Interview mit der Tageszeitung Bild

Schwerpunktthema: Interview

20. Juli 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat der Tageszeitung Bild ein Interview gegeben, das am 20. Juli erschienen ist. Zum Thema "Brexit" heißt es: "Man ist in der Politik immer gut beraten, erst dreimal tief durchzuatmen und dann das Gespräch mit den Anderen zu suchen. Die Briten jetzt demonstrativ und besonders hart die Folgen ihrer Entscheidung spüren zu lassen, wäre mit Blick auf künftige Generationen kein guter Weg."

Bundespräsident Joachim Gauck im Gespräch mit Tanit Koch und Ralf Schuler anlässlich des Interviews mit der Bild Zeitung im Amtszimmer in Schloss Bellevue

Bundespräsident Joachim Gauck hat der Tageszeitung Bild ein Interview gegeben, das am 20. Juli erschienen ist.

Eine gefestigte Demokratie wie Großbritannien verlässt die EU, ein Land wie die Türkei, in dem nach dem missglückten Militär-Putsch über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert wird, hat den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Wie kann das sein?

Ich sehe zwischen den Ereignissen in der Türkei und der Brexit-Entscheidung keinen unmittelbaren Zusammenhang, wenngleich beide Ereignisse möglicherweise massive Auswirkungen auch auf die Europäische Union haben werden. Der Putsch als solcher ist zwar abgewendet, aber auch die nun folgenden Entwicklungen beunruhigen mich sehr. Die türkische Regierung muss bei der Aufarbeitung der Ereignisse rechtsstaatliche und demokratische Grundsätze wahren. Alles andere würde die Demokratie in der Türkei beschädigen. Gerade weil die Türkei EU-Beitrittskandidat ist, kann jetzt nur gelten: Ein Land, das sich als Demokratie versteht und Mitglied der EU sein möchte, sperrt kritische Journalisten nicht ein, setzt nicht kurzerhand tausende Richter ab oder diskutiert über die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Sie haben bei Ihrem Besuch den autoritären Regierungsstil des heutigen türkischen Präsidenten Erdogan kritisiert. Jetzt dürfte er sich angesichts militanter Feinde im eigenen Land bestätigt sehen …

Die Türkei steht vor großen Problemen – im Innern mit sehr starken Gegensätzen in der Gesellschaft und auch in der Region. Dafür wird es keine einfachen Lösungen geben. Auch wenn wir in einer Zeit der Unruhe und auch der Bedrohung leben – die Türkei muss, nicht zuletzt weil sie Mitglied der NATO ist und Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, die gemeinsamen Regeln achten. Wie gesagt: Für uns Europäer sind Demokratie und Rechtstaatlichkeit unverhandelbar. Für einen autoritären Regierungsstil ist da kein Raum.

Auch in Deutschland hat Erdogans AKP viele Anhänger, die auf den Straßen demonstrieren. Kommt die türkische Innenpolitik jetzt zu uns?

Die Trauer über die hunderten Toten und tausenden Verletzten ist bei den Bürgern mit türkischen Wurzeln sicher besonders groß. Und wir sind in ihrer Trauer an ihrer Seite. Viele fragen sich auch besorgt, wie es wohl in der Türkei weitergehen wird. Und solange sie sich wie bisher in Solidarität friedlich versammeln und ihre Trauer und Sorge teilen, ist dagegen überhaupt nichts einzuwenden.

Vor wenigen Tagen erschütterte der Anschlag von Nizza die Welt. Selbst vor Kindern machte die Menschenjagd nicht Halt. Wo kann man da noch Trost finden?

Trost zu finden nach diesen schrecklichen Ereignissen oder gar nach dem Verlust eines geliebten Menschen ist sehr schwer. Ich glaube aber, dass die Erfahrung der großen Solidarität überall in Europa und in der ganzen Welt den Menschen doch ein wenig das Gefühl gibt, in ihrer Trauer nicht alleine zu sein. Auch hier gilt, dass wir als europäische Familie nun besonders eng zusammenstehen müssen.

Frankreichs Staatspräsident Hollande sieht sein Land im Krieg. Wie kann Deutschland helfen, diesen Krieg zu gewinnen?

Das Entscheidende wird auch hier sein, dass wir zusammenhalten in Europa. Gerade jetzt dürfen wir uns nicht auseinander dividieren lassen. Dem Terror können wir nur die Stirn bieten, wenn wir unseren Zusammenhalt stärken und eng und stärker zusammenarbeiten, zum Beispiel unsere Sicherheitsbehörden.

Kann man den Islam wirklich heraushalten aus der Terror-Debatte?

