Interview mit der "Deutschen Welle"

Schwerpunktthema: Interview

22. Februar 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 22. Februar im Interview mit dem Fernsehsender "Deutsche Welle" gesagt: "Wenn wir uns zum Beispiel in Indien, wo ich gerade herkomme, überlegen: Wo soll der Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sein, wo gehen die Millionen hin? Dann wäre es eben wichtig, einen Schwerpunkt zu setzen, der etwa für den Klimaschutz, für innovative Technologien, für Zukunftstechnologien bestimmt ist."


Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Sender "Deutsche Welle" am 22. Februar ein Interview gegeben. Im Gespräch mit der Leiterin des Hauptstadtstudios, Dagmar Engel, ging es um Deutschlands Verantwortung in der Welt.

Herr Bundespräsident, bevor wir den Blick weiten auf Deutschlands Rolle in der Welt, würde ich gerne ein bisschen näher schauen auf die Ukraine. Unabhängig von Vermittlungserfolgen – wie soll nach der Gewalteskalation in dieser Woche überhaupt wieder so etwas wie Vertrauen entstehen können? Was können wir dafür tun, was kann das Ausland, was kann Deutschland dafür tun?

Joachim Gauck: Ich finde es wichtig, dass wir im Zusammenwirken mit anderen Europäern die Rolle als Vermittler annehmen. Dass unser Außenminister dort seine Erfahrung einbringt, auch die deutschen Erfahrungen. Wir haben das ja einmal in Deutschland, in einem Teil Deutschlands erlebt, als die Diktatur abgeschafft wurde. Und in solchen Übergangszeiten fürchtet man sich vor Gewalt. Die Gewalt ist dort jetzt eingetreten und man kann nur appellieren: Schluss mit der Gewalt! Hauptsächlich richtet sich der Appell an die Regierungsverantwortlichen. Natürlich auch an andere, aber zunächst mal sind die Regierenden dafür verantwortlich, dass man nicht brutal gegen die Bevölkerung vorgeht. Wenn es tatsächlich zu einer Beruhigungsphase kommt, dann geht es natürlich nicht ohne Verhandlungen. Und vielleicht braucht es so ein Modell wie das der Runden Tische, das in Übergangszeiten für eine gewisse Beruhigung und auch für die Chance steht, noch einmal tief durchzuatmen, die eigenen Ansätze zu überprüfen und im Gespräch mit anderen dann vielleicht Lösungswege zu entwickeln, die bislang versperrt waren.

Sie sehen schon eine Parallele zwischen den Ereignissen von 1989 und heute?

Es ist natürlich nicht so, dass die Regierung in der Ukraine jetzt so eine wäre wie zu Sowjetzeiten. Das wäre unfair, das so zu sehen. Sondern sie ist gewählt worden und sie ist dadurch eine natürliche Autorität. Nur in der jüngsten Phase des Abbrechens eines Weges hin zu Europa, hat diese Regierung eben massiv Vertrauen verloren. Und von daher ist es sehr wichtig, nicht einfach trotzig mit dem Fuß aufzustampfen und zu sagen: Wir sind nun einmal die rechtmäßige Regierung, sondern diesen Vertrauensverlust als ein politisches Faktum anzuerkennen und sich dadurch genötigt zu fühlen, in einen neuen und offenen Dialog auch mit den Reformkräften einzutreten.

Hat Deutschland eine besondere Verpflichtung in der Region?

Es ist so, dass unsere polnischen Nachbarn uns immer daran erinnern, dass wir nicht sagen, hier endet Europa. Und wenn wir intensiv zuhören, was sie uns sagen, dann kriegen wir mit, was die Fachleute uns dort auch sagen: dass ein großer, wahrscheinlich der größte Teil der Bevölkerung die Orientierung nach Europa für das Nützlichere hält. Und wenn es so ist, dann darf sich die stärkste politische Kraft in Europa und die größte Volkswirtschaft eben nicht vornehm zurückhalten, sondern muss diesen Wunsch befördern und muss damit die Idee eines friedlichen Ausgleichs und einer wertebasierten Ordnung auch an unseren Außengrenzen immer wieder aktiv betonen. Es kann uns nicht gleichgültig lassen, was nun nicht direkt an unseren Grenzen, aber an der Grenze unseres polnischen Nachbarstaates passiert. Da sind Menschen, die fühlten sich früher schon mit Europa verbunden, jedenfalls im westlichen Teil der Ukraine, auch staatlich. Und da gibt es noch Traditionen, die diese Menschen stärker in Richtung Westen schauen lässt als in Richtung Moskau. Dass das nicht völlig einheitlich ist, wissen wir. Aber nach meinen Gesprächen jüngst mit Herrn Kwasniewski, dem Ex-Präsidenten Polens, der für die EU dort lange verhandelt hat, scheint sich auch im Osten der Ukraine mehr Hoffnung damit zu verbinden, Richtung Westen zu schauen als in Richtung Moskau. Das ist dort sicher nicht einheitlich und so wie im Westen der Ukraine, aber es ist schon vorhanden.

