Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd)

Schwerpunktthema: Interview

14. Oktober 2016

Der Bundespräsident hat dem Evangelischen Pressedienst ein Interview gegeben, das am 14. Oktober erschienen ist. Darin heißt es: "Wir – also alle politisch Verantwortlichen, aber auch jeder Bürger, dem ein friedliches und zivilisiertes Miteinander am Herzen liegt – müssen den Leuten sagen: Schaut Eure Ängste an und schaut die Realität an und vergleicht beides. Außerdem dürfen die Menschen nicht unter sich bleiben mit ihrer Furcht vor Veränderung, vor dem Risiko und vor dem Fremden."

Bundespräsident Joachim Gauck beim Gespräch mit Corinna Buschow und Thomas Schiller im Amtszimmer anlässlich eines Interviews mit dem Evangelischen Pressedienst (epd)

Bundespräsident Joachim Gauck hat dem Evangelischen Pressedienst (epd) ein Interview gegeben, das am 14. Oktober veröffentlicht wurde.

Herr Bundespräsident, am 31. Oktober wird das Jubiläumsjahr zur Feier des 500. Reformationsjubiläums festlich eröffnet. Sie waren selbst evangelischer Pfarrer. Was fasziniert Sie an Luther?

Angefangen hat es mit dem Choral Ein feste Burg ist unser Gott. Schon als relativ kleiner Junge, geboren im Krieg und als Schüler in der DDR-Diktatur, erlebte ich, wie eine ganze Gesellschaft aus Angst Anpassungsmechanismen entwickelte und ihre Knie beugte vor den Herren dieser Welt. Und dann lernte ich in der Christenlehre: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen, er hilft uns frei aus aller Not – das war stark. Es vermittelte Selbstvertrauen gegenüber den gleichen Herren dieser Welt. So kam, lange bevor ich mich theologisch mit der Rolle Martin Luthers befasst habe, eine frühe Prägung einfach durch einen Choral aus dem Gesangbuch. So etwas lagert sich tief ein in der Seele eines Menschen.

Luther war ein Kind seiner Zeit, heute steht sein Verhältnis zur Obrigkeit in der Kritik, erst Recht seine antisemitischen Äußerungen. Kann der Reformator dennoch als Vorbild gelten?

Luther hat einen Epochenwandel hin zur Moderne angestoßen – ich denke schon, dass er Vorbild sein kann. Auch wenn uns antijudaistische oder gar antisemitische Haltungen bestürzen und wir sie strikt ablehnen: Wir sollten historische Figuren in ihrer Zeit und vor allem in deren Denkmustern sehen und verstehen. Luther hatte zum Beispiel einen Zug seiner Zeit an sich, der als Grobianismus bezeichnet wird. Den wendet er überall an. Und da ist er nicht der einzige, wenn wir Literatur und Predigten aus diesen Jahren anschauen. Wichtig bleibt dennoch, dass die Evangelische Kirche in Deutschland die Augen nicht vor den Fehlern und Verstrickungen der Reformatoren und der reformatorischen Kirchen verschließt und auch die unselige Wirkungsgeschichte aus dem Schatten ins Licht geholt worden ist.

Worin besteht Luthers Leistung?

Luther hat eine welthistorische Leistung vollbracht. So ein mittelalterlich geformter Christ, noch geprägt von der Furcht vor dem Teufel, entwickelt Schritt für Schritt eine Sicht auf den einzelnen Menschen, die mit einem ganzen Weltbild bricht. Das ist eigentlich der Beginn der Moderne. Er rückt die Rolle des Individuums ins Zentrum. Auch seine Idee des Priestertums aller Gläubigen ist ein unglaublicher Protest gegen eine Jahrhunderte lang fest gefügte Institution und gegen kirchliche Obrigkeit. Er hat damit den Weg zur Idee der Würde jedes einzelnen Menschen gebahnt.

Ist Luthers Prinzip von der Freiheit eines Christenmenschen, der niemandem und zugleich jedermann untertan sein soll, eine brauchbare Leitschnur für Politiker?

Luthers Schriften kann man sicher nicht eins zu eins in politisches Handeln übersetzen. Wir sollten vor allem sehen, dass Politik heute Wertvorstellungen hat, nach denen sie handelt und so die kleinen Schritte zum Besseren gestaltet. Und hier kann Luthers Verständnis von der Freiheit, die eben nicht nur Freiheit von etwas, sondern vor allem Freiheit zu etwas ist, sicher als Orientierung dienen.

Erleben wir derzeit eine Zunahme des Destruktiven in unserer Gesellschaft?

Auch wenn wir das als Phase derzeit erleben und sehr ernst nehmen müssen: Der Blick in unsere Geschichte kann uns etwas gelassener sein lassen, als wir es manchmal sind. Denken wir an die frühen Auseinandersetzungen in der alten Bundesrepublik, an den Streit um die Wiederbewaffnung, die Westbindung, die schlimmen Zeiten des RAF-Terrorismus. Das war teilweise beunruhigender und bedrückender als die gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Land heute.

