Interview mit der Welt am Sonntag

Schwerpunktthema: Interview

27. November 2016

Bundespräsident Joachim Gauck hat der Welt am Sonntag ein Interview gegeben, das am 27. November veröffentlicht wurde. Darin heißt es: "Wir haben mit der Europäischen Union ein großartiges Konzept entwickelt. Ein Friedensprojekt, von dem Generationen vor uns nicht mal zu träumen wagten. Aber auf dem Weg zu einer immer engeren Vereinigung waren wir manchmal so schnell, dass nicht alle Bürger mitkommen konnten oder wollten."

Bundespräsident Joachim Gauck beim Gespräch mit Claudia Kade, Ulf Poschardt und Beat Balzli im Amtszimmer bei einem Interview mit der Welt am Sonntag

Bundespräsident Joachim Gauck hat der Welt am Sonntag ein Interview gegeben, das am 27. November veröffentlicht wurde.

Herr Gauck, hat Sie die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten überrascht?

Unter anderem hat mich überrascht, dass die Welt kurz nach der Wahl einen USA-Korrespondenten unter der Überschrift zu Wort kommen ließ: Warum sah ich Trumps Sieg nicht kommen? Das war eine gute journalistische Reaktion. Denn der Artikel hat ungewohnt offen eingeräumt, wie groß die Verunsicherung in Teilen der freiheitlichen Diskursgesellschaft ist, also bei Medien, Politik, allgemeiner gesagt, bei Intellektuellen. Mit dem Wahlerfolg von Donald Trump haben wir erlebt, wie auch diese Beobachter des politischen und gesellschaftlichen Geschehens irren können. Und wir haben zu recht gefragt, ob das Wahlergebnis nicht weniger überraschend gewesen wäre, wenn die Diskursgesellschaft im Vorfeld intensiver Kontakt zu Lebenswelten aufgenommen hätte, in denen jemand wie Donald Trump gut ankommt. Allerdings gab es schon auch Menschen, die kurz vor der Wahl das Gefühl hatten, vielleicht geht die Wahl ja doch ganz anders aus, als etwa die Umfragen nahelegen…

Waren Sie darauf eingestellt, dass Trump gewinnt?

Ich hatte mich tatsächlich darauf eingestellt, dass er gewinnen könnte.

Was hatte dafür den Ausschlag gegeben?

Dass es seine Kontrahentin schwer hatte, zu überzeugen und dass Trump seinen Stil der kalkulierten Tabubrüche beharrlich weiterverfolgt hat. Es ging oft nur noch um die eher archaische Ansage: Ich gebe den Ton an und Eure Regeln sind mir egal. Diese Herangehensweise fasziniert einen Teil der Bevölkerung – und zwar quer durch alle Schichten. Das mag vielen von uns erst mal unverständlich sein, weil wir gelernt haben, der Kraft des Arguments zu vertrauen. Aber ich glaube, wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass irrationale Faktoren politikmächtig werden und dass die Kräfte aufklärerischer Politik an ihre Grenzen kommen können.

USA, Frankreich, Österreich – vielerorts stellen wir fest, dass pluralistische Demokratien in Frage gestellt werden und womöglich Leute an die Macht kommen, die ein illiberales Verständnis von Staat und Regierung haben.

Ich bin da nicht ganz so skeptisch wie Sie, unter anderem, weil ich keine wirklich zündenden Angebote dieser Bewegungen und ihrer Protagonisten sehe. Sie machen sich die Neigung in Teilen der Bevölkerung zu Nutze, einfachen Erklärungsmustern zu folgen. Hinzu kommt bei manchen Bürgern der Wunsch nach erkennbarer Führung selbst im Fall von Politikern, die es mit demokratischen Grundsätzen nicht immer so genau nehmen. Wir erleben stellenweise, wie in der Welt der Aufklärung Systeme der Gegenaufklärung politikmächtig werden können. In der Konsequenz heißt das, wir dürfen unsere Demokratie keineswegs als so selbstverständlich ansehen, dass wir uns nicht mehr für sie engagieren.

Viele Wähler wollen auch nur vernehmlich Stopp rufen.