Sie haben gerade zwei Stichwörter gesagt. Einmal das größte, kräftigste Land in Europa und eine aktivere Rolle. Das sind beides Grundthemen in dieser Grundsatzrede gewesen, die Sie gehalten haben, die nicht nur Aufsehen im Land erweckt hat, sondern eben auch in der Welt Aufsehen erregt hat, was relativ unüblich ist für eine Grundsatzrede eines Bundespräsidenten. Was ist die Botschaft, die da nach draußen geht?

Eigentlich ist die stärkere Botschaft nach innen gerichtet. Dazu werden wir vielleicht noch kommen. Nach außen gerichtet heißt, wir sind im Laufe von Jahrzehnten so gereift und auch so verantwortungsfähig, dass ich mir wünsche, dass diese Verantwortungsfähigkeit sich nicht nur im engeren Feld hier in Europa zeigt, sondern überall dort, wo unsere Erfahrungen nützlich sein können. Das ist also das Gegenteil eines Ansatzes eines wilhelminischen Deutschlands, es ist aber das Ernstnehmen von Entwicklungsschritten hin zu einer funktionierenden Demokratie, einer funktionierenden staatlichen Verwaltung, einer Eindeutigkeit der Herrschaft des Rechts. Dazu kommt ein sozialer Ausgleich, den viele Länder nicht haben, so etwas wie ein innerer Friede, wonach sich viele Gesellschaften sehnen. Und bei meinen Reisen im Ausland habe ich immer stärker gespürt, dass wir in ein Entwicklungsstadium eingetreten sind, das andere als vorbildlich betrachten. Und ich habe immer den Impuls gehört, zeigt euch mehr, gebt uns mehr von euren Erfahrungen mit. Dann haben wir vor zwei Jahren einen sehr starken Appell von unserem polnischen Nachbarvolk gehört: Der polnische Außenminister Sikorski fürchtet sich mehr vor einem Deutschland, das nichts tut als vor einem, was tatsächlich Akzente setzt. Ich habe bei meinen Besuchen im Ausland oftmals diesen Impuls gehört. Ich hab dann versucht, den Präsidenten oder anderen, denen ich begegnet bin, die deutsche Zurückhaltung zu erklären, habe nochmal auf unsere Vergangenheit verwiesen. Dann ist mir immer stärker bewusst geworden, eigentlich schon bevor ich Präsident wurde, dass ich so einen Wandel bereits erlebt habe im Bewusstsein vieler Deutscher. Wissen Sie, wir dürfen uns – und das ist die Botschaft nach innen – doch nicht verhalten wie ein Mensch, der nach langer Krankheit geheilt ist, an seine Heilung aber nicht glauben mag. Oder wie eine Studentin, die ein glänzendes Examen abgelegt hat, sich aber immerfort daran erinnert, dass sie zwei Anläufe zum Abitur brauchte. Das heißt, wir brauchen eine ernsthafte Rezeption dessen, was uns gelungen ist und nicht nur eine ernsthafte Rezeption und Erinnerung daran, was den Vorfahren nicht gelungen ist. Und dann habe ich mir überlegt, wie groß sind eigentlich die Zeiträume des Gelingens und bin auf diese 60 Jahre eines fortwährenden Aufwuchses von demokratischer Gesinnung, einer stabilen Zivilgesellschaft gekommen – wir haben nicht nur die Institutionen, sondern wir haben auch wache Bürgerinnen und Bürger, das ist ein ganz anderes Land als zwischen den großen Kriegen. Und wenn wir nun die Situation dieses Landes, seine Verfasstheit und seine demokratische Glaubwürdigkeit vergleichen mit anderen Ländern in Europa und in der Welt, dann kann ich kein Defizit erkennen. Deshalb kann ich auch keinen Grund erkennen für eine größere Zurückhaltung als andere vergleichbare Länder es haben. Und das ist im Ausland sehr positiv aufgenommen worden, doch im Inland stößt das an eine Grenze des Verstehens und vielleicht auch an eine kulturelle Grenze, weil dieses Gefühl: Wir sind nicht zuständig, weil wir eine dunkle Vergangenheit haben, das noch große Teile der Bevölkerung bestimmt.

