Interview mit der chilenischen Wochenzeitung Cóndor

Schwerpunktthema: Interview

7. Juli 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat der chilenischen Wochenzeitung "Cóndor" ein schriftliches Interview gegeben, das am 7. Juli anlässlich des Staatsbesuchs in der Republik Chile erschienen ist. Darin heißt es zum Thema Einwanderung: "Unsere Länder sind aus ähnlichen Gründen für Zuwanderer reizvoll: Wir verfügen über einen hohen Lebensstandard sowie über wirtschaftliche und politische Stabilität. Vor allem sind Deutschland und Chile aber moderne und offene Gesellschaften."

Bundespräsident Joachim Gauck in Schloss Bellevue (Archiv)

Bundespräsident Joachim Gauck hat der chilenischen Wochenzeitung "Cóndor" ein schriftliches Interview gegeben, das am 7. Juli anlässlich des Staatsbesuchs in der Republik Chile erschienen ist.

Herr Bundespräsident, reisen Sie zum ersten Mal nach Chile? Was ist die Absicht Ihres Besuches, wie sieht Ihr Programm aus?Sie werden auch das Museum der Erinnerung und Menschenrechte in Santiago de Chile besichtigen.

Als Bundespräsident besuche ich Ihr Land zum ersten Mal. Ich konnte es aber bereits vor einigen Jahren einmal kennenlernen. Damals standen die Vergangenheitsaufarbeitung und die innerchilenische Versöhnung im Mittelpunkt. Das sind Themen, die mich unter anderem auch bei meinem Besuch als Bundespräsident begleiten werden. Vor allem aber möchte ich mit meiner Reise die historisch gewachsene, enge Partnerschaft zwischen unseren Ländern würdigen. Viele Deutsche gestalteten das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben Chiles mit und tun dies bis heute. Allein die Dichte deutscher Schulen und Schulen, die den Deutschunterricht fördern, ist in Chile einzigartig. Mit meinem Besuch möchte ich weitere Impulse zur Vertiefung unserer vielfältigen und engen Beziehungen geben.

Vor mir liegt ein umfassendes politisches, wirtschaftliches und kulturelles Programm. Nach einem Treffen mit Staatspräsidentin Bachelet werden wir gemeinsam eine große Konferenz zu den Herausforderungen der Demokratie eröffnen. In Santiago führe ich weitere politische Gespräche, nehme mit meiner Delegation an den Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der deutsch-chilenischen Handelskammer teil und treffe im Museo de la Memoria y los Derechos Humanos Vertreter der chilenischen Zivilgesellschaft, um über Menschenrechte, Demokratie und den Umgang mit der Vergangenheit zu diskutieren.

Welchen Herausforderungen müssen sich heute die Demokratien in Chile, Deutschland und weltweit stellen?

Weltweit erleben wir immer wieder Angriffe auf demokratische und freiheitliche Werte und die Idee einer pluralistischen Gesellschaft, derzeit vor allem durch islamistische Ideologien. In Europa, und nicht nur dort, suchen wir gegenwärtig auch Antworten auf den Aufstieg populistischer Kräfte, die mit leeren Versprechungen und der Instrumentalisierung von Ängsten ihren politischen Einfluss vergrößern.

Für eine stabile Demokratie ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat und seine Institutionen entscheidend, aber auch eine starke Zivilgesellschaft. Denn dort, wo die Bürgerinnen und Bürger das Gemeinwesen mitgestalten, erreichen wir tragfähigere Lösungen und befördern den sozialen Frieden. Auch wenn die Demokratie nicht immer zu perfekten Ergebnissen kommt, so gibt es doch keine überzeugendere Regierungsform, denn sie verfügt über eine besondere Stärke: Die Beteiligung aller und ihre Fähigkeit zu Selbstkritik und -korrektur.

In Chile wird innenpolitisch immer wieder diskutiert, ob nun ökonomisch mehr Staat oder lieber weniger Staat notwendig ist. Aber hat sich nicht die Planwirtschaft nach dem Untergang des Ostblocks als ideologische Alternative komplett diskreditiert?

Heute stehen sich Marktwirtschaft und Planwirtschaft nicht mehr im Sinne einer Systemkonkurrenz gegenüber. Die freiheitlichen Wirtschaftsordnungen haben sich in großen Teilen der Welt durchgesetzt, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Und wenn ich es richtig verstehe, wird in Chile nicht über eine Rückkehr zur Planwirtschaft diskutiert. Sondern es wird überlegt, welche staatlichen Maßnahmen erforderlich sind, um soziale Kosten eines unregulierten Marktes zu lindern und durch bessere Chancengerechtigkeit das gesellschaftliche und wirtschaftliche Potential des Landes zu stärken. Denn auch in einer Demokratie und Marktwirtschaft gilt: Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft stellt sich immer wieder neu, es muss austariert und ausgehandelt werden.