Eben: Das sehen wir auch in Europa. Für manche Menschen ist es schwer zu akzeptieren, dass sie, etwa im Zuge der europäischen Einigung oder in einer zunehmend globalisierten Welt, in immer größeren Aktionsräumen leben sollen. Nicht jeder fühlt sich als Weltbürger. Offenbar hat das auch viele Wähler von Donald Trump beschäftigt. Sie sind, obwohl die USA etwa außerordentlich intensiv Welthandel betreiben, anfällig für isolationistische Träume. Anders ausgedrückt: Das Einverständnis von Eliten damit, dass die Welt zusammenwächst, überfordert manche Bürger. Und in Teilen der Gesellschaft ist das Bedürfnis, die Eliten abzustrafen, größer als die Bereitschaft, in thematische Debatten einzusteigen. Kluge Politik muss das aufnehmen, ohne ihre Ziele aufzugeben.

Was heißt das für Europa?

Wir haben mit der Europäischen Union ein großartiges Konzept entwickelt. Ein Friedensprojekt, von dem Generationen vor uns nicht mal zu träumen wagten. Aber auf dem Weg zu einer immer engeren Vereinigung waren wir manchmal so schnell, dass nicht alle Bürger mitkommen konnten oder wollten. Das bereitet mir Sorge. Ich glaube, es ist hilfreich, wenn wir etwa schauen, wie wir das Subsidiaritätsprinzip künftig noch stärker berücksichtigen könnten, damit auf nationaler Ebene geregelt wird, was dort geregelt werden kann. Insgesamt sollten wir über eine Pause nachdenken, in der wir diskutieren, welches Ziel wir in welchem Tempo erreichen wollen.

Sie wollen Stillstand?

Nein, nicht Stillstand, sondern Entschleunigung. Ein Innehalten, um die Zustimmung der Bürger wiederzuerlangen, die derzeit so mit der EU hadern – obwohl ein Teil von ihnen in Staaten lebt, die auch finanziell enorm von der EU profitieren. Polen zum Beispiel. Allerdings geht es nicht nur um Geld. Es geht darum, dass die Bevölkerungen der EU-Länder überzeugt davon sein sollten, dass ein vereinigtes Europa für Frieden, Freiheit, Sicherheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit steht. Die Skeptiker, auch die Misstrauischen mitzunehmen, ist eine wesentliche Aufgabe europäischer Politik. Darin sehe ich eine zentrale Verantwortung Deutschlands, denn wir sind ein sehr starker Anwalt Europas – wegen unserer Vergangenheit, wegen unserer Größe und weil wir von der EU profitieren. Wir müssen sagen: Unter den potenziellen Wählern der EU-Gegner gibt es Menschen, die wir EU-Befürworter noch erreichen können. Wir wollen nicht untergehen in einer Welle von anti-europäischem Populismus – und das werden wir auch nicht.

Die gefühlten Verlierer sehen die Vorteile der Globalisierung nicht, weil sie eher abstrakt sind, die Nachteile aber sind handfest.

Einer von vielen Gründen für das Hadern dieser Menschen mit der Globalisierung ist, dass sie sich in einer zunehmend komplexen Welt nicht richtig beheimatet fühlen. Menschen brauchen Heimat, möchten irgendwo dazugehören. Mit diesem Grundbedürfnis nach Heimat haben wir Deutsche wegen unserer Geschichte lange ziemliche Schwierigkeiten gehabt. Das hat uns manchmal vielleicht übersehen lassen, dass ein Teil der Bevölkerung sich verloren vorkommt, angesichts des rasanten, umfassenden Wandels in der globalisierten Welt. In dieser globalisierten Welt, ebenso in einem vereinigten Europa bleibt Heimat möglich: Auch mit dieser Tatsache sollten wir für die EU werben.

Trump redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und hat damit Erfolg. Muss sich die autorisierte und abgeschliffene Sprache unserer Politiker ändern?

Die Sprache der Politik ist zuweilen nur für die verständlich, die sich ohnehin sehr für Politik interessieren. Das ist einer der Gründe dafür, dass es nicht immer gelingt, alle Entscheidungen allen Menschen so zu vermitteln, wie es wünschenswert wäre. Dabei ist Kommunikation nicht nur Hilfsmittel, sondern Strukturelement. Anders ausgedrückt: Gute Kommunikation muss ein eigener politischer Wert sein. Wir müssen uns um eine Sprache bemühen, die Menschen auch emotional erreicht, die zum sachlichen Austausch einlädt – zum Beispiel über die Frage: Was macht die Europäische Union aus – abgesehen vom Geld? Wie sollen die Werte mit Leben erfüllt werden, denen sich alle Mitgliedsstaaten verpflichtet haben?