Da würde ich gleich gerne nochmal darauf kommen, aber ich würde zunächst nochmal draußen bleiben und zwar mit der Frage: Mit welchen Mitteln lässt sich eine aktivere Außenpolitik betreiben. Ist das nur Diplomatie oder gehört da mehr dazu?

Es ist vor allem erst mal natürlich alles, was mit Diplomatie verbunden ist. Dazu gehören aber auch Komplexe wie die Entwicklungszusammenarbeit. Wenn wir uns z.B. in Indien, wo ich gerade herkomme, überlegen, wo soll der Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sein, wo gehen die Millionen hin? Dann wäre es eben wichtig, einen Schwerpunkt zu setzen, der etwa für den Klimaschutz, für innovative Technologien, für Zukunftstechnologien bestimmt ist. Und wir würden damit zeigen, auch in einer fernen Region interessieren wir uns für globale Themen wie Klimaschutz. In anderen Fällen, wo wir eine ganz schwierige Armutssituation haben und damit soziale Konflikte – wir können zusehen, wie sie wachsen –, konstelliert sich oft etwas, wo ethnische Konflikte oder religiöse Differen¬zen hergenommen werden, um einen sozialen Konflikt zu befeuern. Und dann kommt es leicht zu Konflikt- und Kriegs-, Bürgerkriegssituationen. Da wären wir im Vorfeld schon gefragt bei der Krisenprävention. Oder indem wir Entwicklungszusammenarbeit betreiben, um Menschen in eine bessere soziale Situation zu bringen. Dann müssen wir drittens den Blick einfach weiten für Konfliktlagen in anderen Teilen der Welt. Natürlich zunächst vor der Haustür, aber auch am Mittelmeer – wie wollen wir agieren? Wollen wir uns als Vermittler einbringen in den regionalen Konflikten? Oder sagen wir: Was da hinten in der Türkei passiert, das interessiert uns nicht? Und all dies tun wir nicht, weil wir uns selber wichtiger nehmen wollen, sondern weil wir nicht kleiner sein dürfen, als wir sind. Und warum? Weil diejenigen, die sich an der Konfliktprävention oder beim Eingreifen in Konflikten beteiligen, uns solidarisch neben sich sehen wollen. Und unsere Grundhaltung ist, wenn wir uns dann im ernstesten Fall, sogar mit Soldaten beteiligen, dann doch immer mit anderen und nach einer Mandatierung. In aller Regel jedenfalls. Wenn wir das tun, dann müssen wir uns auch fragen, was ist der Grund? Und es wird immer Solidarität sein. Aber doch nie deutsches Dominanzgebaren, denn wir haben hier überhaupt keine politische Richtung, die eine nationalistische Front darstellen würde. Wir haben auch keine nationalistischen Militärs, wie es das früher in der deutschen Geschichte gab. Also es gibt gar keine Verdachtsgründe, die gegen unser Eingreifen vorzubringen wären. Und deshalb ist es so, dass wir uns ernsthaft mit der Entwicklungsphase auseinandersetzen müssen, in der wir jetzt sind. Dieses erwachsene Deutschland, das ein Garant für Stabilität und Demo¬kratie ist, darf sich nicht verstecken. Das ist das Gefühl, was viele Menschen, auch Politiker, aber auch Zivilgesellschaften anderer Völker uns so gespiegelt haben in den letzten Jahren. Und ich habe das aufgegriffen – und mit meiner eigenen Lebenserfahrung zusammen¬gebracht und dadurch bin ich zu diesen grundsätzlichen Aussagen in München gekommen.

