Interview mit dem Berliner Medien Service

Schwerpunktthema: Interview

22. September 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Berliner Medien Service, zu dem 19 Regionalzeitungen gehören, ein Interview gegeben, das am 22. September erschienen ist. Darin heißt es: "Ich wünsche mir noch mehr Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, ein noch größeres Bewusstsein dafür, dass aus einem einst so tief gefallenen Land wie unserem so etwas Wunderbares wie diese lebendige Demokratie geworden ist."

Bundespräsident Joachim Gauck beim Interview mit dem Journalisten Werner Kolhoff von dem Berliner Medien Service (19 Regionalzeitungen) im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Berliner Medien Service, zu dem 19 Regionalzeitungen gehören, ein Interview gegeben, das am 22. September erschienen ist.

Herr Bundespräsident, in Ihrer Antrittsrede vor viereinhalb Jahren bezeichneten Sie Deutschland als Land des Demokratiewunders. Würden Sie das heute auch noch so sagen?

Man kann sich die Dinge zwar immer noch schöner wünschen. Aber der Satz gilt. Denn verglichen mit etlichen anderen Teilen der Welt sind Rechtsstaat und Demokratie hierzulande sehr gut verankert. Allerdings geht derzeit die eine oder andere Angstwelle durchs Land. Und es gibt Menschen, die mit diesen Ängsten einigermaßen erfolgreich Politik machen.

Sie haben damals auch gesagt, anders als zu Weimarer Zeiten verfüge Deutschland heute über genug Demokraten. Macht es Ihnen Sorgen, dass immer mehr Menschen abdriften?

Wenn Sie mit abdriften meinen, dass sie der etablierten Politik nicht mehr trauen – das nehme ich zwar ernst und es besorgt mich auch. Aber hoffnungslos macht es mich nicht. Ich bin im Krieg geboren und habe Jahrzehnte in der kommunistischen Diktatur gelebt. Auch aus dieser Erfahrung heraus werde ich nicht nur immer ein Bewunderer dieser Demokratie und dieses Rechtsstaates sein. Ich halte beide auch für sehr stabil. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass wir von reaktionären oder völkischen Anwandlungen verschont geblieben wären. Aber wie überall in Europa gibt es auch hier derzeit Strömungen, die die Sorgen der Menschen in eine rückwärtsgewandte Politik umzumünzen versuchen.

Diese Entwicklung gibt es nicht nur in Europa, wenn man sich den amerikanischen Wahlkampf anschaut.

Das, was ich derzeit beim Blick in die USA sehe, erfüllt mich mit Sorgen. Was wir dort, wie auch in Teilen Europas und Deutschlands beobachten, hat der Philosoph Erich Fromm einst als Furcht vor der Freiheit beschrieben. Er wollte ausdrücken: Unsere Freiheit wird größer und damit wächst auch die Verantwortung, zu gestalten. Es gibt nun zwei Sorten von Politikern. Die einen schüren aus Machtkalkül die Angst von Bürgern vor dieser gewachsenen Verantwortung. Die anderen ermutigen die Bürger: Übernehmt Verantwortung, dann kriegt Ihr ganz viel hin.

Sie kommen politisch aus der Wendezeit 1989. Damals machte Europa, ja fast die ganze Welt einen Sprung nach vorn. Mehr Freiheit, mehr Demokratie, mehr Austausch. Geht es jetzt gerade ebenso sprunghaft rückwärts?

1989 hat in Mittel- und Osteuropa der Gedanke, die lange entbehrte Freiheit zu bekommen, sehr machtvoll gewirkt und viele Menschen mitgenommen. Aber dann die freiheitliche Gesellschaft zu gestalten, mit den Mühen der Ebene klar zu kommen, ist natürlich schwierig. Manche Menschen wachsen daran, andere verzagen. Wenn man das als Politiker weiß, aber trotzdem vor allem Ängste anspricht, dann ist das nicht verantwortungsvoll. Es ist Populismus pur.