Und wo stehen wir heute?

Wir befinden uns in einer Zeit, in der allzu oft Anstandsregeln und Respekt missachtet werden, dem Andersdenkenden nicht mit dem Argument begegnet wird, sondern teilweise mit Bosheit und Hass. Die dahinterliegende Wut passt aber so gar nicht zu den Verhältnissen, in denen wir heute leben: Zu der Rechtssicherheit, zu unseren stabilen Institutionen, zu der sozialen Sicherheit, zu Demokratie und der Freiheit jedes einzelnen – so wie wir es niemals zuvor in Deutschland hatten.

Warum wird das von manchen nicht erkannt?

Auch weil einige Bürger mit der offenen Gesellschaft hadern. Der Mensch traut sich das Lebensprinzip von Freiheit und Verantwortung nicht unbedingt immer zu. Das äußert sich jetzt als Furcht vor den Veränderungen der Moderne oder als Furcht vor der Unübersichtlichkeit in einem vereinigten Europa und einer globalisierten Welt. Diese Furcht mag nicht immer rational sein, aber viele Menschen empfinden so.

Wie soll man damit umgehen?

Wir – also alle politisch Verantwortlichen, aber auch jeder Bürger, dem ein friedliches und zivilisiertes Miteinander am Herzen liegt – müssen den Leuten sagen: Schaut Eure Ängste an und schaut die Realität an und vergleicht beides. Außerdem dürfen die Menschen nicht unter sich bleiben mit ihrer Furcht vor Veränderung, vor dem Risiko und vor dem Fremden. Sonst kommt es zu den Prozessen einer sich steigernden inneren Erregung, vor allem auch durch die sozialen Medien. Das bricht dann irgendwann heraus und explodiert.

Ein Motto Ihres Vorgängers Johannes Rau hieß Versöhnen statt spalten. Aber was tun mit Menschen, die unversöhnlich sind?

Wenn Leute hasserfüllt und aggressiv zum Ausdruck bringen, dass Politiker ganz generell Abschaum sind – so wie ich das am Tag der Deutschen Einheit in Dresden erlebt habe – , dann ist die Kultur des Diskurses verlassen. Bei aller Dialogbereitschaft ist da eine Grenze erreicht.

Wo verläuft diese Grenze?

Diejenigen, die unzufrieden sind mit der Politik, sollten keinesfalls automatisch abgestempelt werden. Und denen, die sprechen wollen und Argumente benutzen, sollte jede Brücke gebaut werden. Aber nicht denjenigen, die mit Hass oder Wut oder sogar mit Straftaten auf eine Gesellschaft und ihre politischen Vertreter reagieren, die von der ganz breiten Mehrheit der Bevölkerung so gewollt und so gewählt wurden. Ihnen sollte jeder von uns, jeder an seinem Platz, entgegenhalten: Ihr könnt hassen, soviel Ihr wollt. Dieses Deutschland werdet Ihr nicht in die Hand bekommen. Wir leben nicht in der Weimarer Zeit. Wir haben stabile Institutionen und selbstbewusste Demokraten. Das ist der große Entwicklungsschritt vom Zwischenkriegsdeutschland zu unserem heutigen Deutschland.

Sie selbst sind im Frühjahr in Bautzen heftig angepöbelt und jetzt in Dresden mit dem Ruf Volksverräter bedacht worden. Nach Paragraf 90 StGB ist das strafbar. Verfolgt wird das allerdings nur, wenn der Bundespräsident dazu ermächtigt. Bisher haben Sie sich dagegen entschieden. Warum?

Es ist recht einfach: Ich wollte diese Leute nicht adeln, indem ich sie so ernst nehme, dass ich ihnen eine Anzeige ins Haus schicke.

Der politische Diskurs wird seit Monaten polarisiert durch die Flüchtlingspolitik. Der Satz der Kanzlerin Wir schaffen das wird inzwischen häufig dahingehend relativiert, der Wille dazu sei nötig. Sehen Sie einen solchen Willen in der Mehrheit der deutschen Bevölkerung?

Wir müssen – das habe ich im vergangenen Herbst gesagt – die positive Einstellung zum Helfen zusammenbringen mit dem, was wir leisten können. Und auch die Regierung, namentlich die Bundeskanzlerin, hat vielfach klar gemacht: Wir schauen nicht nur zu, sondern wir steuern.

Wenn Integration gelingen soll, hängt das stark ab vom bürgerschaftlichen Engagement. Wie beurteilen Sie die Leistung der Zivilgesellschaft?

