Interview mit dem Fernsehsender RTL

Schwerpunktthema: Interview

Schloss Bellevue, , 19. März 2015

Der Bundespräsident hat dem Fernsehsender RTL ein Interview gegeben, das am 19. März ausgestrahlt wurde. Anlässlich des 25. Jahretags der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR sagte er: "Nein, wir haben nicht das Paradies erreicht damals vor 25 Jahren, das gibt es auf dieser Erde nicht. Aber ein unendlich großer Teil unserer Wünsche, was Mitbestimmung betrifft, was Freiheit betrifft, auch was Wohlstand betrifft, was kulturellen Reichtum betrifft, was die Weltanschauung betrifft – all das ist Wirklichkeit geworden."

Bundespräsident Joachim Gauck im Gespräch mit dem Moderator Peter Kloeppel anlässlich eines Interview mit dem Fernsehsender RTL

Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Fernsehsender RTL ein Interview gegeben, das am 19. März ausgestrahlt wurde:

Herr Bundespräsident, am 18. März 1990, also heute vor genau 25 Jahren, durften die Menschen in Ostdeutschland zum ersten Mal, auch zum letzten Mal in gewisser Weise, in ihrem Staat eine freie Wahl abhalten. Sie sind damals auch zum ersten Mal zu einer freien Wahl gegangen, können Sie sich noch an Ihre Emotionen, an Ihre Gefühle erinnern?

Da habe ich schon oft drüber gesprochen, wissen Sie. Das kann man sich heute gar nicht mehr so vorstellen, mit welchen Erwartungen, auch mit welcher Freude man sich da in diesen Wahlkampf stürzte. Ich war ja auch Kandidat, ich war nicht nur Wähler, für Bündnis 90 damals, und es war solch eine Aufregung und eine solche Erwartung, das war einfach das schiere Glück. Um das zu begreifen, müsste ich nochmal kurz sagen, wie das eigentlich vorher war in der DDR. Man wurde praktisch zum Wählen abkommandiert, wenn man nicht am Wahltag kam, dann wurde man um zwei Uhr das erste Mal zu Hause aufgesucht und um vier Uhr wieder, und wenn man immer noch nicht kam, kurz vor sechs nochmal, und wenn man als Student nicht ging, lief man Gefahr, von der Uni zu fliegen. Und was man wählen sollte? Ein Wahlzettel, acht Namen oder zehn, aber nicht ja/nein, auch nicht Partei ankreuzen, null. Falten, reinschmeißen, weg. Das war also die Wahl, ohne wählen zu können.

Das hieß doch damals auch, wir gehen falten, nicht wir gehen wählen – Zettel falten?

Zettel falten. Und dieses war ein finsteres Ritual, und die Leute hatten sich daran gewöhnt, und jetzt zum ersten Mal nicht einfach Zettel falten, sondern in die Wahlkabine gehen, entscheiden! Ich kam aus dem Wahllokal raus, die Tränen standen mir in den Augen, und zwar nicht, weil ich traurig war, sondern weil ich glücklich war, ich war in Europa, ich war ein Wähler! Es ging um etwas.

93,4 Prozent Wahlbeteiligung gab es damals in der DDR. Wenn Sie dann heute Wahlbeteiligungen sehen, gerade bei Landtagswahlen, die teilweise an 50 Prozent nur noch reichen, das muss doch wehtun, oder?

Natürlich tut das weh, weil ich denke, dieses besondere Glück, wenn es um wirklich grundlegende Dinge geht, das kann man nicht immer empfinden, aber immerhin könnte man das Glück empfinden, ich bin Bestimmer, ohne mich geht hier gar nichts, und jeder, der sich dieses Glück nicht gönnt, nimmt sich einen wesentlichen Teil seiner Rolle als Bürger. Nun ist es nicht immer so, dass die Wahlergebnisse runtergehen, bei der letzten Bundestagswahl war es nicht so, oder denken wir an Baden-Württemberg, da waren plötzlich auch grundlegende Entscheidungen, man wollte einen Politikwechsel – plötzlich zehn Prozent mehr als bei der letzten Wahl. Das heißt, wenn die Leute merken, wir wollen jetzt wirklich eine Veränderung, dann gehen sie auch mehr zur Wahl. Und vielleicht fehlt manchmal auch eine Deutlichkeit, dass die Wählerinnen und Wähler deutlicher erkennen, hier ist ein Unterschied, das macht doch Sinn, dass ich jetzt zur Wahl gehe.

Verstehen Sie aber trotzdem auch die Tendenz vieler Bürger oder einer wachsenden Zahl von Bürgern, sich zum Beispiel Organisationen anzuschließen oder gut zu heißen, was PEGIDA beispielsweise vertritt, Demonstrationen, bei denen es auch ganz klar gegen demokratische Standards geht, in denen es um Rassismus geht, in denen es auch um Ausländerfeindlichkeit geht? Nehmen die großen Parteien das vielleicht nicht ausreichend wahr, was an Stimmung im Volk da ist?