Der hat mit den Flüchtlingen sein Thema gefunden. Sie selbst haben gesagt: Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich…

… was eine Selbstverständlichkeit ausdrückt: Dass wir Menschen in Not Zuflucht gewähren wollen, aber nicht alle, die kommen möchten, aufnehmen können. Und: Anders als manche Stimmen im Streit um die Flüchtlingspolitik glauben machen wollen, geschieht das auch nicht. Deutschland nimmt zwar – weil es unseren rechtlichen Verpflichtungen entspricht und ein Gebot der Humanität ist – weiterhin Menschen auf. Gleichzeitig schränkt die Regierung den Zuzug hierher ein. Wer das in der öffentlichen Debatte um die Flüchtlingspolitik ignoriert, wer unterschlägt, dass die Zahl der Asylsuchenden stark gesunken ist, wer ausblendet, dass Verantwortliche tagtäglich intensiv an der Lösung von Problemen arbeiten, der fördert nicht nur das Misstrauen in die Politik. Er heizt auch die Stimmung eines Teils der Bevölkerung gegen Flüchtlinge an. Und er trägt dazu bei, dass das gesellschaftliche Klima insgesamt rauer wird.

Sie waren vor einiger Zeit in Bautzen und sind dort von rechtsgerichteten Bürgern übelst beschimpft und beleidigt worden. Waren Sie geschockt?

Es war unappetitlich – aber es hat mich nicht überrascht. Und es hat mir keineswegs den Blick darauf verstellt, dass die meisten Menschen dort mir freundlich begegnet sind.

Bautzen war gerade wieder in den Schlagzeilen, weil es dort Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und Rechten gegeben hatte. Läuft die Lage mancherorts aus dem Ruder?

Sie läuft dort aus dem Ruder, wo Recht und Gesetz – von wem auch immer – massiv missachtet werden. Das darf sich nicht wiederholen.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum der Verdruss im Osten offenbar größer ist als in den alten Bundesländern?

Das Thema beschäftigt mich seit 1992, als die Partei, die in die Fußstapfen der ehemaligen Unterdrückerpartei SED getreten ist, viel Zustimmung erhielt, obwohl ja eigentlich kaum jemand zurück wollte zum DDR-System. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass ein Teil dieser Zustimmung nicht ideologisch motiviert war. Sie speiste sich bei einem Teil der Menschen aus dem Gefühl, in und mit der Freiheit überfordert zu sein. Anders ausgedrückt: Es steckte die Furcht vor der neuen, unvertrauten Lebensform dahinter, die mehr Eigenverantwortung forderte. Es gibt keine Charaktermauer in Deutschland. Aber es gab sehr unterschiedliche soziale Trainingsmöglichkeiten von Menschen in Ost und West. In der Freiheit hat man die Wahl – und lernt, damit umzugehen. In der Diktatur bekommt man etwas vorgesetzt – und muss sich erst mal daran gewöhnen, wenn da oben keine Kraft mehr ist, die bestimmt, wo es langgeht. Außerdem hat der Osten sehr viel weniger Erfahrung mit der offenen Gesellschaft von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Religion.

26 Jahre nach der Wiedervereinigung könnte man trotzdem weiter sein.

Das wäre zwar wünschenswert. Aber man muss nüchtern analysieren, dass nach 1989 zwar nicht die Mehrheit aber ein Teil der Ostdeutschen sich im wiedervereinigten, weltoffenen Deutschland fremd gefühlt hat. Damals haben sich manche dieser Menschen aus Protest gegen das sogenannte Establishment nach links gewendet. Heute orientiert sich ein Teil genau dieser Männer und Frauen nach ganz rechts.

Sie haben mal vom dunklen und vom hellen Deutschland gesprochen. Das haben viele im Osten als Attacke empfunden.

Das war aber nicht geographisch gemeint. Es war eine Metapher für den Unterschied zwischen Vertretern einer offenen, hilfsbereiten Gesellschaft und Menschen, die sich abschotten und fremdenfeindlich verhalten.

Die Volksparteien sind in der Krise, bald könnte es nur noch Dreier- oder Vierer-Koalitionen geben. Droht Deutschland politisch instabil zu werden?

Trotz so mancher Wahlergebnisse in den letzten Jahren: Ich teile diese Sorge nicht. Die Parteien werden sich, gerade weil einige von ihnen es derzeit schwer haben, in manchen Bereichen neu aufstellen. Sie werden beispielsweise noch intensiver kommunizieren müssen, was ihre zentralen Inhalte sind und wie sie sie in praktische Politik umsetzen wollen.

