Interview mit der türkischsprachigen Tageszeitung Hürriyet

Schwerpunktthema: Interview

1. Oktober 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat der türkischsprachigen Tageszeitung Hürriyet ein Interview gegeben, das am 1. Oktober erschienen ist. Darin äußert er sich u.a. zu seiner Reise in der Türkei: "Ich habe von meinem Besuch in der Türkei den Eindruck mitgebracht: Das ist ein Land in Bewegung, ein Land im Aufbruch, ein Land, in dem viel diskutiert wird, zum Beispiel über kritische Fragen zu Menschenrechten und Demokratie, die die Bürger ihrer Regierung stellen."

Bundespräsident Joachim Gauck während des Interviews mit der türkischsprachigen Tageszeitung Hürriyet in seinem Amtszimmer in Schloss Bellevue

Bundespräsident Joachim Gauck hat der türkischsprachigen Tageszeitung Hürriyet ein Interview gegeben, das am 1. Oktober erschienen ist.

Herr Bundespräsident, Ihr neuer türkischer Amtskollege heißt Recep Tayip Erdoğan. Sie haben ihm vor einigen Wochen zur Wahl gratuliert. Während Ihrer Türkeireise Ende April kam es wegen Ihrer Rede, in der Sie Kritik an der türkischen Regierung geübt hatten, zu Unstimmigkeiten zwischen Ihnen und Herrn Erdoğan, damals noch Ministerpräsident. Wie wollen Sie die Beziehung zum türkischen Staatspräsidenten Erdoğan verbessern?

Die Türkei ist ein wichtiger Partner Deutschlands, mit dem wir enge, freundschaftliche Beziehungen pflegen. Ich bin sicher, dass ich auch in Zukunft Gelegenheit haben werde, den Austausch mit Präsident Erdoğan fortzuführen. Das heißt: Wir werden besprechen, was wir ähnlich sehen, und wir werden besprechen, worüber wir unterschiedlicher Meinung sind – so, wie es sich für eine lebendige Beziehung gehört, in der man offen und konstruktiv miteinander umgeht.

Ihre viertägige Türkeireise hatte Sie nach Kahramanmaraş, Ankara und Istanbul geführt. Welche Eindrücke sind Ihnen ganz besonders in Erinnerung geblieben?

Die Reise in die Türkei – es war übrigens meine erste – war verbunden mit vielen eindrucksvollen Erlebnissen. Ich habe unter anderem etwas über die kulturellen Traditionen gelernt und eine sehr aktive, moderne Bürgergesellschaft erlebt. Es war unübersehbar, wie viel Energie das Land in seine wirtschaftliche Entwicklung steckt, wie viele Menschen, ursprünglich aus der Armut kommend, Aufstiegsgeschichten erzählen können. Großen Respekt habe ich davor, wie engagiert die Türkei den vielen Flüchtlingen aus Syrien hilft. Und es war mir wichtig, die deutschen Soldaten zu besuchen, die dabei helfen, einen Teil der Türkei vor Raketeneinschlägen aus Syrien zu schützen.

Mir lag also daran, die Fortschritte der Türkei zu würdigen, gleichzeitig aber auch zu benennen, was mir Sorgen bereitet.

Ich habe von meinem Besuch in der Türkei den Eindruck mitgebracht: Das ist ein Land in Bewegung, ein Land im Aufbruch, ein Land, in dem viel diskutiert wird, zum Beispiel über kritische Fragen zu Menschenrechten und Demokratie, die die Bürger ihrer Regierung stellen.

Der NSA-Abhörskandal hat in Deutschland eine Welle der Empörung hervorgerufen. Die Bundeskanzlerin sagte: “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht.” Jetzt hat sich herausgestellt, dass der NATO-Partner Türkei durch den BND ausspioniert wird. Können Sie die Empörung in der Türkei verstehen?

Ich kenne keine Details zu diesen Aktivitäten des BND. Grundsätzlich finde ich es richtig und wichtig, dass wir darüber diskutieren, welche geheimdienstlichen Maßnahmen notwendig und verhältnismäßig sind und welche nicht.

Sie waren zum ersten Mal in der Türkei. Hatten Sie das Gefühl, dass Sie mit beiden Füßen auf europäischem Boden standen?

Ich war ja leider nur kurz da, aber ich würde schon sagen: Ja. Ich habe Traditionen kennengelernt, die mir vertraut waren, und andere, die mir neu waren. Aber gerade das Neue und zunächst Fremde lädt zum Nachfragen und Nachdenken ein. Die türkische Gesellschaft ist zum Teil sehr säkular, zum Teil sehr religiös. Wie beide Teile nebeneinander existieren, wie sie miteinander umgehen, finde ich spannend. Darüber würde ich gerne mehr erfahren.