Die Ursachen für den Terrorismus sind äußerst vielschichtig. Wir müssen uns damit intensiv auseinandersetzen. Wir müssen besser verstehen, woher die Krisen im Nahen und Mittleren Osten kommen, aber vor allem, warum einige junge Menschen in unseren europäischen Gesellschaften so empfänglich sind für radikale islamistische Ideen und sich für menschenverachtende Untaten instrumentalisieren lassen. Hier sollten wir auf allen Ebenen Lösungen suchen: in der Sicherheitspolitik, aber auch bei der sozialen Integration, denn die Mehrheit der terroristischen Mörder kommt aus dem gesellschaftlichen Abseits, deshalb muss es auch um eine Verbesserung von Zukunftsperspektiven gehen.

Spaltet der radikale Islam langfristig unsere Gesellschaften?

Zunächst ist es so, dass die allermeisten Muslime in Deutschland ein friedliebender Teil unserer Gesellschaft sind. Das sollten wir nicht vergessen. Es gibt manche beunruhigende Entwicklung, aber doch nicht wirklich eine Spaltung unserer Gesellschaft! Wir sind aufgerufen, jeder Form ihrer Spaltung vorzubeugen, auch weil es genau das ist, was die Terroristen wollen.

Müssen, sollten oder werden wir unsere Lebensstil doch ändern?

Unsere Werte wie Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und unseren liberalen Lebensstil werden wir natürlich nicht ändern. Allerdings gibt es keinen Grund zu Sorglosigkeit, sondern viele Gründe, für unsere Werte einzutreten und sie zu verteidigen – mit klarem Blick auf die Gefährdungen, aber mit Augenmaß.

Die vergangenen fünf Jahre gliedern sich in Finanz-Krise, Ukraine-Krise, Flüchtlingskrise, Brexit-Krise ... Sehnen Sie sich manchmal nach dem alten Europa?

(lacht) Ich habe manchmal Sehnsucht nach den Zeiten, als die allermeisten Menschen mit Europa vor allem Hoffnungen verbanden und sich über und auf eine gemeinsame Zukunft gefreut haben.

Warum denken wir eigentlich nicht an die EU, wenn wir an dieses Europa denken?

Für einen Teil der Bevölkerung trifft das in der Tat zu – und das finde ich schade. Die Vision fällt nicht bei allen Bürgern mit der Institution zusammen. Die Europäische Union hat gerade auch den Europäern, die lange arm waren, sehr gut getan. Denken wir an Portugal, Spanien, Irland oder an Länder in Ost- und Ostmitteleuropa: Dort hat EU-Hilfe viel Gutes bewirkt. Aber auch Deutschland hat die EU gesellschaftlichen Fortschritt, wachsenden Wohlstand und internationalen Respekt gebracht. Leider hat ein Teil der Bürger in Europa das derzeit nicht vor Augen.

Tut die Politik genug, um daran zu erinnern?

Wir alle, die wir in der Politik oder ihrem Umfeld tätig sind, müssen uns darum bemühen, politische Prozesse und politische Entscheidungen immer neu zu erklären. Bürger dürfen nicht das Gefühl bekommen: Die Fachleute einigen sich, beschließen etwas und gehen dann zur Tagesordnung über, obwohl wir doch noch viele Fragen haben. Das gilt zum Beispiel für so komplexe Projekte wie die Freihandelsabkommen mit den USA oder Kanada, über die derzeit so viel gestritten wird, aber auch für die Flüchtlingspolitik, und jetzt, ganz aktuell und ganz besonders natürlich, für die Zukunft Europas. Bürgern soll es nicht so vorkommen, als sei es mit der Politik wie auf einem Ärztekongress: Die Ärzte verstehen sich untereinander, aber der Patient – sollte er zuhören – versteht kaum etwas. Allerdings geht es nicht nur darum, dass Politiker ihre Politik erklären; sondern die Bürger, sollten sich für diese Erklärungen dann auch interessieren – heißt, sie sollten sich informieren, selbst wenn das Zeit und Mühe kostet. Anders ausgedrückt: Es gibt nicht nur eine Bringschuld der Politiker sondern auch eine Holschuld der Bürger.

Wie haben Sie vom Ausgang des Brexit-Referendums erfahren?

Ich bin mit der Erwartung zu Bett gegangen, dass es so mit einem knappen Sieg der EU-Befürworter ausgehen wird. Gleich nach dem Aufstehen habe ich dann gehört, dass es anders ausgegangen ist und war geschockt.

Was war Ihr erster Gedanke?

Ich war traurig und habe mich gefragt: Was soll das? Manchmal denke ich, auch Völker sind wie jeder Einzelne von uns: mal weniger und mal mehr von Ängsten geleitet. Beim Brexit-Votum haben Ängste wohl eine starke Rolle gespielt.

