Interview mit dem Deutschlandfunk

Schwerpunktthema: Interview

24. April 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Radiosender Deutschlandfunk ein Interview gegeben, das am 24. April gesendet wurde. Darin heißt es zum Gesetz, das den Bundespräsidenten vor Verunglimpfung schützt: "Ich persönlich brauche keine Lex Gauck. Und ich habe von dieser Berechtigung, meinen Ruf zu schützen, auch noch nicht Gebrauch gemacht. Also ich habe kein Problem damit, aber es gibt eben nicht nur die Person, sondern der Präsident ist der Repräsentant von uns allen."

Bundespräsident Joachim Gauck bei einem Interview mit Stephan Detjen vom Deutschlandfunk im Amtszimmer in Schloss Bellevue

Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Radiosender Deutschlandfunk ein Interview gegeben, das am 24. April gesendet wurde:

Herr Bundespräsident, die Bundesregierung will nach der Erdogan-Böhmermann-Affäre Paragraph 103 des Strafgesetzbuches abschaffen, der die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter unter Strafe stellt. Finden Sie auch, dass die Ehre eines Staatsoberhauptes nicht besser, nicht schärfer geschützt werden muss, als die eines normalen Bürgers oder die des Bundespräsidenten?

Das ist so ein Fall, wo ich ungerne dem Parlament, das ja hier erst mal zu entscheiden hat, Ratschläge geben würde. Mein Rat aber in dieser Sache ist, nicht aus einer aktuellen Erregungsphase heraus Entscheidungen zu treffen, sondern das Für und Wider noch einmal gründlich zu bewerten. Das ist bei Auseinandersetzungen, die letztlich vom Recht geprägt werden, immer wichtig. Wir sind ein bisschen kurzatmig jetzt. Wir regen uns auf. Der eine mehr in die Richtung, der andere mehr in die andere Richtung. Und bei solchen Sachen braucht man schon eine Phase des Nachdenkens und der Abwägung.

Die Bundesregierung sagt ja, dieser Paragraph 103 ist ein Relikt aus überkommenen kaiserlichen Zeiten, wo Majestätsbeleidigung strafbar war. Höre ich jetzt aus dem, was Sie sagen, etwas die Sorge heraus, dass in so außenpolitisch unruhigen Zeiten, wie in denen wir zurzeit leben, die Pflege klassischer diplomatischer Umgangsformen vielleicht doch noch mal an Bedeutung gewinnt?

Ich will mich nicht so gerne einlassen hierzu. Denn all das würde den Charakter eines Ratschlags haben. Und die anderen Verfassungsorgane hüten sich auch, mir Ratschläge zu geben. Und so will ich das auch nicht. Wenn ich dafür plädiert habe, noch einmal genau abzuwägen: Mit welcher Entscheidung gewinnen wir was und mit welcher verlieren wir was? Weiter möchte ich eigentlich nicht gehen. Und lassen wir es mal dabei.

Das, was Sie hier gesagt haben, wird natürlich gehört werden. Und es wäre ja auch nicht ungewöhnlich, dass in einer solchen Frage, die den Bundespräsidenten entweder in Person – es geht ja auch um Paragraph 90, der den Bundespräsidenten vor Verunglimpfungen schützt –, die den Bundespräsidenten unmittelbar oder mittelbar als Gastgeber von Staatsoberhäuptern betrifft, also dass man ihn möglicherweise auch förmlich anhört.

Ja, wenn Sie mich zu diesem Paragraphen befragen, sage ich vielleicht einen Satz mehr …

Dann frage ich Sie.

… indem ich mich auch weigere, dem deutschen Parlament, mahnende Worte oder gar Ratschläge und einfach etwas zu bedenken gebe. Vielleicht machen sich nicht alle Menschen bewusst, dass die höchste Repräsentanz einer Republik, einer Demokratie doch mindestens so viel Ehrerbietung verdient, wie es ein gekröntes Haupt verdient. Und vielleicht haben wir in der Rechtsordnung, so, wie sie jetzt ist, eine Ahnung von dem Respekt, den wir einander schuldig sind als diejenigen, die insgesamt diese Demokratie gestalten und verantworten. Ich persönlich brauche keine Lex Gauck. Und ich habe von dieser Berechtigung, meinen Ruf zu schützen, auch noch nicht Gebrauch gemacht. Also ich habe kein Problem damit, aber es gibt eben nicht nur die Person, sondern der Präsident ist der Repräsentant von uns allen. Und möglicherweise werden bei der Beratung Was lassen wir als gesetzliche Regelung und was kassieren wir, vielleicht solche Überlegungen eine Rolle spielen.

