Interview mit der Nachrichtenagentur dpa

Schwerpunktthema: Interview

Schloss Bellevue, , 22. Januar 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat der Nachrichtenagentur dpa ein Interview gegeben, das am 22. Januar veröffentlicht wurde. Zum Thema Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren sagte er: "Wir Deutsche, die wir uns nicht selbst zu befreien vermochten, verdanken den Alliierten den Sieg über das mörderische Hitler-Regime. Damals begann unser neuer Weg zu Demokratie, Recht und Freiheit, der 1990 im wiedervereinigten Deutschland seinen Abschluss fand. "

Bundespräsident Joachim Gauck im Interview mit Redakteuren der Nachrichtenagentur dpa im Amtszimmer in Schloss Bellevue

Bundespräsident Joachim Gauck hat der Nachrichtenagentur dpa ein Interview gegeben, das am 22. Januar veröffentlicht wurde:

Was haben die Anschläge von Paris verändert?

Ich denke, dass vielen Menschen noch klarer geworden ist, dass wir hier in Europa in einer wertebasierten Ordnung leben, und dass es Feinde dieser Ordnung gibt. Wir tun gut daran, diese Feindschaft zu erkennen und uns ihr entgegen zu stellen. Wenn sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion zusammenschließen und sagen, wir wollen Humanität und Recht verteidigen, dann stärkt das genau das, was die Attentäter zu schwächen trachteten: den Zusammenhalt der Bürger, die in einer offenen Gesellschaft leben wollen. So haben die muslimischen Gemeinschaften in Paris, Berlin und anderswo ihre Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft gezeigt und demonstriert, dass wir uns nicht auseinanderdividieren lassen durch die Minderheit von Terroristen, Dschihadisten und Fanatikern.

Was ist jetzt vordringlich?

Ich habe bei der Mahnwache am Brandenburger Tor vergangene Woche gesagt: Wir alle sind Deutschland. Damit meine ich alle, die auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehen. Die allermeisten Bürger wissen es ja längst: Eine kulturelle, ethnische oder religiöse Homogenität gibt es schon lange nicht mehr. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit, auf die wir nicht verzichten können: das ist das Ja zur Herrschaft des Rechts, zur Demokratie und zur Freiheit. Wer dagegen kämpft, der schließt sich selber aus.

Wünschen Sie sich von den Vertretern muslimischer Organisationen deutlichere Worte der Kritik an radikalen Islamisten?

Ich freue mich, dass sich die Neigung zu deutlichen Worten verstärkt hat. Auf der Veranstaltung am Brandenburger Tor habe ich von Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, unmissverständliche Botschaften gehört. Er und andere Vertreter muslimischer Organisationen haben Terror im Namen des Islam verurteilt und Presse- und Meinungsfreiheit verteidigt. Das mag nicht jedem Muslim gefallen haben. Aber ich habe den Eindruck, dass sich die innerislamischen Debatten darüber, wie der Koran heute auszulegen ist, gerade intensivieren. Da will ich mich als Bundespräsident nicht einmischen. Aber ich will auch nicht verhehlen, dass ich diese Debatte begrüße. Wir müssen zudem ständig diskutieren: Was verbindet Menschen unterschiedlichen Glaubens miteinander oder mit Menschen, die gar keinen Glauben haben. Und wie verbinden wir unsere religiösen Überzeugungen und Traditionen mit dem Leben in einer freien Gesellschaft.

Fehlt es in unserer Gesellschaft an Verständnis für Religion insgesamt?

So allgemein kann man das nicht beantworten. Für mich persönlich ist mein Glaube sehr wichtig. Aber wenn jemand nicht glaubt, oder – auch das gibt es – Religion per se für überflüssig erklärt oder gar als reaktionär und schädlich kritisiert, dann muss man das eben aushalten, selbst wenn man diese Meinung ganz und gar nicht teilt. Es gehört zum offenen Diskurs in einer freien Gesellschaft.

Stichwort Pegida – woher kommen die Spannungen in der Gesellschaft?

Schauen wir uns beispielsweise einmal den Großraum Stuttgart an, wo man lange und prägende Erfahrungen im Miteinander von Verschiedenen hat. Dort strömen nicht massenhaft Menschen auf die Straße, die Deutschland abschotten wollen. Wo Begegnung im Alltag bejaht und bewusst gelebt wird, schwindet die Neigung zu Feindbildern. An Orten, an denen es deutlich weniger Begegnung von Alteingesessenen mit Einwanderern gibt, stoßen wir umso häufiger auf stereotype Denkweisen über sie. Übrigens marschieren bei den Demonstrationen ganz unterschiedliche Menschen mit. Darunter gibt es Rechtsradikale, Deutschnationale und Fremdenfeinde. Es sind Eurokritiker dabei und Nostalgiker. Und dann finden sich unter den Protestierenden viele Verunsicherte, die immer noch Vorbehalte gegen die offene Gesellschaft haben und die Chancen der repräsentativen Demokratie verkennen.

Was ist für diese Verunsicherung verantwortlich?