Gerade in der Flüchtlingspolitik stellt sich die Wertefrage...

...und zwar auf vielfältige Weise. Das haben wir besonders in der Flüchtlingskrise sehr deutlich gemerkt. Übrigens ist es gut, dass wir Europäer darüber diskutieren, wer welchen Beitrag leisten sollte, um angemessen mit dem Zuzug der Flüchtlinge umzugehen, und dass wir uns dabei – nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Mentalitäten – auch über flexible Lösungen austauschen.

Die Migrationsfrage spielte auch im US-Wahlkampf eine entscheidende Rolle. Welche Sorgen bereitet Ihnen der Gedanke an die bevorstehende Trump-Präsidentschaft?

Wir könnten in ein schwieriges Fahrwasser gelangen, wenn die USA tatsächlich eine Politik des Rückzugs von internationalen Handlungsfeldern verfolgen sollten. Der Gedanke daran besorgt mich zwar, allerdings hoffe ich, dass ein Präsident Trump sich da vom Wahlkämpfer Trump emanzipiert. Ich glaube übrigens, dass die künftige US-Präsidentschaft uns unter anderem mit der Tatsache konfrontiert, dass Deutschland – natürlich im multilateralen und insbesondere im europäischen Kontext – noch mehr internationale Verantwortung übernehmen muss. Ich kann mir vorstellen, dass die Ankündigung von Trump, Washington werde international künftig nicht mehr so aktiv sein, in einer Reihe europäischer Staaten die Debatte darüber verstärkt, was man selbst zur Verteidigung der westlichen Welt beiträgt.

Plädieren Sie für einen Anstieg des deutschen Verteidigungsetats?

Die operative Politik hat ja die zwei Prozent des Brutto-Inlandsprodukts zum Ziel erhoben. Das ist aus meiner Sicht sinnvoll. Wenn wir zutiefst überzeugt sind, dass die Werteordnung dieser Republik die beste ist, die wir jemals hatten, und dass diese Werte uns mit allen freiheitlichen Nationen dieser Welt verbinden, dann sollten wir etwas so Kostbares auch verteidigen wollen. Hinzu kommt: Warum sollten wir Akteuren, die das Völkerrecht für eine zu vernachlässigende Größe halten, erweiterte Handlungsspielräume zugestehen? Das würden wir nämlich tun, wenn wir uns nicht verteidigungsfähig aufstellten. Und: Wir sollten etwa dem Baltikum klar sagen, dass wir zu unseren Bündnisverpflichtungen stehen. Und das müssen wir auch demonstrieren, gerade angesichts der derzeitigen Politik Moskaus.

Riecht Putin die Schwäche des Westens? Wird er sich noch aggressiver zeigen als bisher?

Ich glaube nicht, dass er einen Krieg sucht – unter anderem, weil das sein Land in mehrfacher Hinsicht viel zu teuer zu stehen käme. Aber er nimmt selbstverständlich wahr, wenn wir nicht entschlossen genug sind, uns gegen Einflussnahme zu wehren.

Wer kann denn künftig die Rolle der Führungsmacht der freien westlichen Welt übernehmen?

Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, was passiert, wenn Amerika sich vor allem mit sich selbst beschäftigt, wenn es nicht mehr an seine Bestimmung glaubt, demokratische Selbstbestimmung weltweit zu fördern. Dann wird mehr Verantwortung auf Europa und damit auch auf Deutschland zukommen. Übrigens: In fast allen Ländern, die ich in den vergangenen vier Jahren bereist habe, wurde mir der Wunsch nach einer größeren Rolle Deutschlands in der Welt entgegengebracht. Es ist gut, wenn wir Ja sagen zu dieser Rolle und sie dann im Einklang mit unseren europäischen Bindungen leben.

Putin hat Verbindungen zu Kreisen der AfD in Deutschland und dem Front National in Frankreich, die mit Trump verbündete rechte Nachrichten-Webseite Breitbart will nach Europa expandieren. Wie müssen wir damit umgehen?

