Interview mit Spiegel Online

Schwerpunktthema: Interview

6. November 2016

Der Bundespräsident hat Spiegel Online ein Interview gegeben, das am 6. November erschienen ist. Darin heißt es: "Wenn Ankara nun den Putschversuch nutzt, um etwa die Pressefreiheit faktisch auszuhebeln, wenn es die Justiz instrumentalisiert und der Präsident die Wiedereinführung der Todesstrafe betreibt, dann werden zentrale Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates außer Kraft gesetzt, und ich frage mich: Ist diese Politik die endgültige Abkehr vom Weg in Richtung Europa?"

Bundespräsident Joachim Gauck beim Gespräch mit Florian Gathmann, Florian Harms und Roland Nelles im Amtszimmer bei einem Interview mit Spiegel Online

Bundespräsident Joachim Gauck hat Spiegel Online ein Interview gegeben, das am 6. November veröffentlicht wurde.

Herr Bundespräsident, schon in Ihrer Antrittsrede vor bald fünf Jahren haben Sie über Ängste in der Bevölkerung gesprochen – die scheinen seitdem bei vielen Deutschen noch zugenommen zu haben. Sie fürchten sich zum Beispiel vor Flüchtlingen, dem Islam oder einem Konflikt mit Russland. Warum haben so viele Menschen Angst, obwohl es dem Land so gut geht wie nie zuvor?

Einer der Gründe mag sein: Wenn man sich daran gewöhnt hat, dass existenzielle Bedrohungen normalerweise nicht mehr zum Leben gehören, macht zuweilen eben anderes Angst. Zum Menschen gehören Ängste – zu uns Deutschen manchmal in besonderem Maße. Deshalb ist es umso wichtiger, genau hinzuschauen und sich zu fragen: Wie dünn ist das Brett wirklich, auf dem man steht?

Offenbar dünner als zuvor, oder warum hat die Angst sonst in den vergangenen drei, vier Jahren so stark zugenommen?

Zunächst einmal: Die tatsächlichen oder angenommenen Fehler von verantwortlichen Politikern sind nicht dergestalt, dass das Maß der Ängste gerechtfertigt wäre. Außerdem glaube ich, diese unterschiedlichen Ängste haben unterschiedliche Ursachen. Einen Teil der Menschen verunsichert ganz allgemein die offene Gesellschaft – sie bedeutet ja nicht nur Freiheit, sondern verlangt uns auch ab, Verantwortung zu übernehmen, uns selbst und anderen Orientierung zu geben. Manche Menschen fürchten sich vor dem, was die Globalisierung mit sich bringt. Andere sorgen sich, dass wir Deutschen in einem vereinigten Europa unsere Identität verlieren. Und dann gibt es da noch die Angst, dass unser Land mit der Aufnahme vieler Flüchtlinge überfordert sein könnte. Ich meine, die politisch Verantwortlichen und auch die Bürger müssen sich zwar mit diesen Ängsten auseinandersetzen. Aber dabei sollte die alte Regel gelten: Vor der Wahrheit kommt die Wahrnehmung. Dann gelangt man zu dem Schluss, dass unser Land, seine Institutionen, seine Gesellschaft stark genug sind, diese Herausforderungen zu meistern.

Wie meinen Sie das?

Deutschland steht so gut da wie nie zuvor in seiner Geschichte. Der Rechtsstaat ist sicher, Wohlstand weit verbreitet, ein funktionierender Sozialstaat existiert, ebenso bedeutende kulturelle Vielfalt. Dazu leben wir in dauerhaftem Frieden mit unseren Nachbarn. Unzählige Menschen aus aller Welt würden gerne mit uns tauschen. Das alles ist manchen Bürgern aber offenbar nicht so richtig bewusst. Und es fehlt ihnen an Zuversicht.

Als Bundespräsident sind Sie quasi zur Zuversicht verpflichtet.

Das ist keine Frage des Pflichtgefühls. Ich schaue mich um und sehe ein Deutschland, das trotz mancher Probleme und Missstände im Vergleich zu den allermeisten Regionen dieser Welt gut dasteht und dessen Bevölkerung es im Vergleich zu vielen Menschen anderswo gut geht. Trotzdem ist das Lebensgefühl eines Teils der Bürger – und darunter durchaus nicht nur solche in prekären Verhältnissen – geprägt von Ängsten. Dieses Missverhältnis macht mir Sorgen.