Es gibt in Europa ja viele Strömungen und Parteien, die sich aus diesem Unbehagen, aus diffusen Ängsten herleiten lassen. Die Welt wird für die Anhänger dieser Bewegungen zu unübersichtlich, vor der Globalisierung haben sie Angst. Hinzu kommt die Angst, Einwanderer könnten die Chancen der Einheimischen auf dem Arbeitsmarkt und anderswo schmälern. Da heißt es für die Politik unter anderem, deutlich zu machen, dass Deutschland Einwanderung zum Wohle aller braucht. Was mich übrigens außerordentlich freut, ist, dass dieser Tage in etlichen deutschen Städten viele Menschen für ein weltoffenes Deutschland auf die Straßen gehen.

Wie bewerten Sie es, dass wegen einer von den Sicherheitsbehörden vermuteten Anschlagsgefahr die Demonstrationen am Montag in Dresden verboten worden sind?

Zu diesem Einzelfall möchte ich mich nicht äußern, auch weil mir die Detailkenntnisse fehlen. Ganz allgemein gilt aber: Es kann sein, dass wir in Zukunft noch öfter als bisher gezwungen sein werden, Freiheit und Sicherheit gegeneinander abzuwägen. Dabei sollten wir uns immer klar machen: Die Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut. Die Unversehrtheit von Leib und Leben ist es auch. Grundsätzlich bedarf es gewichtiger Gründe für einen Eingriff in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Anschlagsdrohungen dürfen nicht dazu führen, dass wir unsere Freiheitsrechte faktisch nicht mehr wahrnehmen können. Denn dann hätten die Terroristen ihr Ziel erreicht.

Müsste der von Teilnehmern der Pegida verwendete Begriff Lügenpresse nicht deutlicher verurteilt werden?

Der Vorwurf Lügenpresse ist geschichtsvergessener Unsinn. Mal abgesehen davon, dass dieses Wort auch ein Kampfbegriff der Nazis war – schauen wir uns doch unsere Medienlandschaft einmal an: Es gibt viele unterschiedliche Medien. Sie können frei arbeiten, und trotz mancher Irrtümer, die auch Journalisten manchmal unterlaufen, trotz gelegentlicher Unwahrheiten, die einige wenige von ihnen in die Welt setzen, wird doch meistens korrekt und ausgewogen berichtet. Wer den Medien hierzulande unterstellt, sie verbreiteten systematisch Lügen, der sollte sich daran erinnern, wie es früher in Deutschland zuging: Eine gleichgeschaltete Presse im Nationalsozialismus hat ungeniert gelogen und manipuliert. Und die Medien der DDR haben das Herrschaftssystem des SED-Regimes stabilisiert, indem sie nur berichteten, was in dessen Interesse lag und indem sie systematisch Unwahrheiten verbreiteten.

Wir haben 2015, nach dem Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs im abgelaufenen Jahr, schon wieder ein Gedenkjahr: Am 8. Mai 1945 ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Was haben Sie sich vorgenommen?

Zunächst hat mich der Bundestag eingeladen, die Rede am 27. Januar zum Gedenken an die Opfer des NS-Regimes zu halten. Und im Frühjahr werde ich unter anderem an das Leid erinnern, das unsere Befreier auf sich genommen haben. Anders als noch vor drei Jahrzehnten ist es heute in Deutschland anerkannt, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Woran allerdings nicht jeder Westdeutsche sofort denkt: dass dieser Tag der Befreiung für einen Teil der Deutschen, nämlich die Ostdeutschen, eine Befreiung zu neuer Unfreiheit war. Und für Millionen anderer Deutscher bedeutete dieser Tag auch den Verlust der Heimat. Letztlich gab es aber auch eine glückhafte Gewissheit: Wir Deutsche, die wir uns nicht selbst zu befreien vermochten, verdanken den Alliierten den Sieg über das mörderische Hitler-Regime. Damals begann unser neuer Weg zu Demokratie, Recht und Freiheit, der 1990 im wiedervereinigten Deutschland seinen Abschluss fand. An all das ist zu erinnern, wenn wir dicht am historischen Geschehen bleiben wollen.

Werden Sie auch die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung vom Nationalsozialismus würdigen?

Gegen die Völker der Sowjetunion haben deutsche Soldaten einen furchtbaren Krieg geführt, einen Krieg, der später zu recht Vernichtungskrieg genannt worden ist. Unter diesen Menschen hat es besonders viele Opfer gegeben – Millionen Soldaten und Zivilisten, Russen, Weißrussen, Georgier, auch viele Ukrainer. Ich kann nur mit Erschrecken, Trauer, und Dankbarkeit an diese Menschen denken und ihre Rolle bei der Befreiung vom Nationalsozialismus würdigen.

In wenigen Tagen besuchen Sie die Gedenkfeiern in Auschwitz zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers. Der russische Präsident Wladimir Putin wird voraussichtlich nicht dabei sein. Was heißt das für Sie?

Es ist nicht meine Aufgabe, das zu kommentieren. Ich gehe nach Auschwitz, weil es für das deutsche Staatsoberhaupt und für mich persönlich selbstverständlich ist, der Befreiung dieses deutschen Konzentrationslagers auf polnischem Boden und des Leids der Opfer zu gedenken.