Hat sich Ihre Einschätzung mit etwas Abstand jetzt geändert?

Ich bin optimistisch, dass wir auch diese Krise meistern werden. Wir haben in der EU viele stabile Demokratien, eine Reihe von Ländern hat gute Wirtschaftsdaten und wir sind uns in Europa im Großen und Ganzen über mehr Dinge einig als uneinig. Vielleicht müssen wir uns auch öfter vor Augen führen, dass die Europa-Kritiker und Populisten zwar die öffentlichen Debatten beherrschen, aber in den meisten Ländern gar keine Mehrheit haben. Vor allem aber: Sie haben keine Vision für die Zukunft, haben nichts Überzeugendes anzubieten.

Also alles halb so schlimm?

Nein. Wir Europäer müssen uns jetzt den Arbeitskittel überziehen, einen Moment innehalten und – bevor wir die Dinge ganz schnell weiter vorantreiben – ganz genau prüfen: Wo stehen wir? Was ist uns bisher gut gelungen und wo sollten wir noch nacharbeiten? Was muss Europa regeln und was die einzelnen Mitgliedstaaten? Es ist doch ganz klar, dass Europa auf Dauer nur dann ein Erfolgsprojekt bleibt, wenn es die meisten Menschen mitnimmt, am besten, wenn es sie mitnimmt und begeistert.

Müssen wir dazu wieder mehr auf die Menschen hören? Brauchen wir also mehr Volksentscheide?

Als ich vor vielen Jahren in die Politik kam, war ich ein Anhänger von Volksentscheiden. Inzwischen habe ich einige Erfahrungen damit gesammelt und sehe es differenzierter. Auf kommunaler und Landesebene werden Volksentscheide ja häufig genutzt. Auf Bundesebene allerdings ist unsere repräsentative Demokratie die beste Antwort auf die komplizierten Probleme unserer Zeit. Es gibt eine ganze Reihe von Themen – Sicherheit, Steuern, Währungspolitik und vieles mehr – bei denen einfache Antworten wie Ja oder Nein nicht ausreichen. Oft müssen schwierige Kompromisse gefunden werden, die mit Volksentscheiden nicht möglich sind. Außerdem beteiligen sich oft leider auch nicht sehr viele Menschen an den Abstimmungen dort, wo sie angesetzt werden.

Ist Europa noch zu retten, Herr Bundespräsident?

Auf jeden Fall. Mir ist da gar nicht bange. Denn, wie gesagt, am Ende haben die Anti-Europäer nichts anzubieten, was den Menschen eine bessere Zukunft verspräche. Gemeinsam können wir Europäer Banken-Krisen trotzen; wir haben europaweite Studien- und Ausbildungsprogramme; und wenn wir die Grenzen alle wieder zumachten, stünden nicht nur wir Urlauber im Stau, sondern auch alle Waren und Güter. Noch vor wenigen Jahren gab es in Europa, auf dem Balkan, Krieg. Innerhalb einer Union ist das undenkbar. Im Übrigen muss man auch Geduld mit den Ländern aufbringen, die erst mal ganz eigene Wünsche an die EU haben. Die Europäische Union muss Iren, Polen, Franzosen, Friesen oder Bayern signalisieren: Ein Jeder bleibt der, der er ist. Aber wir bleiben es miteinander.

In Brüssel meinen jetzt viele, man müsse an den Briten ein Exempel statuieren und sie für den Brexit hart bestrafen. Eine gute Idee?

Man ist in der Politik immer gut beraten, erst dreimal tief durchzuatmen und dann das Gespräch mit den Anderen zu suchen. Die Briten jetzt demonstrativ und besonders hart die Folgen ihrer Entscheidung spüren zu lassen, wäre mit Blick auf künftige Generationen kein guter Weg. Wir, die anderen 27 EU-Länder, müssen jetzt nicht so handeln, als wären wir die Schwächeren, Gedemütigten. Die Pose des Gekränkten bringt uns hier nicht weiter.

Bei der Brexit-Abstimmung spielte das Thema Einwanderung eine entscheidende Rolle. Nimmt die Politik die Sorgen der Menschen nicht ernst genug?

Ich finde, unterm Strich ist über das Thema Einwanderung viel und offen gesprochen worden. Natürlich hatten wir vom Herbst vergangenen Jahres an ein paar sehr bewegte Monate, in der Stimmungen und auch Diskussionen hin- und herwogten – es war ein Wechselbad der Gefühle. Da gab es Proteste gegen die vielen Flüchtlinge, dann aber auch eine große Willkommenskultur. Als die Kanzlerin nach innen Mut machen wollte und sagte Wir schaffen das, ist es in einigen Ländern als Einladung missverstanden, von manchen vielleicht auch bewusst missdeutet worden. Aber mittlerweile sehen doch die anderen Europäer und wir selbst: Deutschland gewährt Menschen in Not Zuflucht, weiß aber auch, dass es nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann und handelt danach.