Das ist eine Stellungnahme gewesen. Lassen Sie uns zurückkommen auf den sozusagen Verursacher dieser Debatte, auf den türkischen Staatspräsidenten Erdogan. Kann die Türkei mit diesem nach einer, tja, man kann fast sagen sultanesken Allmacht strebenden Staatspräsidenten, der ja nicht nur einen deutschen Fernsehmoderator verklagt hat, sondern der bis in die letzten Tage hinein auch die Arbeitsmöglichkeiten von Korrespondenten deutscher Medien in der Türkei massiv eingeschränkt hat, kann diese Türkei in der Flüchtlingspolitik für Deutschland und für Europa ein zuverlässiger Partner sein?

Offenkundig ist sie das nicht nur für Deutsche. Sie ist jedenfalls ein Partner. Und zuverlässig, das werden die europäischen Staaten bewerten. Wir bemühen uns im Verkehr mit unseren Partnern auch außerhalb der EU um Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit. Jetzt stehen wir aber oftmals vor einem Dilemma, dass wir die ideale Politik nicht gestalten können, sondern dass wir auch politikfähig bleiben müssen mit Staaten, auch in der Zusammenarbeit mit Staaten, die, anders als wir, den Menschenrechten, überhaupt im Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, nicht die Bedeutung beimessen, wie wir es tun. Wenn wir nur mit den Staaten Umgang pflegen würden, die völlig auf unserem Level wären, würde ein Teil der Partner, die wir auf der Welt haben als Handelspartner, als Gesprächspartner, als Vertragspartner, schlichtweg ausfallen. Deshalb hat sicher die deutsche wie die europäische Politik auch im Blick gehabt, dass neben den Fehlern der türkischen Politik und des türkischen Präsidenten die Tatsache, dass Millionen von Flüchtlingen in diesem Land ein sicheres Leben gefunden haben, dass dies auch betrachtet werden muss. Davon gehen jedenfalls offenkundig die Europäer aus, wenn sie mit der Türkei auf Augenhöhe verhandeln.

Nun hören wir auch andere Nachrichten. Menschenrechtsorganisationen, Human Rights Watch hat berichtet, dass da an der Grenze geschossen wird auf Flüchtlinge. Wir sehen wieder, hören Nachrichten, Bilder von ertrinkenden Menschen im Mittelmeer. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat gesagt: Wir müssen jetzt einige Wochen lang auch ein paar harte Bilder aushalten. Welche Härte von Bildern sind Sie bereit auszuhalten? Die von ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer? Die von Flüchtlingen, die an den Außengrenzen Europas mit Tränengas beschossen werden? Oder die von Frauen und Kindern hinter dem Stacheldraht der griechischen Auffanglager?

Ich gehöre zu den Menschen, die – übrigens genauso wie der Innenminister – auch in ihrem politischen Leben von Wertegrundlagen ausgehen. Und solche Menschen leiden unter derartigen Bildern. Gleichzeitig gehören wir zu den Menschen, die in ihrem Leben eine Überfülle von widerwärtigen, schrecklichen Bildern gesehen haben. Keiner von uns wünscht sich, dass sich das wiederholt. Das heißt, das passt nicht zu diesem Europa, wenn wir es einfach tatenlos hinnehmen, dass solche Bilder zu einem Dauerzustand werden. Was also ist zu tun? Und deshalb brauchen wir eine faire Entscheidung darüber, wer welche Flüchtlinge aufnimmt. Wir brauchen legale Zugangswege, wenn wir unsere Grenzen schützen, für diejenigen, die ein Anrecht haben, bei uns Asyl zu erhalten oder für diejenigen, die wir haben wollen, weil sie uns helfen, Wirtschaftsengpässe …

Aber darf ich noch mal fragen: Gehört dazu, zu dem, was auch Sie eben als Realpolitik dieser Tage geschildert haben, dass man eben Dinge aushalten muss, von denen wir eigentlich im Sommer letzten Jahres mal gesagt haben, die wollen wir nicht mehr aushalten?