Es gibt politische Bewegungen, die sehr erfolgreich darin sind, vorhandene Ängste auszunutzen. Die AfD feiert Erfolge. Wie sehr besorgt sie das Erstarken solcher Kräfte?

Ganz abgesehen von einzelnen, konkreten Parteien gilt: Personen und Bewegungen, die es nötig haben, mit Ängsten zu spielen, sind inhaltlich eher schwach. Und hier, also bei den Inhalten, muss man diese Strömungen im politischen Diskurs stellen. Das gelingt besonders, indem man die positiven Kräfte in der Gesellschaft stärkt und sich entschlossen und selbstbewusst mit populistischen Parolen auseinandersetzt.

Die AfD-Vorsitzende Frauke Petry wünscht sich, dass der Begriff völkisch wieder positiv besetzt wird, Alexander Gauland nennt Kanzlerin Angela Merkel eine Kanzlerdiktatorin. Was denken Sie bei solchen Aussagen?

Ganz grundsätzlich ist es doch so: Bei aller Leidenschaft für möglichst offene Debatten dürfen wir nicht vergessen, wie sehr unsere Geschichte auch mit einem vergifteten Vokabular verbunden ist. Das lässt sich nicht einfach wegwischen. So zu tun, als könne man dieses Vokabular einfach neu verwenden, ist höchst problematisch – und lauter Widerspruch wichtig.

Angst schlägt teilweise auch in Hass um, die Sprache verroht, beispielsweise in Internet-Foren oder bei Facebook. Nehmen Sie das auch so wahr?

Ja, das tue ich. Meine Eltern haben einiges an Mühe unternommen, mich anständig zu erziehen. Und so macht es mich mitunter fassungslos, wie manche Menschen andere Menschen beschimpfen. Natürlich haben sie das auch schon früher getan. Aber nun geschieht es auch noch vor aller Augen, der Ton wird, so scheint mir, immer rauer. Das Internet bringt viel Gutes mit sich – beispielsweise die Demokratisierung des Diskurses. Aber es bedeutet unter anderem auch, dass ein Teil der Nutzer Hass ungehemmt auslebt, dass er andere, oft im Schutz der Anonymität, öffentlich diffamiert, gegen sie hetzt, sie bedroht. Das finde ich furchtbar.

Auch Sie selbst sind Zielscheibe dieses Hasses. Wie gehen Sie mit solchen Kommentaren um?

Ich lese Post von Bürgern, die wirklich etwas wissen wollen oder die ernsthaft etwas umtreibt. Reine Hasskommentare lese ich nicht. Und ich lebe ganz gut damit.

Aber woher wissen Sie dann, was da alles geschrieben wird?

Ich bekomme entsprechende Zusammenfassungen oder Auswertungen. Aber ich sitze ganz bestimmt nicht jeden Abend da und gucke im Internet nach, wer mich jetzt schon wieder beschimpft. Deutsche meines Alters und noch Ältere haben erlebt, wie Hass zu Staatspolitik geworden ist. Und das ist der Unterschied zu heute: Wer derart hasst, wird in diesem Land mit seiner großen, großen Mehrheit friedfertiger, zivilisierter Bürger nicht die Mehrheit erringen. Da bin ich mir sehr sicher. Manchmal hilft auch ein Stück Gelassenheit; wir sollten die Hassenden nicht mit unserer Angst beschenken.

Aber braucht es nicht auch ein Regelwerk, beispielsweise bei Facebook? Bisher kann dort quasi jeder schreiben, was er will.

Ich finde es richtig, dass Politik und Zivilgesellschaft darüber diskutieren, wie man der Hass-Sprache im Internet künftig effektiver beikommen kann als bisher – auch wenn ich weiß, dass das juristisch nicht einfach ist und dass diese widerwärtigen Ausfälle sich nie vollständig aus dem Netz werden verbannen lassen.

Ein Thema, das die Deutschen sehr bewegt, ist der Konflikt in Syrien und das Verhältnis zu Russland – auch da gibt es viele Ängste. Sie haben den russischen Präsidenten Putin immer sehr kritisch gesehen, fühlen Sie sich in Ihrer Ansicht bestätigt?