Also, es ist dann sehr schwer, eine bestimmte Form von Vorurteilen, die plötzlich eine große Gruppe erreichen, auch in dein eigenes Politikkonzept reinzuholen. Also eine bestimmte Form von Ablehnung von Flüchtlingen oder eine bestimmte Form von Fremdenfeindlichkeit wollen unsere demokratischen Parteien auch nicht. Und wenn es dann mal so wie in Dresden dazu gekommen ist, dass da offenkundig eine Massenbasis, zeitweilig jedenfalls, existiert hat für Strömungen, die den Demokraten nicht gerade recht sein können, dann erleben wir das auch als ein Element von Unsicherheit. Und gerade im Osten ist es auch so, dass sich doch mancher noch als ein zu kurz Gekommener fühlt, einige wenige es vielleicht auch sind, und dann gibt es so ein Fremdeln gegenüber der Demokratie, gegenüber unserem im Westen ja lange eingeübten System, im Osten immerhin seit einer Generation nun.

Wenn sie dann jetzt gleichzeitig auch Formen der Auseinandersetzung sehen, die weit über das hinausgehen, was wir unter demokratischer Auseinandersetzung verstehen, Demonstrationen, teilweise auch Beschimpfungen, Bedrohungen von aktiven Politikern, jetzt der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau oder des Bürgermeisters von Tröglitz, der zurückgetreten ist, weil Demonstranten vor seinem Haus demonstriert haben, was geht Ihnen da durch den Kopf?

Also das darf nun überhaupt nicht sein. Ich würde jetzt nicht so weit gehen zu sagen, also jetzt schränken wir das Demonstrationsrecht mal ein, erstens, zweitens, drittens. Aber es muss irgendwie Schluss sein mit Bedrohungsszenarien und Einschüchterungsszenarien gegenüber den Leuten, die wir entweder als ehrenamtliche Bürgermeister haben oder als gewählte Politiker. Und nun kann man von beiden wahrlich nicht aussagen, dass von ihnen eine Gefahr ausgeht für unsere Demokratie, sondern sie haben jeder auf seine oder ihre Weise versucht, das, was die Wähler von ihnen erwartet haben, umzusetzen. Solche Leute einzuschüchtern oder zu bedrohen, das geht gar nicht, und da sind wir als Bürger aufgefordert, aber da sind auch die Institutionen aufgefordert, den Demokraten, die Ämter haben, Schutz zu gewähren, wo dieser nötig ist.

Wie kann Politik wieder interessanter werden für die Menschen, die sich in der Politik engagieren wollen?

Natürlich gibt es Formate, bei denen viele Menschen weghören. Die vielen auch manchmal gescholtenen Talkshows sind der Versuch, Elemente der Unterhaltung und der Spannung, die aus einer Debatte hervorgehen, mit politischen Themen zu verbinden, auch mit Gesichtern zu verbinden. Das ist schon Mal nicht schlecht. Es muss aber weitere Formate geben, wo es gelingt, die sehr, sehr komplizierten Zusammenhänge in der Gesundheitspolitik, in der Europapolitik, bei der Friedenspolitik global, den Menschen zu erklären. Die Politik braucht, ganz generell gesprochen, mehr Bereitschaft, mehr Zeit, mehr Mühe auch, um das, was sie miteinander erarbeitet haben, an die Leute heranzubringen. Aber die Leute, wenn sie sich Smartphones kaufen oder einen neuen Computer, dann sind sie nicht die kleinen Dummen, sondern sie sind informationsbereit, sie holen sich die Informationen, und sind entscheidungsfähig. D.h. diese ganze Sache hat zwei Seiten: Ich kann nicht auf der einen Seite ein hoch effizienter Typ sein, und wenn´s ums Wählen geht so tun als sei ich ein Analphabet. Also da muss die Politik das ihre tun, und der Bürger: Bitte aufwachen, geht um meine Dinge, um die Dinge von uns allen, da will ich dabei sein.

Also Sie meinen auch, dass gerade in der Kommunikation zwischen Politik und Bürgern auch die Politik mehr leisten muss?

Ja aber sicher. Ich sag das gar nicht als Vorwurf, sondern es ist so: Nehmen Sie mal die Elemente, die wir gestalten müssen, wenn Europa als gemeinsamer Staat, das wollen die meisten Wählerinnen und Wähler in den verschiedenen europäischen Ländern nicht, unser gemeinsames Europa, die Europäische Union, steht. Und wie gestalten wir jetzt die Politik in Europa, wenn die Nationalstaaten noch so viel Kompetenz haben? Das ist ein sehr kompliziertes Thema. Und dann brauchen wir Zeit, die wir investiert haben, um den nächsten Schritt politisch zu gestalten, auch, um Kommunikationsstrategien zu entwickeln. Und da muss wahrscheinlich auch Geld und Fantasie und Wissen und Manpower aufgebracht werden, um mit den Bürgern darüber zu sprechen, was uns jetzt gerade politisch wichtig ist.