Nein. Das wird auch weiter unsere Politik bestimmen, dass wir solche Bilder verhindern wollen. Wir haben diese Dinge zu verhindern. Und gleichzeitig ist es so, wenn wir das Prinzip Grenze als ein gültiges Prinzip akzeptieren, dann kann es immer dort, wo eine Grenze ist, ob sie rund um Europa ist oder um einzelne Staaten herum, Konflikte und Schwierigkeiten geben, wenn es eine ungeregelte Zuwanderung gibt. Und deshalb arbeiten wir ja alle daran, dass Zuwanderung, Migration geregelt wird. Deshalb gehört zu der Sicherung von Grenzen, die wir anstreben müssen, die Schaffung und Herstellung von Situationen, wo in menschlicher Weise abgewiesen wird. Das ist ja dann etwas anderes, als wenn wir praktisch wegschauen, wenn Leute elendig im Meer ertrinken. Und darauf müssen sich Leute auch verlassen können. Ich habe die Chance akzeptiert zu werden. Und, wenn ich nicht akzeptiere, habe ich die Chance, lebend und in guter Verfassung zurückzugehen. Das werden die dann nicht als Chance sehen.

Auch das ist eine Diskussion, die in Deutschland schon vehement geführt worden ist. Mit welchen Mitteln hält man Menschen ab? Gehört dazu möglicherweise, wie ja von Politikern der AfD gesagt wurde, im Extremfall auch Gewalt? Ist das eine Diskussion, die man vielleicht doch länger, intensiver führen muss, als sie zunächst geführt worden ist in Deutschland?

Also ich denke, die Art und Weise, wie das in die Debatte gebracht worden ist, spricht schon dafür, dass wir in Deutschland keine Politiker haben werden, die das auf ihre Fahnen schreiben werden. Wir werden das so nicht sehen.

Herr Bundespräsident, das Verhältnis Deutschlands zur Türkei, über das wir gesprochen haben, wird in den nächsten Wochen noch einmal auf eine weitere Belastungsprobe gestellt werden. Der Bundestag will im Juni über eine Resolution abstimmen, in der das Massaker an den Armeniern am Anfang des 20. Jahrhunderts als Völkermord bezeichnet wird. Sie haben das schon im letzten Jahr offen getan in einer Rede, die in vollem Titel bezeichnet war Der Völkermord an Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen. Sie haben auch die Bundesregierung hinter den Kulissen erfolgreich zu einem vorsichtigen Wortwechsel Ihrer damaligen Wortwahl bewegt. Heute gibt es aber, gerade aus Sicht der Bundesregierung, noch mehr Gründe als damals, Rücksicht auf die Türkei zu nehmen. Welche Haltung erwarten Sie jetzt von Bundestag und Bundesregierung in dieser Frage?

Ja, ich erhalte gerade von Ihnen wieder eine Einladung, kommentierend in die Aktion anderer Verfassungsorgane einzugreifen. Und ich muss bedauern. Ich nehme diese Einladung wiederum nicht an. Was ich allerdings tun kann, ist, die Verhandlungen, die inzwischen gelaufen sind zwischen den Fraktionen, positiv zu bewerten. Dazu will ich mich dann doch durchringen.

Das Deutschlandfunk-Interview der Woche mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck. Herr Bundespräsident, welche Pläne haben Sie für den 12. Februar nächsten Jahres?

Am 12. Februar nächsten Jahres findet in Berlin eine wichtige Veranstaltung statt, in der darüber entschieden wird, ob der neue Bundespräsident der alte sein soll, oder ob sich die Wahlfrauen und Wahlmänner eine neue Kandidatin, einen neuen Kandidaten auswählen.

Steht denn der jetzige Bundespräsident dann noch einmal zur Verfügung?