Im Rahmen der internationalen Verständigung – wir sind der deutsche Auslandssender – welche Rolle spielt die Deutsche Welle darin?

(lacht) Na ja, das passt hierher. Wenn wir jetzt sagen würden: Ach, wissen Sie, liebe Freunde im Ausland, wir mögen eigentlich gar nicht so beachtet werden, lasst uns mal am Rande stehen, dann brauchten wir den Sender nicht. Aber wenn wir meinen, dass unsere politischen, menschenrechtlichen, zivilgesellschaftlichen und kulturellen Erfahrungen auch Gaben für andere sind, so wie wir ja auch beschenkt werden von Wissenschaftlern und Künstlern und Politikern aus anderen Teilen der Welt, dann sollten wir das machen. Und bisher haben wir es ganz gut gemacht. Ich bin ganz stolz auf unsere Deutsche Welle, dass sie mit einem modernen und anspruchsvollen Programm so etwas wie eine Visitenkarte darstellt, auch im Ausland. Es ist nicht die einzige Visitenkarte. Es gibt auch noch andere, die dafür sorgen. Das sind unsere Goethe-Institute, unsere politischen Stiftungen, unsere politischen Auslandsvertretungen. Klar, aber Sie erreichen halt mehr Menschen und ich finde Ihre Arbeit sehr wichtig.

Nach innen geguckt – die Qualitätsmedien in Deutschland haben Ihre Rede sehr offen aufgenommen, haben das unterstützt, dass Deutschland eine aktivere Außenpolitik betreiben soll. Die Debatte kommt irgendwie nicht so recht in Gang. Woran liegt das, was ist los mit den Deutschen, sind wir harmoniesüchtig?

Das sind wir auch. Na ja, es gibt schon die Debatte, aber es ist so: Sie ist lebhafter in ihrem unseriösen Teil. Wer mich also missverstehen will, der hat das getan und setzt mir die Pickelhaube auf. Und dann kann ich nur sagen, ja, so etwas passiert. Das kann mit böser Absicht geschehen oder aus Unwissen heraus, weil man im Gefühl hat, dass das nicht richtig sei, was ich tue. Natürlich nehme ich eine ernsthafte Kritik daran, dass man auch bei Militäreinsätzen unter Umständen und nach langer Abwägung dabei sein kann, an. Es ist nicht gut, wenn Waffen sprechen, aber manchmal ist es noch schlechter, wenn die Guten ihre Waffen verstecken und den Bösen ihre Waffen lassen. Und das ist im Grunde auf eine simple Formel gebracht die Situation, vor der wir manchmal stehen. Und bei dieser Gewöhnung daran, dass deutsche Waffen gefährliche Waffen sind, sind sehr viele Menschen stehen geblieben. Aber ich habe eben darauf verwiesen, warum wir dem heutigen deutschen Militär in einer anderen Weise gegenübertreten als dem früheren deutschen Militär. Wir haben in Europa, in Srebrenica, gesehen, dass gutes Zureden manchmal allein nicht hilft, und wir haben in Ruanda gesehen, was passiert, wenn man nicht eingreift. Das heißt, manchmal gibt es nur Entscheidungen zwischen einer schlechten und einer weniger schlechten Lösung. Und dann muss man immer noch entscheidungsfähig sein und sich für die weniger schlechte entscheiden, und nicht sagen, ach, es ist generell so schwierig, da beteilige ich mich nicht an der Lösung. Das ist für mich weder ethisch noch politisch durchhaltbar und wenn wir nun aus einer Situation herauskommen, die uns erlaubt hat, mit Verweis auf unsere Vergangenheit zu sagen, wir fühlen uns weder befugt noch berechtigt, einzugreifen, dann kann ich das verstehen. So war das in den ersten Nachkriegsjahren. Wissen Sie, ich bin ein Mensch gewesen, der heimatlos war in diesem Land. Ich mochte mich gar nicht als Deutscher fühlen wegen der Verbrechen in der Generation meiner Eltern. Und ich habe erst Schritt für Schritt gelernt, dieses Vertrauen nicht nur einer Person, sondern auch diesem Land gegenüber aufzubringen. Ich habe vorhin diese Gründe genannt: Niemals in der Geschichte Deutschlands hat es eine solche Zeit 60-jähriger Herrschaft der Menschenrechte, des Rechtes gegeben. Ja, wann wollen wir denn glauben, was wir vermögen, wenn nicht jetzt. Diese Debatte muss ernsthaft geführt werden, aber wie bei jeder Debatte gibt es auch einen unseriösen Teil, wo man sich gegen ungerechte Vorwürfe verteidigen muss. Im Großen und Ganzen bin ich ganz erfreut, dass bei der Frage, ob wir vielleicht mehr Einfluss nehmen sollten in unterschiedlichen Teilen der Welt, schon eine Bevölkerungsmehrheit da ist, die das akzeptiert. Bei der Teilfrage, ob das auch mit militärischen Mitteln erfolgen soll, gibt es das noch nicht, aber es ist eine Entwicklung im Gange und meine Absicht ist es, diese Entwicklung zu befördern. Und meine tiefste Absicht besteht darin, dass eine Bevölkerung, die diese Erfolge, über die ich gesprochen habe, nicht nur träumt, sondern sich in der Realität erarbeitet hat, an ihre eigenen Potenziale glaubt. Das heißt also, bei sich anzukommen und seine Ich-Stärke nicht zu übertreiben, aber sie auch nicht künstlich zu nivellieren.