Woher rührt Ihre Gelassenheit?

Nach wie vor sehe ich in Deutschland nicht die antidemokratischen Mehrheiten, auf die einige Reaktionäre hoffen. Ich sehe eher ein diffuses Unbehagen, das von populistischen Bewegungen aufgenommen wird. Aber sie werden sich die Zähne ausbeißen an der deutschen Demokratie. Sie werden nicht gewinnen. Deshalb warne ich davor, wenn Parteien des demokratischen Spektrums so tun, als könne man die Republik nur dann in sicheres Fahrwasser bringen, wenn man die Angstmache einer Minderheit ins Zentrum der Politik rückt. Das kann nicht gut gehen.

Was erwarten Sie konkret?

Ich erwarte noch mehr Mut bei denen, die dieses Land in eine Verfassung gebracht haben, die überall auf der Welt vorzeigbar ist. Wenn Menschen in der Welt von einem Staat träumen, in dem möglichst viele Bürger möglichst gleiche Rechte haben und auch viele Chancen, dann träumen sie nicht mehr nur von den USA, sondern immer öfter von Ländern wie Schweden oder Deutschland. Darüber kann man sich nicht nur freuen – man kann es auch selbstbewusst gegen die vertreten, die so tun, als wüchsen uns die Probleme über den Kopf.

Idealisieren Sie da nicht zu stark? Neben dem Flüchtlingszustrom und dem Terrorismus steht bei vielen die wachsende soziale Kluft ganz oben auf der Sorgenliste.

Gewiss, es gibt Probleme, die wir noch entschiedener anpacken müssen. Ein Beispiel: Dass junge Menschen aus sozial schwachen Familien es bei der Bildung schwerer haben als ihre Altersgenossen aus gutsituierten Familien, dürfen wir nicht einfach hinnehmen. Trotz dieser Missstände sollten wir aber sehen, dass es Deutschland insgesamt verglichen mit den allermeisten anderen Ländern ziemlich gut geht. Und damit ist nicht nur unser Wohlstand gemeint sondern auch die Tatsache, dass hier Frieden und Freiheit herrschen. Das, finde ich, könnten wir alle uns ruhig häufiger bewusst machen.

Müssen die Guten sich nur entschlossener und lauter melden?

Ich würde nicht von den Guten sondern den Unverdrossenen oder den Mutigen sprechen. Sie sollten den Mut haben, immer wieder daran zu erinnern, dass dieses Land in den vergangenen Jahrzehnten einige ernsthafte Krisen unterm Strich sehr gut bewältigt hat. Und sie, besser noch, wir alle, sollten den Mut haben, daraus folgenden Schluss zu ziehen: Trotz der Probleme, die die Aufnahme und Integration der vielen Flüchtlinge unbestreitbar mit sich bringen, haben wir die Kraft, diese Herausforderung zu meistern.

Geben Sie ihr Amt in sechs Monaten mit einem guten Gefühl ab?

Ja, weil Deutschland stabil ist. Und es kann sich auf einen neuen Bundespräsidenten oder eine neue Bundespräsidentin freuen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft unseres Landes?

Ich wünsche mir noch mehr Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, ein noch größeres Bewusstsein dafür, dass aus einem einst so tief gefallenen Land wie unserem so etwas Wunderbares wie diese lebendige Demokratie geworden ist.

Und was braucht dieses Land weniger?

Weniger Furcht; Furcht vor Veränderung, etwa.

Was machen Sie, wenn Sie ab dem nächsten Frühjahr nicht mehr Bundespräsident, sondern wieder der Bürger Gauck sind?

Erst mal lege ich eine Verschnaufpause ein. Diejenigen, die mich kennen, argwöhnen allerdings, dass diese Phase nicht besonders lang sein wird. Ich möchte ein Bürger sein, der sich auch im fortgeschrittenen Alter engagiert. In welcher Form, das weiß ich heute noch nicht so genau.

Die Fragen stellten: Werner Kolhoff, Hagen Strauß und Stefan Vetter.