Wären gerade bei solchen großen Themen vielleicht auch Bürgerentscheide doch an der einen oder anderen Stelle die bessere Wahl?

Habe ich früher auch gedacht. Als ich einstieg in die Politik, eben nach dieser Wahl wurde ich ja selber Abgeordneter und ich schwärmte von der direkten Demokratie und den plebiszitären Elementen, wie diese Volksbefragungen und Volksentscheide genannt werden. Ich möchte eine Gesellschaft, in der der Bürger auch Bürger ist, das heißt sich beteiligt, hauptsächlich durch Wahlen. Aber warum nur durch Wahlen? Es hat sich gezeigt, auch dort gibt es eine Zurückhaltung, oft gerade bei Menschen, die beim unteren Rand der Gesellschaft sind, die weniger gut ausgebildet sind, die sozial schwach sind, dort gibt es eine größere Zurückhaltung beim Wählen und auch bei dieser Art von Mitbestimmung.

Also die Falschen würden im Endeffekt entscheiden Ihrer Meinung nach oder nicht die ausreichende Menge.

Oft ist es so, dass man nicht einen Zugewinn hat an demokratischer Mitwirkung durch dieses Element. Die repräsentative Demokratie, wie wir unser System nennen, ist eigentlich das Element, wo viele über die Wahl mitwirken können. Und wir unterhalten uns wegen des 18. März. Und deshalb: Nicht jede Wahl ist so grundlegend wie die Wiedervereinigung. Aber jede Wahl hat irgendwie Größe, weil sie dem einzelnen Menschen sagt: Du bist es, um den es geht, und nimm bitte Deine Rolle an. Warum sollen wir auf dieses so wichtige Element verzichten, nur weil wir so bequem sind?

Du bist es, haben Sie gesagt, das haben Sie sich wahrscheinlich auch gesagt, 1990, als Sie sich zur Wahl gestellt haben. Damals haben Sie politische Verantwortung übernommen, waren ein gutes halbes Jahr lang Volkskammerabgeordneter, sind dann zum Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen geworden und vor drei Jahren zum Bundespräsident gewählt worden. Würden Sie noch einmal Verantwortung übernehmen als Bundespräsident, wenn in zwei Jahren die Wahl wieder ansteht?

Also es ist so: Ich sehe jetzt klar vor Augen, dass Sie Stress bekämen in der Redaktion, wenn Sie diese Frage nicht stellen würden.

Das Interessiert mich auch persönlich sehr, und ich glaube, nicht nur unsere Redaktion, sondern auch die Bürger in Deutschland interessiert sie sehr.

Mein Stress, wenn ich auf die Frage antworten würde, wäre aber größer. Und deshalb verzichte ich noch einstweilen darauf, die Frage zu beantworten. Beizeiten kommen wir darauf zurück.

Trotzdem noch mal der Rücksprung ins Jahr 1990. Sie haben damals Verantwortung übernommen. Wenn Sie jetzt sich die letzten 25 Jahre anschauen: Haben Sie es jemals bereut?

Nein, natürlich nicht! Das ist so schwer zu beschreiben, ein Leben in Unfreiheit, wenn alles für dich geordnet ist. Und es ist ja nicht nur so, dass das Land zugeschlossen war, durch Mauer und Stacheldraht, sondern es ist so, dass die Bildungswege vorgeschrieben waren: der Staat hat gesagt, wie viele können Abi machen, wer nicht, der Staat hat dich gefördert in Deinem Beruf, wenn du in der Partei warst, und es war eben Schluss, du konntest den Lehrstuhl als großer Wissenschaftler nicht kriegen, wenn du nicht in der SED warst. Geringe Ausnahmen lassen wir mal außer Acht. Und diese fürsorgliche Diktatur, die für jeden wusste, was das Beste ist, und dabei das Land grau, arm und unzufrieden machte, diese Zeit ist unwiederbringlich dahin, und Gott sei Dank ist sie dahin. Und nur die Einstigen, die begünstigt waren, die sehnen sich vielleicht danach zurück. Aber deren Kinder schon nicht mehr. Nein, wir haben nicht das Paradies erreicht damals vor 25 Jahren, das gibt es auf dieser Erde nicht. Aber ein unendlich großer Teil unserer Wünsche, was Mitbestimmung betrifft, was Freiheit betrifft, auch was Wohlstand betrifft, was kulturellen Reichtum betrifft, was die Weltanschauung betrifft – all das ist Wirklichkeit geworden. Und es gibt für die Ostdeutschen inzwischen auch keinen großen Unterschied mehr im Vergleich zur westdeutschen Bevölkerung, unzufrieden zu sein. Es ist eine übergroße Mehrheit, die das voller Glück und Dankbarkeit auch verfolgt, was uns gelungen ist. Da uns noch nicht alles gelungen ist, hat Politik und hat der Bürger auch noch einiges zu tun.

Die Fragen stellte: Peter Kloeppel.