Es ist schon mehr als erstaunlich, was sich da an Bündnissen von neuen Nationalisten zeigt! Ich möchte aber nicht auf einzelne Parteien eingehen, sondern nur ganz grundsätzlich sagen: Wenn populistische Bewegungen an die Macht kommen wollen, müssen die demokratischen Parteien sich mit ihnen auseinandersetzen und den Wählern zeigen, dass die Politikangebote dieser Gruppen dürftig sind.

Ist es dafür nicht längst zu spät? In Frankreich liegt der Front National (FN) bei über 30 Prozent.

Um für demokratische Werte und eine lebendige Demokratie zu streiten, ist es nie zu spät – das gilt auch für ein Land wie Frankreich, das derzeit mit verschiedenen Schwierigkeiten kämpft. Es ist verunsichert nach den verheerenden Terroranschlägen. Und ihm macht zu schaffen, dass es mit Wirtschaftsreformen im Rückstand ist.

Ist Europa noch zu retten, wenn FN-Kandidatin Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl im Frühjahr gewinnt?

Sie meinen, ob Frankreich dann die EU verlassen würde? Das glaube ich nicht. Das könnte auch eine Frau Le Pen – wenn sie denn überhaupt die Wahl für sich entscheiden würde – nicht so ohne weiteres durchsetzen.

Anhänger von Rechtspopulisten wie Le Pen sind für Politiker angestammter Parteien kaum noch zu erreichen. Wie kommt man wieder ins Gespräch?

Patentrezepte dafür habe ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Aber ich werbe für Kommunikation, Kommunikation und noch mal Kommunikation. Mit jedem, der sich tatsächlich austauschen will, muss man sich austauschen – und das ohne jede Überheblichkeit. Es gibt Bürger, die sich nicht ernst genommen fühlen, die Angst haben, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Ihnen zuzuhören, mit ihnen zu diskutieren, auch zu streiten, ist richtig, ist wichtig. Der Streit lohnt allerdings nicht mit dem, der nur Ressentiment und Hass im Angebot hat. Dem sollten wir noch nicht mal unsere Furcht schenken.

Wäre es sinnvoll, den Bürgern mehr Gelegenheit zur direkten Mitsprache anzubieten?

Was direkte Beteiligung über Volksentscheide zumindest auf Bundesebene angeht, bin ich mittlerweile sehr skeptisch. In der repräsentativen Demokratie setzen wir auf die Arbeit von Abgeordneten, die sich oft über Jahre, systematisch mit etlichen Themen beschäftigen. Der Zufall und Stimmungen spielen hier eine eher geringe Rolle. Außerdem finde ich es problematisch, komplexe Fragen in die Entscheidung Ja oder Nein zu pressen. Übrigens kann direkte Demokratie auch deswegen problematisch sein, weil eine Minderheit so gut organisiert ist, dass sie einen viel größeren Einfluss erlangt, als sie über parlamentarische Wahlen je erreichen würde.

Diese Grundsatzfragen der Demokratie werden Sie auch als Beobachter sicher weiter verfolgen, wenn Sie im März das Schloss Bellevue verlassen. Was wird Ihnen dann am meisten fehlen?

Mir wird das fehlen, was mich auch Kraft gekostet hat: Die Intensität sehr unterschiedlicher Begegnungen. Ich freue mich einerseits auf Erholung und Entspannung. Andererseits kann es sein, dass relativ bald auch wieder die Lust aufkommt, mich von Fall zu Fall einzubringen.

Mitunter sah es so aus, als fremdelten Sie mit dem höchsten Amt im Staat...

Im ersten Jahr meiner Amtszeit habe ich mich eher unfrei gefühlt, weil ich sehr darauf bedacht war, die Grenzen des Amtes nicht zu überschreiten. Mehr und mehr geriet dann aber auch der Reichtum der Möglichkeiten in mein Blickfeld. Es klingt vielleicht ein bisschen kitschig, aber: Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Rechtstreue der Bürger zu erleben, macht mich glücklich. Und wenn Deutschland wegen seiner Verlässlichkeit und Friedfertigkeit in vielen Teilen der Erde als Rollenmodell gelobt wird, dann freue ich mich ebenfalls, bin sogar stolz. Und ich frage mich: Warum soll man den Stolz den Nationalisten überlassen? Man kann ihn auch als Europäer, als Weltbürger aus Deutschland empfinden.

Die Fragen stellten: Beat Balzli, Claudia Kade und Ulf Poschardt.