In Deutschland haben wir mit dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft sehr gute Erfahrungen gemacht. Sie verbindet in einer freiheitlichen Ordnung wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit sozialem Ausgleich, ein möglichst hohes Wohlstandsniveau für möglichst viele Menschen. Mit der Sozialen Marktwirtschaft ist das Versprechen von Aufstiegschancen unverzichtbar verbunden. Zentral dafür ist vor allem die Chancengerechtigkeit bei Bildung und Ausbildung.

Sehen Sie Parallelen zwischen der Einwanderung in Deutschland und in Chile, wo auch immer mehr Bürger aus anderen lateinamerikanischen Ländern arbeiten wollen?

Unsere Länder sind aus ähnlichen Gründen für Zuwanderer reizvoll: Wir verfügen über einen hohen Lebensstandard sowie über wirtschaftliche und politische Stabilität. Vor allem sind Deutschland und Chile aber moderne und offene Gesellschaften. Die damit verbundenen persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten ziehen Zuwanderer an. Das macht die Situation in unseren Ländern vergleichbar. Allerdings gibt es vor allem aufgrund der geographischen Lage große Unterschiede bei der Zuwanderung und auch der Anteil der Zuwanderer an der Gesamtbevölkerung ist in Deutschland vor allem in jüngerer Zeit höher als in Chile.

Die chilenische Regierung unter Präsidentin Michelle Bachelet bemüht sich das Bildungssystem zu reformieren. Kann Deutschland dabei als Vorbild dienen?

Chile hat sich sehr wichtige und weitreichende Reformen vorgenommen, mit dem Ziel ein anspruchsvolles und zugleich gebührenfreies Bildungssystem zu schaffen. Dabei wünsche ich Chile Durchhaltevermögen und Erfolg.

In Deutschland verfügen wir über ein leistungsfähiges Bildungssystem mit mehrheitlich staatlichen Schulen und Hochschulen, an denen Unterricht und Studium grundsätzlich gebührenfrei sind. Gerade aufgrund unseres gut funktionierenden Berufsbildungssystems verläuft der Übergang von der Schule in das Erwerbsleben für Absolventen im internationalen Vergleich erfolgreich. Außerdem haben wir ein bewährtes Verfahren der staatlichen Unterstützung bei den Lebenshaltungskosten von Schülern und Studierenden. Dass unser Bildungssystem im Ausland Ansehen genießt, ist erfreulich. Zugleich haben auch wir auf dem Weg zu einer hochwertigen Bildung für alle, weitere Aufgaben zu erledigen. Oft hängt der Bildungserfolg auch in Deutschland noch zu stark von der sozialen Herkunft ab. Wir müssen dabei auch künftig ausreichende Mittel für staatlich geförderte Bildung zur Verfügung stellen. Besser kann man Geld nicht investieren!

Herr Bundespräsident, Sie waren zuvor evangelisch-lutherischer Pastor: Im nächsten Jahr feiern Protestanten 500 Jahre Reformation. Welche Bedeutung hat dieses Ereignis für die heutige Welt?

Das Reformationsjubiläum 2017 wird – anders als alle Luther- und Reformationsjubiläen bisher – in weltweiter Gemeinschaft gefeiert – von Feuerland bis Finnland, von Südkorea bis Nordamerika. Das zeigt bereits, dass die von Wittenberg aus der Mitte Deutschlands ausgehenden Ideen der Reformation bis heute weltweit prägende Kraft entfalten. Für mich steht diese Entwicklung für einen andauernden Prozess hin zu Freiheit, Toleranz und Selbstbestimmung, die für jeden Einzelnen und jede Gesellschaft so wichtig sind. Die Reformation war nicht das Werk eines Einzelnen, auch wenn Martin Luthers Bedeutung mit der Übersetzung der Lutherbibel ins Deutsche, mit seinen Gedanken zur „Freiheit eines Christenmenschen“ und für das „Priestertum aller Gläubigen“ einzigartig und wichtig bleibt. Bis heute braucht es weltweit viele Mitdenker und engagierte Menschen, die sich aus ihrem Glauben heraus für das Wohl dieser „Einen Welt“ einsetzen und offen sind, eigene Überzeugungen in den Dialog mit anderen einzubringen.

Die Fragen stellte: Arne Dettmann.