Das ist nicht völlig auszuschließen. Und es scheinen sich ja eine Menge Leute dafür zu interessieren. Deshalb habe ich Ihre Frage auch erwartet. Lassen Sie uns mal in den Frühsommer kommen und dann werde ich mich entschieden haben und werde das auch dann öffentlich kundtun.

Es ist ja in der Tat ein Thema, das viele interessiert. Sozusagen talk of the town im politischen Raum in Berlin. Können Sie es konkretisieren? In welcher Form werden Sie sich erklären und können Sie den Zeitpunkt konkretisieren?

Na ja, ich habe ja eben einen groben Rahmen gesetzt. Sagen wir mal, der Frühsommer wird es sein. Und jetzt wird es wohl nicht in einem Deutschlandfunk-Interview sein, obwohl mir dieses Format sehr sympathisch ist.

Wir laden Sie gerne wieder ein – im Frühsommer.

Ja, (lacht), das werde ich möglicherweise annehmen können. Aber wir würden dann eine Form finden, wo niemand aus den Medien benachteiligt wird.

Lassen Sie mich eine abstrakte Frage stellen: Wäre es mit dem Amt, mit der Würde, mit der Funktion des Amtes vereinbar, dass ein amtierender Bundespräsident nur für eine halbe weitere Amtszeit antritt?

Na ja, es ist eine Denkfigur, die mir jetzt auch begegnet ist in den Medien. Für mich als Person und für den Präsidenten in dieser Zeit wäre das eigentlich eine Lösung, die weniger gut ist. Also zur Person passt sie gar nicht und zur Präsidentschaft auch nicht so richtig.

Wenn Sie im Februar noch mal antreten, dann wären Sie gerade 77 Jahre geworden. Das ist ein Alter, da kommt man schon mal ins Grübeln, wenn man sich so eine Aufgabe noch mal aufbürdet. Andererseits haben Sie gerade der Queen zum 90. Geburtstag gratuliert. Und die zeigt ja, dass man auch im hohen Alter, mit 90, noch ein strahlendes Staatsoberhaupt sein kann.

Ja, das ist bewundernswürdig. Und trotzdem gehört es auch zu den Pflichten, die ich empfinde, ganz realistisch über die eigenen Kräfte und Möglichkeiten nachzudenken. Und da hilft der Blick auf andere Persönlichkeiten manchmal weniger. Also, jede Entscheidung wird eine schwere Entscheidung sein. Die Entscheidung hat immer etwas für und etwas gegen sich. Ich kann mein Alter in den Vordergrund rücken und muss natürlich mich fragen: Werde ich fertig werden mit den Belastungen, auch wenn ich dann über 80 Jahre sein werde? Und auf der anderen Seite erfahre ich so viel Zuspruch aus der Bevölkerung, aber vor allen Dingen auch von Leuten, von denen ich immer gelernt habe, die ich selber bewundere, die mir wichtig sind mit ihrem Urteilsvermögen. Und dann baut sich so etwas wie ein innerer Druck auf: ja, wenn so viele das erwarten. Und deshalb sage ich: Wie auch immer ich mich entscheide, es wird eine schwere Entscheidung sein. Und ich werde vielleicht dann auch nicht so glücklich aus der Wäsche gucken, sondern wenn ich sie dann getroffen habe, wird sich noch vielleicht ein paar Wochen oder auch länger so ganz geheim die Frage einschleichen: Oh, war das jetzt richtig? Und trotzdem wird es eine Entscheidung sein, die sehr, sehr sorgfältig und verantwortungsbewusst gefällt ist. Und deshalb bitte ich auch um Verständnis, dass ich es jetzt noch nicht sage, sondern dass noch ein wenig Zeit vergehen wird, bis ich es dann definitiv sage. Sie entnehmen bitte diesen Worten, dass ich es mir nicht leicht mache.

Und, dass Sie noch in einem Prozess des Mit-sich-Ringens sind.

Offenkundig. Sie spüren das ja gerade, weil ich nicht so glatt antworten kann, wie Sie das vielleicht gerne hätten und wie ich es auch gerne hätte.