Zu unserem Land gehört ein Netzwerk hochengagierter Menschen. In jedem Ort dieses Landes leben Menschen, die sich nicht nur um sich kümmern, sondern um das Gemeinwesen, die freiwillig Not lindern wollen oder sozial Schwachen helfen. Für mich ist es übrigens Inspiration und Kraftquelle, diesen Menschen zu begegnen. In Deutschland gibt es ein außerordentliches Maß an Hilfsbereitschaft. Das beeindruckt mich immer wieder sehr.

Worin wurzelt diese Stärke?

Da muss man wohl ganz besonders die Demokratisierung in den westlichen Bundesländern hervorheben. In mehreren Jahrzehnten hat sich ein echtes Bürgerbewusstsein in einer Bürgergesellschaft entwickelt. Der Osten konnte diesen Prozess lange Zeit nicht durchmachen, weil er in einer formierten Gesellschaft gelebt hat. Gerade deshalb sind dort die Freiwilligen und Engagierten besonders zu loben.

Hätte es nach 1990 einer anderen Form der Erziehung zur Demokratie im Osten bedurft?

Nein, das glaube ich nicht – in der Zeit des Übergangs nahmen viele Menschen Plätze ein, die ihnen vorher verschlossen waren: Sie wurden Abgeordnete, Bürgermeister, Unternehmer. Andere machten sich nicht auf den auch mühsamen Weg der Demokratie. Sie waren eher geprägt von Mutlosigkeit wie es viele Seelen in der Diktatur sind. Im Osten befindet sich ein Teil der Gesellschaft noch in einem Veränderungsprozess. Wir haben zwei nicht identische politische Kulturen im wiedervereinigten Deutschland. Das wird noch eine gewisse Zeit so bleiben.

Welche Rolle spielte die Kirche bei den Entwicklungen unmittelbar vor und nach 1990?

Es war eine der großen Zeiten des deutschen Protestantismus. Im Osten hatten wir zuvor schmerzhaft erlebt, wie die Volkskirche verloren ging unter dem Einfluss der Kommunisten. Die Gemeinde, in der ich zuletzt gearbeitet habe, war eine Neubaugemeinde in Rostock ohne eigene Kirche oder Pfarrhaus, ohne gewachsene Strukturen. Die Kirche in der DDR war eine Minderheitenkirche. Davon sind im ganzen Land aber machtvolle Impulse ausgegangen für die Veränderung der Gesellschaft bis hin zur Friedlichen Revolution 1989. In den Kirchengemeinden hatten Hoffnung und Verantwortungsbereitschaft überlebt. Es gab eine Stärke von innen, auch wenn man nach außen wenig Einfluss hatte und schwach war. Diese vom Glauben getragene Fähigkeit durchzuhalten, zu erhoffen und die Phantasie für Frieden, Gerechtigkeit und Veränderung am Leben zu erhalten, wo andere längst die Segel gestrichen hatten, ist eine meiner großen menschlichen und religiösen Erfahrungen.

Welche Erwartungen haben Sie an das Reformationsjubiläum?

Für mich ist es eine Chance, dass eine moderne, suchende Gesellschaft in einer verführbaren Welt sieht, dass es mit Luther eine historische Gestalt gibt, die bei der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit hilft und Gottvertrauen schenken kann. Der altböse Feind, wie er bei ihm hieß, heißt heute Verführungsgesellschaft. Sie redet Dir ein: Kümmere Dich nur um Dich, amüsiere Dich, Konsum ist alles. Aber wir können von dieser in eine an Werten orientierte Welt wechseln. Es gibt keine Instanz, die dich zwingt, in der Banalität zu verharren. Auch dafür steht Martin Luther.

Welche Hoffnungen haben Sie auf weitere Schritte in der Ökumene, vielleicht auf ein gemeinsames Abendmahl von Katholiken und Protestanten?

Hier habe ich gelernt, meine Wünsche zu begrenzen. Die versöhnte Vielfalt ist für mich eine positive Normalvorstellung. Es gibt inzwischen bei allen Problemen, mit denen wir konfrontiert sind, so viel, was uns zusammenbringt. Da fallen die Dinge, die uns trennen, nicht mehr so sehr ins Gewicht wie früher. Und solange sich ein Teil der Christen noch kein gemeinsames Abendmahl vorstellen kann, braucht es eben noch Zeit.

In der Geschichte der Bundesrepublik waren nur zweimal Katholiken Bundespräsident, Heinrich Lübke und Christian Wulff. Ist das Präsidentenamt Protestanten leichter auf den Leib zu schneidern?

Das wage ich nicht zu beantworten. Es ist für mich unerheblich, ob meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger evangelisch oder katholisch sein wird.

Könnte es auch ein Muslim sein?

Auch das will ich für die Zukunft nicht ausschließen, genauso wenig will ich Angehörige anderer Religionen oder Nicht-Gläubige ausschließen. Aber es liegt jetzt bei den verantwortlichen Politikern und später bei der Bundesversammlung zu bewerten, wer für die Kandidatur bzw. das Amt am besten geeignet ist.

Die Fragen stellten: Corinna Buschow und Thomas Schiller.