Vor einem Jahr haben Sie vor der Münchner Sicherheitskonferenz viel Beachtung gefunden mit ihrem Plädoyer für mehr deutsche Verantwortung in der Welt. Wie sehen Sie Ihren Appell von damals mit dem Abstand eines Jahres?

Ich wollte damals eine Debatte verstärken, die zwar schon begonnen hatte, aber meinem Empfinden nach noch ernsthafter und intensiver geführt werden sollte. Ich selbst habe etliche Jahre gebraucht, bis ich mich zu der Position durchgerungen hatte, dass Deutschland nach seinem unendlich tiefen Fall im Nationalsozialismus heute auch international eine größere Verantwortung annehmen und ausbauen sollte. Nicht, um andere Staaten zu dominieren, sondern um der Rolle gerecht zu werden, die es aufgrund seiner ökonomischen Stärke, seines politischem Gewichts und seiner ermutigenden Erfahrungen mit Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Frieden nun mal hat.

Was ist seit der letzten Münchner Sicherheitskonferenz 2014 passiert?

Unglücklicherweise hat die Entwicklung in der Welt die deutsche Politik so herausgefordert, dass sie gar nicht anders konnte, als zu ihrer gewachsenen Verantwortung zu stehen. Und es hat sich, besonders im Fall der Ukraine gezeigt, wie Deutschland Verantwortung vor allem versteht. Der Schwerpunkt liegt eben nicht, wie einige Kritiker meinen, beim militärischen Engagement. Er liegt bei unseren Kompetenzen, Konflikte auf diplomatischem Wege zu lösen. Sicher, wir sind auch bewusst Partner in einem militärischen Verteidigungsbündnis. Aber in erster Linie geht es uns doch darum, dazu beizutragen, dass Konflikte erst gar nicht entstehen oder dass sie friedlich beigelegt werden.

Welchen Stellenwert hat dann das militärische Engagement?

Ich denke immer voller Entsetzen an den Völkermord in Ruanda 1994. Aber es war auch schrecklich, Srebrenica zu erleben. Militärisches Engagement im Rahmen militärischer Allianzen darf zwar immer nur ultima ratio sein. Aber es kann unter bestimmten, sehr genau zu analysierenden Bedingungen in Betracht kommen, wenn es wirklich keinen anderen Weg mehr gibt, um Menschenleben zu retten.

Was bedeutet das Nachdenken über militärische Optionen für den Konflikt in der Ukraine?

Ich halte es für richtig, dass wir hier zu keiner Zeit eine militärische Option erwogen haben. Sie hätte zu einer Eskalation unkalkulierbaren Ausmaßes geführt. Wir gehen zu recht den Weg der Diplomatie: Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister investieren in zahlreichen Telefonaten und persönlichen Gesprächen mit allen Beteiligten sehr viel Zeit und sehr viel Kraft, um die Tür nicht ganz zufallen zu lassen, um noch Schlimmeres zu verhindern und die Krise diplomatisch zu lösen. Dafür bin ich dankbar.

Halten Sie eine diplomatische Lösung mit Putin für möglich?

Ja, ich halte sie immer noch für möglich. Der Verhandlungsprozess ist im Gange. Er wird allerdings erst dann zu einem positiven Ergebnis führen, wenn Russland das Völkerrecht wirklich respektiert und den Entspannungsprozess in der Ostukraine glaubhaft unterstützt.

Sie sind nun bald drei Jahre im Amt: Würden Sie sich manchmal gerne noch lauter und massiver einmischen? Oder sind Sie mittlerweile daran gewöhnt, sich doch immer wieder zurückhalten zu müssen?

Es fällt nicht immer leicht. Es ist einfacher, als Bürger ohne Amt seine Meinung zu vertreten. Da darf man auch mal übertreiben, ironisch sein und sehr zugespitzt formulieren. All das passt nicht so recht zum Amt des Präsidenten. Kritik etwa habe ich maßvoll zu formulieren. Dennoch gibt es Dinge, die auch der Bundespräsident deutlich aussprechen darf, was ich dann auch tue.

Zum Abschluss noch eine Frage ...

Ich weiß, was jetzt kommt.

Nein, wir fragen nicht nach einer möglichen zweiten Amtszeit, sondern wollen wissen: Dürfen wir uns den Bundespräsidenten als glücklichen Menschen vorstellen?

Glück im politischen Geschäft – das lässt sich schwer definieren. Ein bisschen fühlt man sich schon an Sisyphos erinnert, weil in der Politik ja nie wirklich ein Ende erreicht ist. Trotzdem finden Menschen natürlich auch in der Politik Erfüllung. Ich empfinde dieses Glück beispielsweise bei Begegnungen mit Jugendlichen und Kindern oder bei Treffen mit vielen Ehrenamtlichen, die sich voller Hingabe ihren Aufgaben widmen – oft unermüdlich und auch dann, wenn es schwierig wird. Das kann mich dann tatsächlich tief berühren und bewegen.

Die Fragen stellten: Thomas Lanig, Sven Gösmann, Martin Bialecki.