Dann würde ich an dieser Stelle eine ganz einfache Frage stellen: Wie geht es Ihnen in diesem Amt nach vier Jahren, die ja vier Jahre waren, in denen Deutschland sich in ungewöhnlichen Zeiten in einer Verdichtung von Krisen befand und an deren Anfangszeit auch das Amt, das Sie nach den Rücktritten von zwei Vorgängern übernommen haben, sich in einer institutionellen Krise befand?

Das klingt ein bisschen unprotestantisch, aber ich fühle mich gut. Und zwar besser als nach dem ersten Jahr meiner Präsidentschaft, wo ich auch sehr bemüht war, keine Fehler zu machen und nicht in die Arbeitsbereiche und Kompetenzbereiche anderer Verfassungsorgane zu geraten. Dann ist es Schritt für Schritt gelungen, auch mir Themen oder Schwerpunkte zu erarbeiten oder in Begegnungen zu erfahren, dass diese Präsidentschaft für mich und das Land Sinn macht. Und das sind wirklich glückhafte Erlebnisse dann, dass die Pläne oder die Hoffnungen, die man gehabt hat, mit seinen eigenen Kräften dem Land zu dienen, das so was einfach auch funktionieren kann. Oder auch mal etwas anzustoßen. Wie schätzen wir uns selber ein? Sind wir eigentlich dort, wo wir sein könnten? Glauben wir an uns in einer Weise, die uns deutlich macht, dass uns unglaubliche Potenziale zugewachsen sind, dass sehr viele Menschen nicht nur in Europa, sondern in anderen Teilen der Welt, von unseren Erfahrungen etwas lernen wollen? Diese Dinge zu erfahren, das glaube ich, kann man schwer überbieten. Also es ist immer heikel in der Politik, das Wort Glück einzubringen. Aber zu erfahren, dass Dinge, die man sich gewünscht hat, auch gelingen können, das ist schon auch Glück. Und das stärkt mich dann auch natürlich.

Der Bundespräsident wirkt besonders durch seine Reden. Sie haben immer wieder Reden zu den herausragenden Problemen, Fragen der Zeit gehalten. Zu Europa, zur Flüchtlingsfrage, besonders auch zur Außenpolitik. Ich denke an die Rede, die Sie vor zwei Jahren zur Eröffnung der Münchener Sicherheitskonferenz mit einem Appell an Deutschland gehalten haben auf internationaler Bühne, mehr Verantwortung zu übernehmen. Sehen Sie, dass sich Deutschland da bewegt hat? Ich frage das jetzt auch ganz bewusst an einem Tag, bevor sich in Hannover am Rande der Hannover Messe ein Minigipfel zusammentut, um mit dem amerikanischen Präsidenten zu sprechen. Und da stehen ja dann Fragen wie Syrien, wie Libyen auf der Agenda.

