Interview mit der schweizerischen Zeitung "Tages-Anzeiger"

Schwerpunktthema: Interview

1. April 2014

Bundespräsident Joachim Gauck in Schloss Bellevue (Archiv)

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 1. April der schweizerischen Zeitung "Tages-Anzeiger" Zürich anlässlich seines offiziellen Besuchs in der Schweizerischen Eidgenossenschaft ein Interview gegeben.

Herr Bundespräsident, woran denken Sie, wenn Sie an die Schweiz denken?

An sehr vieles, aber zuallererst an ein weltoffenes und außergewöhnlich vielfältiges Land in der Mitte Europas mit einer langen demokratischen Tradition. Lange bevor es den Gedanken an eine Europäische Union gab, haben in der Schweiz Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen und verschiedenen Mentalitäten zusammengelebt. So hatte die Schweiz auch immer eine besondere Rolle in Europa und der ganzen Welt und war häufig auch Zufluchtsort.

Das Schweiz-Bild in Deutschland ist zwiespältig: Die einen bewundern Wohlstand und direkte Demokratie. Andere sehen ein Land, dem Schwarzgeld lieber ist als europäische Integration. Welche Wahrnehmung stimmt?

Die Schweiz und Deutschland haben ein traditionell sehr gutes Verhältnis. Wir leben in enger Verbundenheit und Nachbarschaft, vor allem in den Grenzgebieten. Die Diskussionen der letzten Jahre zu Steuerfragen oder anderen Themen ändern daran erst einmal nichts. Und ich habe den Eindruck, dass wir auch in mitunter strittigen Bereichen gute Fortschritte machen. Es zeichnet unsere Beziehungen aus, dass wir miteinander sprechen und uns in der Sache auseinandersetzen können.

Die Schweizer haben die Initiative gegen Masseneinwanderung angenommen. Wie soll Deutschland, wie die EU darauf reagieren?

Selbstverständlich respektieren wir die demokratische Entscheidung. Ich wünsche mir allerdings, dass nach dieser Entscheidung die Schweiz und die EU nicht auseinanderdriften und dass die Schweizer eine Lösung finden, die der engen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtung zwischen der Schweiz und der EU gerecht wird. Beide Seiten werden dabei ihren Prinzipien treu bleiben wollen. Und die Freizügigkeit gehört zu den Herzstücken der europäischen Integration.

In Deutschland gab es neben Kritik auch viel Applaus für das Votum der Schweizer. Fürchten Sie, dass europakritische Stimmungen in der Bundesrepublik zunehmen?

Die Schuldenkrise hat ohne Zweifel vielfach zu Unsicherheit geführt und viele Menschen sehen die EU nun vielleicht mit anderen Augen, sind kritischer geworden. Ich glaube aber nicht, dass der Ausgang des Schweizer Votums für eine allgemeine Haltung steht. Für uns Deutsche ist die europäische Integration historische Verpflichtung, und sie gehört zu unserem Selbstverständnis. Aber natürlich müssen wir uns immer wieder erneuern und auch selbstkritisch befragen, gerade um die EU und ihre Grundwerte zu erhalten. Gleichgültigkeit können wir uns nicht leisten, nirgendwo in Europa. Im Mai sind die wichtigen Wahlen zum Europäischen Parlament, und ich fordere alle Bürger auf, daran teilzunehmen. Wer mitreden und vor allem mitgestalten will, muss wählen gehen.

Sie plädieren für eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt. In der Krim-Krise wirkt Berlin jedoch hilflos gegen den Machtanspruch Putins. Woran liegt das?

Was wir derzeit erleben, ist eine besonders große Herausforderung für unsere gewachsene deutsche und europäische Verantwortung. Es gibt vielfältige Bemühungen zur Lösung der Krise. Die deutsche Regierung arbeitet eng mit ihren Partnern in der EU, der NATO, der OSZE, in den Vereinten Nationen und den G-7 zusammen. Gemeinsam bemühen wir uns seit Wochen öffentlich und hinter den Kulissen um Fortschritte. Dabei ist die deutsche Politik besonders aktiv.

Und wie bewerten Sie den Einsatz der OSZE unter Schweizer Vorsitz?

Die Entsendung der OSZE-Beobachtermission in die Ukraine ist ein wichtiger Schritt. So können wir uns ein objektiveres Bild insbesondere vom Süden und Osten der Ukraine machen. An diesen Erfolg müssen wir jetzt anknüpfen und ich möchte der Schweiz als derzeitigem OSZE-Vorsitzland für das wertvolle Engagement danken. Als neutrale Organisation ist die OSZE für eine Deeskalation besonders wichtig. Problematisch bleibt, dass russische Machtpolitik, so wie sie sich zuletzt geäußert hat, und das europäische Verständnis von Rechtstaatlichkeit nicht kompatibel sind. Russland muss sich unbedingt an die uns alle vereinenden völkerrechtlichen Regeln halten.

Warum ist der Ost-West-Gegensatz bis heute nicht überwunden? Droht ein neuer Kalter Krieg?

Die EU hat in den letzten 25 Jahren mit der Integration von 13 neuen Mitgliedern vor allem aus Mittel- und Osteuropa Wunderbares geleistet. Gleichzeitig hat die enge Zusammenarbeit der EU mit Russland gezeigt, dass auch hier alte Gegensätze überwunden wurden. Die neuen Mitgliedstaaten haben den ideologischen Ballast von Sozialismus und staatlich gelenkter Wirtschaft überraschend schnell über Bord geworfen. Weil die Bevölkerungen genau dies wollten: Teil eines freien, demokratischen Europa zu sein.


Die Fragen stellte David Nauer.