Sagen wir: Es überrascht mich nicht. Trotzdem dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass der Dialog mit Moskau etwa über die Ukraine oder Syrien irgendwann Früchte trägt. Ich unterstütze die deeskalierende Politik der deutschen Bundesregierung. Sie fordert uns zwar Mühe und viel Geduld ab, weil wir es mit einem Gegenüber zu tun haben, das immer wieder Recht bricht und militärisches Eingreifen als normales Mittel der Politik begreift. Trotzdem müssen wir miteinander im Gespräch bleiben – ohne dabei von vornherein auszuschließen, dass es, wenn dieses Gespräch fruchtlos bleibt, weitere Sanktionen geben könnte.

Sie meinen, weil Putin am Ende nur die Sprache der Härte versteht?

Für den Fall, dass Verhandlungen über ein Ende der Gewalt dauerhaft keinen Erfolg haben sollten, wird wohl auch das Thema weitere Sanktionen auf dem Tisch bleiben.

In der Türkei hat Deutschland ebenfalls ein schwieriges Gegenüber, Präsident Erdoğan schränkt massiv die Pressefreiheit ein. Wie beurteilen Sie das aktuelle Vorgehen der türkischen Behörden gegen die regierungskritische Zeitung Cumhuriyet und andere Medien?

Was ich derzeit in der Türkei beobachte, bestürzt mich. Noch vor einigen Jahren hatte die Regierung vielversprechende Schritte unternommen: Es gab etwa den Beginn einer inneren Aussöhnung mit den Kurden. Das Land hat sehr viele Flüchtlinge aufgenommen; es ist ein wichtiges Nato-Mitglied, es könnte ein stabilisierendes Element in dieser schwierigen Region sein. Aber wenn Ankara nun den Putschversuch nutzt, um etwa die Pressefreiheit faktisch auszuhebeln, wenn es die Justiz instrumentalisiert und der Präsident die Wiedereinführung der Todesstrafe betreibt, dann werden zentrale Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaates außer Kraft gesetzt, und ich frage mich: Ist diese Politik die endgültige Abkehr vom Weg in Richtung Europa?

Ist sie das?

Jedenfalls bedeutet sie für alle davon Betroffenen eine Eskalation, die die Europäer nicht unbeantwortet lassen können. Es geht jetzt darum, der Türkei klar zu sagen: Ja, wir wollen zwar mit Euch zusammenarbeiten, aber Zusammenarbeit kann nicht den Verzicht auf Kritik bedeuten. Ja, Ihr seid uns in Europa zwar willkommen, aber nicht unter diesen Bedingungen.

Es gibt ein Albtraum-Szenario: Nach der US-Wahl am Dienstag haben wir es nicht mehr nur mit den Autokraten Putin und Erdoğan zu tun, sondern auch noch mit einem amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Wie sehr fürchten Sie sich davor, dass er tatsächlich die Wahl gewinnt?

Beim Blick nach Washington bin ich besorgt. Und ich hoffe, dass die US-amerikanische Demokratie, die ja den Präsidenten nicht zum Autokraten macht, dass das System der checks and balances, der gegenseitigen Kontrolle, der eingehegten Macht auch künftig tragen wird. Aber jetzt warten wir erst einmal die Entscheidung der amerikanischen Wähler ab.

Aber Donald Trump ist ein Populist, ein Rassist, ein Mann, der offenbar Frauen verachtet. Viele Menschen sind sich sicher: Wenn er ins Präsidentenamt käme, hätten wir sogar schlimmeres zu erwarten als unter einem Präsidenten George W. Bush.

Was uns unter anderem Sorgen machen muss, ist seine Unberechenbarkeit. Wir können nicht sagen, was von einem Präsidenten Donald Trump zu erwarten wäre. Das halte ich – zusammen mit vielen Menschen in den USA und bei uns – für ein Problem.

Sie haben im Juni Ihren Verzicht auf eine zweite Amtszeit verkündet. Jetzt ist es November, und es gibt immer noch keinen Nachfolger. Überrascht Sie das?

Da ich ein bisschen daran teilnehme, was Sie und ihre Kollegen über die Präsidentensuche schreiben, überrascht es mich nicht.

Aus welchem Holz müsste Ihr Nachfolger oder Ihre Nachfolgerin geschnitzt sein?

Das Holz sollte nicht zu hart und nicht zu weich sein. Anders ausgedrückt: Eine Mischung aus Demut und Selbstbewusstsein ist hilfreich. Wie auch immer: Ich für meinen Teil nehme es, wie es kommt. Und es wird gut kommen.

Die Fragen stellten: Florian Gathmann, Florian Harms und Roland Nelles