Ich war zu Beginn meiner Präsidentschaft nicht sicher, wann ich eine Rede halten würde, die sich mit der Identität dieser Nationen beschäftigen würde. Ich hatte schon lange das Gefühl, dass wir ein bisschen unter unseren Möglichkeiten bleiben und wollte ursprünglich zum Ende dieser fünf Jahre einer Amtszeit es wagen, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Dann erschienen aber erste publizistische Ansätze, dieses Thema öffentlich zu diskutieren. Welche Rolle übernimmt Deutschland? Ist Deutschland dort, wo es hingewachsen ist? Es geht mir doch nicht um Deutschland prinzipiell. Sondern es geht mir um dieses Deutschland, das in den Nachkriegsjahrzehnten aus einem tiefen Fall zu einer enorm stabilen rechtsstaatlichen Demokratie geworden ist. Dazu noch mit einem Sozialstaatsmodell, das weltweit nur wenige Länder überbieten können. Und dieses sich so entwickelt habende Deutschland ist für mich, gerade wenn ich es mit anderen Ländern vergleiche, eine für mich unerwartet demokratische und rechtsstaatliche Republik geworden. Für einen Mann meines Alters, im Krieg geboren, ist das auch ein Geschenk. Und das zeigt mir, dass Generationen von Menschen nicht umsonst politisch gearbeitet haben. Dass ein Zusammenwirken positiver Antriebe gewirkt hat, das dieses Land so nachhaltig verändert hat, dass es sich von allen vorigen Deutschlands unterscheidet. Und, wenn du davon überzeugt bist, dann musst du auch daran glauben, dass die Menschen, die in diesem Land leben, auch ähnliche Empfindungen haben können. Und dann thematisierst du das und dann erlebt man plötzlich, dass es ein Ja stimmt eigentlich gibt. So und jetzt auf Ihre Frage: Und die Politik hat so gehandelt, wie ich es erwartet habe. Wir haben in sehr komplizierten Fällen, wo noch gar keine Lösung zu sehen ist – im Verhältnis zu Russland nach dieser Völkerrechtsverletzung der Krim-Besetzung, wir haben dauernd den Gesprächsfaden versucht stabil zu halten. Die deutsche Diplomatie hat in den Iran-Verhandlungen eine Rolle gespielt. Sie versucht in Syrien einen Ausgleich mit zu erarbeiten oder hat im Falle Libyen sehr früh angefangen, sich darum zu kümmern, ob diese verfeindeten Gruppierungen, die dort miteinander bis heute kämpfen, ob die nicht vielleicht zueinander gebracht werden können. Das heißt, wir sehen als sehr vernetztes Land mit einer enorm starken Volkswirtschaft und Exportwirtschaft: Wir gehören zu den anderen. Lasst uns daraus Konsequenzen ziehen und uns einmischen im guten Sinne.

Sie haben eben aber auch die Sorgen angedeutet, die Sie sich zuweilen machen um das, was Deutschland erreicht hat, um diese in sich ruhende, gefestigte Demokratie, die friedliche Gesellschaft … Sind es diese Sorgen, die Sie auch in Ihren Äußerungen zur Flüchtlingskrise angetrieben haben, als Sie ja dann zuweilen im Herbst auch sozusagen als ein Antipode zur Bundeskanzlerin wahrgenommen wurden, der von Begrenztheiten, der Endlichkeit der Möglichkeiten gesprochen hat – Sie haben das eben erwähnt – als die Kanzlerin noch das optimistische zukunftsfrohe Wir schaffen das auf den Lippen trug?

Die Wahrnehmung, dass ich ein Antipode sei, ist irrig, sondern wir arbeiten in derselben Richtung, wie üblich mit einem unterschiedlichen Vokabular, nur selten mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Ich möchte keine Regierungschefin haben, die vor die Bevölkerung tritt und sagt: Wir schaffen das nicht. Wir sind überfordert. Aber ich möchte auch nicht, dass die Menschen, die Sorgen haben, sich nur vertreten lassen können von denen, die am rechten Rand Unheil stiften. Sondern ich möchte, dass wir, die Helfenden und Solidarischen, miteinander darüber reden: Wie schaffen wir das? Und das war der Sinn des Satzes, wenn ich auf die Endlichkeit unserer Möglichkeiten verwiesen habe. Ich habe nicht gesagt, wo die enden. Ich wollte nur, dass wir die Debatte in die Mitte der Bevölkerung holen. Und die Sorgen, die Menschen haben – ich habe vorher sehr viel mit Bürgermeistern gesprochen, häufig waren es sozialdemokratische Bürgermeister – und die Sorgen, die engagierte Journalisten und Menschen aus der Kultur aus ihren Freundeskreisen gehört haben – nicht von irgendwelchen Radikalen oder Spinnern –, die meinte ich, sollen offen besprochen werden. Und ich finde, das hat sich ganz gut so ergeben. Unser Land ist nicht denen gefolgt, die mit fremdenfeindlichen oder gar verbrecherischen Aktionen gegen Flüchtlinge wüten, sondern wir sind immer noch ein solidarisches Land und fragen uns jetzt: Wie schaffen wir das?

Nun sehen wir natürlich in der Mitte der Gesellschaft und auch des Parteiensystems, das Sie angesprochen haben, Erosionen. Eine Abkehr von den klassischen Volksparteien, die in Umfragen massiv an Zustimmung verlieren. Das Aufkommen einer Partei am rechten Rand: Ist das etwas, was Sie zutiefst beunruhigt? Oder würden Sie sagen, das ist eine … gerade in solchen Zeiten eine Normalität, die wir in unseren Nachbarländern schon lange gesehen haben und in der Deutschland nun auch ankommt?