Sind wir dafür weltoffen genug? Also, wenn wir gleichzeitig die Diskussion betrachten, wo es immer wieder eine Debatte gibt, bei Zuwanderung beispielsweise.

Wissen Sie, ich merke das manchmal, wenn ich die Nachrichten in Großbritannien, von der BBC, und bei uns vergleiche. Dann merke ich, es gibt Länder, deren Blick sich weitet in die Welt hinein. Nun kann man sagen, das machen die, weil sie das aufgrund ihrer kolonialen Tradition gewöhnt sind, aber diese kolonialen Traditionen sind lange abgebrochen und es gibt genug Menschen, die als Forscher, als Journalisten, als Teilnehmer in Wirtschaftsprozessen unterwegs sind. Die Einbeziehung der Welt ist dort, im angelsächsischen Raum, schon etwas größer. Ich kann es nicht wirklich gut für die Vereinigten Staaten beurteilen, aber es ist doch auffällig, dass gerade von solchen Ländern, die wir früher überfallen haben, Erwartungen an Deutschland gerichtet werden. Und wenn wir ein solidarisches Land sind, dann wollen wir es doch auch bitte international sein.

Wir beobachten in Europa zur Zeit eine Rückbesinnung auf das eigene Land, also durchaus auch populistische, nationalistische Bestrebungen. Sie fahren jetzt demnächst nach Griechenland. Als Beispiel: Was sagen Sie einem jungen arbeitslosen Griechen, warum er sich für eine Partei für Europa aussprechen soll?

Ich würde ihn zunächst einmal daran erinnern, dass Europa Griechenland bis jetzt solidarisch gegenübertritt. Das ist in den Medien und in der öffentlichen Debatte nicht immer so wahrzunehmen, aber wir haben in Europa verantwortungsvolle Politiker, die die Verbindungsschnur nicht durchtrennt haben. Das mag unterschiedliche Gründe haben, aber es hat auch den Grund, dass wir ein Mitglied der Union nicht einfach links liegen lassen wollen.

Ich würde einen jungen Menschen fragen, ob er glaubt, außerhalb von Europa bessere Chancen zu haben, und das sehe ich nicht. Ich glaube, dass die Ressourcen, die Griechenland zur Verfügung stehen, mittelfristig einen enormen Aufschwung erzeugen werden. Es ist manchmal so gewesen beim Eintritt verschiedener Länder in die Europäische Union, dass die finanziellen Mittel, etwa aus Strukturfonds, nicht optimal eingesetzt worden sind. Hier würden wir im Grunde Ausbildung brauchen und wir Deutschen haben – das habe ich bei vielen Besuchen gemerkt – gute Vorbilder für unser Berufsbildungssystem, das sogenannte duale System der Ausbildung. Aber es gibt ja auch erste Anzeichen der Stabilisierung, und wir tun gut daran, mit zivilen Helfern, mit Task Forces die staatliche Verwaltung so zu gestalten, dass das Steuersystem sich stabilisiert, dass die staatliche Verwaltung europäischen Ansprüchen genügt. Da können wir helfen und das tun wir auch. Und wenn ich nach Griechenland reise, werde ich zweierlei tun: Ich werde mich einmal an die deutsche Unheilsgeschichte erinnern, das habe ich in allen Ländern getan, die ich besucht habe, und zeigen, dass mir das zu Herzen geht, was Deutsche früher getan haben, und ich werde ihnen sagen, ich kann mir schwer vorstellen, dass im deutschen öffentlichen Dienst so viele Menschen freigestellt werden wie dort. Wo ich sie nicht verstehe, wird auch deutlich werden: Wenn man denkt, Angela Merkel ist Schuld an dem Elend, das ist dann die Grenze meines Verständnisses.