Kam diese Erkenntnis zu spät?

Selbst zu Beginn der großen Flüchtlingsbewegungen vergangenes Jahr hat kein politisch Verantwortlicher – und übrigens auch nur ein kleinerer Teil der Bürger – gesagt: Alle die hierher kommen wollen, sollen kommen. Den Allermeisten war doch von Anfang an klar: Wir bewegen uns zwischen dem Wunsch, möglichst vielen Schutzsuchenden zu helfen, und dem Wissen, dass wir einen Teil der Männer und Frauen, die nach Deutschland kommen, auch wieder zurückschicken müssen. Übrigens: Dass viele Politiker und auch Medien versucht haben, ein menschliches Bild von Deutschland zu zeigen, finde ich nicht kritikwürdig.

Eine EU mit Bulgarien, Rumänien als Mitgliedern und Albanien als Anwärter – aber ohne Großbritannien, ist das noch die EU, der sich Deutschland verpflichtet fühlt?

Aber selbstverständlich. Dieses Nachkriegsdeutschland ist dazu bestimmt, europäisch zu sein. Wir, die wir so viel Feindschaft, Verderben und Vernichtung in diesen Kontinent hineingetragen haben, sind die geborenen Europäer. Dass wir heute trotz dieser Vergangenheit in einem modernen, reichen Land leben, das ist auch Verpflichtung, für Frieden und Wohlstand vor allem auf unserem Kontinent einzutreten.

Laufen wir Gefahr, mit unserem europäischen Eifer in eine Dominanz-Rolle zu verfallen, die unseren Nachbarn übel aufstößt?

Da müssen wir in der Tat sehr vorsichtig sein. Es ist gut, dass bei uns Moral und Politik nicht weit auseinanderklaffen. Das wäre aber kein Grund, anderen Ländern als Oberlehrer zu begegnen – und ich finde auch, dass man uns nicht vorwerfen kann, wir täten das.

Ist es falsch, wenn sich Länder wie etwa die Slowakei oder Ungarn gegen das multikulturelle Modell der Gesellschaft aussprechen?

Wir haben uns in der EU auf eine gemeinsame Wertebasis und Rechtsordnung geeinigt, an der sich alle Mitglieder orientieren müssen. Aber natürlich machen unterschiedliche Staaten ihre Politik auf der Grundlage unterschiedlicher Erfahrungen, Kulturen, Traditionen, überhaupt Prägungen. Jedes Land sollte – solange es sich an rechtliche Verpflichtungen etwa beim Umgang mit Flüchtlingen hält und solange es die Aufnahme von Schutzsuchenden nicht einfach anderen Ländern überlässt – ausloten, zu welchem Grad an Integration es fähig und willens ist. Im Idealfall sind alle Menschen Weltbürger; in der Realität sind sie es nicht, jedenfalls nicht alle. Wir hätten im Sinne Europas wenig gewonnen, wenn die einen Länder den anderen Ländern vorschreiben würden: So hat Euer Verständnis von Gesellschaft auszusehen. Aber wenn ich mich in der deutschen Politik umschaue, dann kann ich auch nicht erkennen, dass jemand sich das anmaßt.

Früher blieben die Unzufriedenen am Wahltag zu Hause. Heute holen radikale Parteien die Nichtwähler aus ihrer Apathie. Wir erleben mehr Demokratie, aber zum Schaden des gesellschaftlichen Klimas. Was tun?

Niedrige Wahlbeteiligung ist für die Demokratie ein großes Problem. Umso wichtiger ist es, dass verantwortungsvolle Politiker sich gerade auch um diejenigen bemühen, die sich abgehängt oder missverstanden fühlen.

Herr Bundespräsident, Sie werden 2017 aus dem Amt scheiden. Worauf freuen Sie sich als Bürger Gauck am meisten?

(lacht) Erst einmal freue ich mich darauf, dass ich einfach mal entspannt die Dinge angehen kann, die in den letzten Jahren zu kurz gekommen sind: Familie, Freunde, beiseite gelegte Bücher, meine mecklenburgische Heimat … Allerdings freue ich mich auch auf die nächsten beziehungsweise letzten Monate im Amt. Da warten noch schöne Aufgaben auf mich – und ich auf sie.

Die Fragen stellten: Tanit Koch und Ralf Schuler