Ja, wissen Sie, eine Normalität ist es! Und es gibt viel drastischere Folgen von Einfluss und Machtverlust. Wenn Sie an Italien denken und an die Rolle denken, die früher die Demokratia Christiana hatte oder auch die kommunistische Partei, und wenn Sie sich heute umschauen, ja, wo sind sie geblieben? Und deshalb sind solche Dinge normal, aber sie beunruhigen mich gleichwohl. Denn unsere Parteien haben ja für die Entwicklung der deutschen Demokratie sehr viel Gutes geleistet. Das Bündeln von Kräften, das Setzen von Themen geht ohne Parteien, und ohne Volksparteien erst recht, sehr viel langsamer. Und die Einigungsprozesse werden sehr viel schwieriger, wenn man es in basisdemokratischer Weise alles lösen will oder große Ziele setzen will. Also deshalb gibt es Grund zur Beunruhigung, aber nicht zur Furcht.

Wir sprechen jetzt an dieser Stelle über die AfD, die ja gerade in den letzten Tagen ein Thema gesetzt hat: Thema Islamkritik in der Zuspitzung, der Islam sei eine politische Ideologie, die nicht in eine Demokratie passe. Das ist in einem Programmentwurf der Partei etwas abgemildert. Aber ganz gezielt gefragt: Gehören solche Zuspitzungen zu einem offenen Diskurs, den eine Gesellschaft in einer solchen Zeit wie der jetzigen führen und auch aushalten muss?

Ja, es gibt manche Diskurse, die wirken nicht einfach nur aufklärerisch, sondern sie wirken auf einem Umweg aufklärerisch, nämlich demaskierend. Und wenn es tatsächlich so ist, dass sich eine politische Bewegung um eine Themenstellung herum versammelt, die dem Grundgesetz konträr entgegensteht, dann wäre ich allerdings besorgt. Einstweilen erwarte ich, dass alle Debattenteilnehmer auf der Grundlage des Grundgesetzes argumentieren. Und die Religionsfreiheit gehört zu den besonders geschützten Rechten dieses Landes. Die Erwartung, die ich ausdrücke, werde ich auch erfüllt sehen. Denn in Deutschland wird keiner Partei oder keiner Bewegung Erfolg beschieden sein, die auf ihre Fahnen schreibt, das Grundgesetz an entscheidenden Punkten noch einmal außer Kraft zu setzen oder zu relativieren.

Das, was die AfD jetzt zumindest in ihrem Programmentwurf auf ihre Fahnen schreibt, ist der Satz Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Das bezieht sich auf das Diktum Ihres Vorgängers, das Sie sich ja, anders als die Kanzlerin, auch nicht zu eigen machten wollten. Ist das ein Punkt, wo auch Sie sagen würden, da hat diese Partei einen Punkt getroffen?

Erst mal zu mir: Ich habe die Zielrichtung dieser Aussage, die ich so nicht formuliert habe, bewusst bejaht und sehr viel getan, um den Muslimen, die bei uns leben und die hier integriert sind, ein guter Präsident zu sein. Ich habe in meiner politischen Praxis als Bundespräsident dem Thema Integration und Wahrnehmung der Muslime eine enorme Aufmerksamkeit geschenkt. Und für mich ist es selbstverständlich, dass die Muslime Deutschlands Teil unseres Staates sind. Wir wollen mit ihnen auf der Grundlage unserer Verfassung ein gutes Miteinander erarbeiten und wir haben es auch. Eine Minderheit von ihnen kämpft gegen gewisse Ausprägungen dieser Gesellschaft, fremdeln möglicherweise mit dem einen oder anderen Artikel des Grundgesetzes, aber die übergroße Mehrheit überhaupt nicht. Die fühlt sich sicher und geborgen. Und für uns gibt es überhaupt keinen Grund, an der Religionsfreiheit herumzukritteln.

Herr Bundespräsident, vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte: Stephan Detjen.