Haben Sie Verständnis dafür, dass viele nicht zur Europawahl gehen, nicht wählen wollen?

Ich hab generell kein Verständnis, und will kein Verständnis dafür haben, wenn Menschen nicht wählen gehen. Das werden Sie mir nicht mehr austreiben, denn ich habe fünfzig Jahre meines Lebens nicht wählen dürfen. Deshalb ist mir jede Wahl so kostbar, dass ich sie nicht missen werde. Über Europa zu schimpfen und dann keinen Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung Europas, das finde ich zu banal und zu billig. Und deshalb kann ich nur wünschen, dass sich möglichst viele Menschen in Europa an den Wahlen beteiligen. Ich wünsche es mir, ich werde daran auch mitwirken, und ich wünsche mir natürlich, dass sie mit ihrer Wahl auch ein pro-europäisches Votum abgeben, klar.

Ganz kurz zum Schluss, Sie sind Staatsoberhaupt des besten Deutschlands, das wir jemals hatten, das haben Sie selbst gesagt. Das ist ja ein schöner Superlativ. Wenn man ihn tatsächlich noch ausnahmsweise steigern könnte, was kann, was soll noch besser werden?

Wissen Sie, wenn man so einen Superlativ benutzt, dann kann man ihn nur glaubwürdig machen, wenn man sagt, wie man dazu gekommen ist, und das ist der Vergleich. Zum Denken gehört auch immer unsere Fähigkeit, zu vergleichen, und nicht nur Zukunftsvisionen zu entwerfen. Wenn ich Deutschland mit einer Zukunftsvision oder mit einer Endzeitvision vergleiche, sind wir sehr weit zurück. Wenn ich Deutschland vergleiche mit real existierenden Staaten in unserer Nachbarschaft und draußen in der Welt, dann komme ich zu diesem Urteil, auch wenn ich es vergleiche mit seiner eigenen Geschichte. Das soll uns jetzt aber nicht beruhigen, gerade wenn ich zum Beispiel sehe, dass wir noch ungelöste Probleme haben – sehr viele Menschen fürchten sich vor Zuwanderung, nicht nur in der Schweiz, auch in diesem Land. Gleichzeitig stellen sich andere Gruppen der Bevölkerung die Frage: Wo wären wir denn ohne Zuwanderer, wenn wir immer älter werden und immer kinderärmer? Also, es gibt schon ganz rationale Gründe, aber es gibt auch kulturelle Gründe, weshalb wir uns über Zuwanderung freuen können. Wir müssen dabei die Probleme ja nicht leugnen. Das ist ein Element, das andere ist: Wollen wir es zulassen, dass auf Dauer Menschen, weil sie aus sogenannten guten Elternhäusern kommen, die besseren Bildungschancen haben? Nein, das wollen wir nicht, sondern da gibt es ein Riesenreservoir in Teilen der Bevölkerung, die sozial abgehängt sind, zum Teil aber auch einfach mit Schwierigkeiten kämpfen, die sich nicht zutrauen, ihre Kinder zum Abitur und ins Studium zu begleiten. Da gibt es enormen Nachholbedarf, da haben wir auch Vorbilder in Skandinavien. Also, wir sind nicht am Ende unserer guten Entwicklung.

Das ist schön. Herr Bundespräsident, ich danke Ihnen, dass wir hier bei Ihnen im Schloss Bellevue sein durften.

Die Fragen stellte Dagmar Engel.