungen haben mich oft beeindruckt mit ihrer Energie und ihrer ansteckenden Lebensfreude, auch mit ihrem enormen Einsatz zum Beispiel im Sport! Und mich beeindruckt ihr Engagement in eigener Sache. Es ist ganz wichtig, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen sich immer wieder zu Wort melden und für das Ziel einer „Miteinander-Gesellschaft“ werben.

Schauspieler Erol Sander:
In Deutschland bekommen die Menschen im Gegensatz zu anderen Ländern nach wie vor zu wenige Kinder. Welche Anreize müssen Ihrer Meinung nach gesetzt werden, damit die Deutschen endlich wieder mehr Kinder kriegen?

Die Anreize allein werden nicht ausreichen. Wir brauchen ein gesellschaftliches Umfeld, in dem deutlich wird, dass Kinder in einer oft nicht erwarteten Weise glücklich machen. Ein Umfeld also, das jungen Menschen hilft, ohne Ängste und ganz selbstverständlich „Ja“ zu sagen zu Kindern. Dazu gehören neben materieller Förderung, die es schon gibt, bessere Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dafür müssen wir noch mehr tun.

Fußballspieler Miroslav Klose:
Wie wichtig ist Ihrer Ansicht nach der Fußball für die Integration?

Enorm wichtig! Im Sport zählt, wie man sich für ein Ziel als Einzelner oder im Team einsetzt, nicht woher man stammt, welche Religion oder Hautfarbe man hat. Leider haben dies einige noch nicht erkannt und wir müssen dies immer wieder betonen. Aber in sehr vielen Sportvereinen gelingt die Integration ganz selbstverständlich. Sehr viele Fußballer – ob Profis oder Hobbyspieler – stammen aus Zuwandererfamilien. Etwa 18 Prozent der Sportvereine haben ehrenamtliche Vorstandsmitglieder mit ausländischen Wurzeln. Von dieser gelebten Vielfalt können sich andere Organisationen und Institutionen übrigens ein ordentliches Stück abschneiden!

Schauspielerin Martina Gedeck:
Was tun Sie, damit Ihr Glaube an die Möglichkeit einer gerechteren Welt nicht erlischt?

Ich bin ganz sicher, dass uns der Glaube an eine gerechtere Welt erhalten bleibt – die ganze Geschichte der Menschheit ist ja geprägt davon. Ich glaube allerdings nicht, dass die so unterschiedlichen Menschen und Gesellschaften sich auf das eine vollendete Gesellschaftsmodell einigen können. Entsprechende politische Visionen betrachte ich mit Skepsis. Aber dass wir das Bessere, das weniger Mangelhafte gestalten können, das weiß ich. In großen Teilen der Welt gibt es heute mehr Rechte, auch mehr Sicherheit und Wohlstand als früher. Und in Demokratien können sich Menschen aus allen Schichten einbringen und mitgestalten. Was wir nicht verlieren dürfen: das Wissen darum, dass wir Menschen zueinander gehören. Es ist schon ein altes religiöses Wissen, dass wir fähig sind zur Nächstenliebe, nicht nur zur Selbstliebe. Im Politischen heißt das: Wir sind fähig zur Solidarität. Und die Schritte, die wir schon getan haben, um Chancengleichheit und Teilhabe für möglichst Viele zu schaffen, ermutigen mich, weiter an eine stetig gerechtere Welt zu glauben.

Holger Dietze, 34 Jahre, aus Berlin, seit 5 Jahren arbeitsuchend:
Glauben Sie, dass ältere Menschen in Deutschland finanziell besser abgesichert sein sollten?

Der größte Teil der Rentner in Deutschland ist heute – gerade auch im internationalen Vergleich – recht umfassend abgesichert: Das verdankt sich ihrer eigenen Leistung und der Leistung aller in unserer solidarischen Gesellschaft. Das sollten wir zunächst einmal anerkennen, auch wenn wir wissen, dass natürlich noch manches verbesserungswürdig ist. Ich weiß, dass sich viele Menschen – alte und junge – berechtigte Sorgen darüber machen, wie es künftig um unsere Renten stehen wird. Das hängt von der Wirtschaftskraft unserer Nation, von Arbeitsplätzen und Löhnen und vor allem davon ab, ob wir genügend Menschen mit sozialversicherungspflichtiger Arbeit haben. Diese Fragen betreffen auch die Jungen von heute. Auch sie haben Anspruch auf einen abgesicherten Ruhestand.

Jessica Lehmann, 20 Jahre, Teilnehmerin von “Jule”, einem Modellprojekt für Alleinerziehende in Berlin-Marzahn, eine Tochter, beginnt ab September eine Ausbildung zur Altenpflegerin:
Warum tun sich Firmen oder Betriebe so schwer, auf die Nöte der Alleinerziehenden in Bezug auf die Arbeitszeiten einzugehen? Die KITAs haben nun einmal nur montags bis freitags von 6.00 Uhr bis 18.00 Uhr offen.

Es stimmt: Auch wenn es seit kurzem einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für ganz kleine Kinder gibt und auch wenn schon eine Reihe von Unternehmen flexible Arbeitsmodelle anbieten – hier geht noch viel mehr, damit auch alleinerziehende Mütter und Väter ihren Beruf besser ausfüllen können. Nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft und die Gewerkschaften sollten gemeinsam weiter daran arbeiten, familienfreundliche Bedingungen für Mütter und Väter zu schaffen.