Es gibt ja in Teilen der Bundesrepublik Deutschland und manchen anderen europäischen Ländern die Meinung, dass ein islamisches Land wie die Türkei nicht unbedingt zur EU gehören sollte. Was halten Sie davon?

Das überzeugt mich nicht. Die Europäische Union und die Türkei befinden sich in einem Verhandlungsprozess, der schon seit einiger Zeit andauert. Und ich bin dafür, ihn fortzusetzen. Anders ausgedrückt: In den europäischen Grunddokumenten ist nicht der christliche Glaube als das konstitutive und verbindende Element festgelegt. Es sind die dort definierten Werte – die Herrschaft des Rechts, die Bürgerrechte, die Menschenrechte, das Demokratieprinzip –, auf die wir uns geeinigt haben. Und an diese Werte müssen sich alle halten: solche Länder, die bereits Mitglied der EU sind, und solche, die es werden wollen.

Welche Gefahr sehen Sie durch den Vormarsch der Terrorgruppe Islamischer Staat (ISIS) im Nord-Irak und in Syrien für die Türkei und für Europa? Wie kann man gegen diese Gefahr vorgehen?

Die Terrorgruppe Islamischer Staat mit ihrer menschenverachtenden Ideologie und ihren brutalen Methoden ist eine Gefahr für uns alle. Es ist richtig und wichtig, dass wir jenen Menschen humanitär helfen, die vor diesen Mörderbanden geflohen sind. Und es ist richtig und wichtig, dass wir jene Kräfte unterstützen, die verhindern, dass IS weiteres Unheil anrichtet und eine dauerhafte Schreckensherrschaft etabliert. Um die Terrorgefahr erfolgreich zu bannen, muss aber noch Etwas hinzukommen: Bevölkerungsgruppen, die in Gefahr sind, radikalisiert zu werden, brauchen eine akzeptable Lebensperspektive, die auch politische Teilhabe in einem Staatswesen umfasst.

Sie haben vor einiger Zeit in Ihrer Rede zur Einbürgerungsfeier die doppelte Staatsbürgerschaft verteidigt und sie als “Ausdruck der Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl von Menschen in Deutschland“ bezeichnet. Sollte Ihrer Ansicht nach Deutschland eine generelle doppelte Staatsbürgerschaft zulassen?

Gesetzesvorschläge sind nicht Sache des Bundespräsidenten. Der Gesetzgeber erweitert zur Zeit gerade die Möglichkeiten für eine doppelte Staatsbürgerschaft. Das begrüße ich. Wie wir mit manchen praktischen Fragen umgehen, die die Mehrstaatlichkeit aufwirft, oder umgekehrt, welche Regelung sich noch weiter vereinfachen ließe – das sollten wir in aller Ruhe diskutieren.

Sie haben vor einiger Zeit in Berlin-Kreuzberg Ciğ köfte probiert. Wie gut kennen Sie die türkische Küche?

Eigentlich habe ich Kreuzberg an jenem Tag ja nicht deswegen besucht, um dort essen zu gehen, sondern weil ich mich mit einer Gruppe junger Menschen mit ganz unterschiedlichen Zuwanderungsgeschichten über ihren Blick auf Deutschland und das Deutschsein unterhalten wollte. Kurz bevor ich wieder in mein Auto gestiegen bin, kam die Wirtin eines türkischen Imbissladens auf mich zu und sagte: „Ich habe da so etwas Wunderbares, probieren Sie doch mal.“ Ich habe mich sehr darüber gefreut – nicht nur, weil es sehr lecker war, was ich bei ihr gegessen habe, sondern weil sie mich mit einer so großen Herzlichkeit eingeladen hat.

Haben Sie schon mal Raki probiert?

Nein, das habe ich noch nicht. Damit geht es mir wie mit dem Retsina, dem griechischen Wein, den ja viele Menschen kennen, ich allerdings bisher nicht.

Aber Eis aus Kahramanmaraş haben Sie schon probiert.

Dieses Eis war schon etwas Besonderes. Überhaupt war ich von der türkischen Küche sehr angetan. Und ich konnte noch besser als bisher verstehen, warum meine Freunde und Bekannten in Deutschland, die viel kochen, so gerne in türkischen Gemüsegeschäften einkaufen und weshalb so viele Menschen hier so gerne türkisch essen gehen.

Das Gespräch führten Celal Özcan und Ahmet Külaci.