400. Jahrestag der Gründung der Deutschen Schule Stockholm

Schwerpunktthema: Rede

Stockholm/Schweden, , 4. Mai 2012

Das Aufwachsen mit einer weiteren Sprache und Kultur gibt den Schülern der deutschen Auslandsschulen einen einzigartigen Zugang zu dem Land, in dem sie leben. Gleichzeitig ermöglicht es ihnen, mehr Gewissheit über sich selbst zu erlangen: Viele von ihnen werden sich dessen, was deutsch und manchmal gerade auch nicht deutsch an ihnen ist, was ihre ganz persönliche Identität ausmacht, besonders bewusst.

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede beim Festakt zum 400-jährigen Gründungsjubiläum der Deutschen Schule Stockholm

Ehe ich jetzt meinen Redetext vortrage, will ich mein Herz sprechen lassen und sagen, dass ich mich eben so gefreut habe über die Kinder, die uns diese Lieder vorgesungen haben. Davon stehen zwei in meinem Gesangbuch. Uralt, aber ich kenne sie. Und so passierte eben etwas Merkwürdiges: Ich bin nach Hause gekommen! Eine Tradition, die unseren beiden Ländern vertraut ist. Das ist schön.

Herzlichen Dank für diese wunderbare Einladung zu diesem besonderen Jubiläum 400 Jahre Deutsche Schule in Stockholm. Und natürlich freue ich mich jetzt auf das abwechslungsreiche Programm, das schon begonnen hat und das alle Altersgruppen hier vorbereitet haben.

Mitten in der Stockholmer Altstadt, so hat man mir erzählt, gibt es eine kleine, enge Straße mit dem Namen „Tyska Skolgränd“: Deutsche Schulgasse. Dort, nicht weit von der Deutschen Kirche und ihrer St.-Gertruds-Kirche, fing also vor 400 Jahren alles einmal an: Der schwedische König Gustav II. Adolf hatte damals in seinem so genannten Privilegienbrief die deutsche Gemeinde ermächtigt, eine eigene Schule zu betreiben. Sie sollte, so der König, „ihre Kinder lesen und schreiben (…) lehren und nur diejenigen, die sie in der Kirche zum Singen gebrauchen können, wenn es notwendig ist“. Ganz so streng sind Sie vermutlich heute bei der Auswahl Ihrer Schüler zum Glück nicht – und das ist auch ein Glück für uns alle. Fest steht aber, dass wir diesem königlichen Privileg von 1612 die gesicherte Existenz der nach Kopenhagen zweitältesten deutschen Schule im Ausland verdanken.

Schon früh hatten sich hier an diesem Platz deutsche Kaufleute in Stockholm niedergelassen. Dies lag nicht zuletzt am Aufstieg der Hanse. Ich selber komme aus einer Hansestadt, aus Rostock, von der anderen Seite der Ostsee. Erst letzte Woche haben wir bei den Ostseetagen in Berlin auf die lange Tradition des Austauschs um das Baltische Meer herum zurückgeblickt. Wir hatten in Berlin eine große Tagung des Ostseerates. Wir haben auf Traditionen zurückgeblickt und den kulturellen und ökonomischen Austausch in der Region in Berlin besprochen. Deutschland hatte den Vorsitz des Ostseerates inne. Noch mehr ging es uns aber darum, jetzt eine Dynamik zu entwickeln, der heutigen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit im Ostseeraum aufzuhelfen, wie die Beziehungen der Ostseeanrainer zueinander zu fördern seien.

So hat auch die Deutsche Schule ganz traditionell hier im Lande Beziehungen aufgebaut. Sie hat ihren Charakter verändert. Im 19. Jahrhundert war sie eher eine reine Sprachenschule. Dauerhafter und vollwertiger Unterricht eher im heutigen Sinne gab es erst nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1953. Es waren auch nicht viele Menschen, die damals hier in diese Schule gingen. Aber die Schule hat festgehalten an diesem Standort und an dieser Tradition und konnte wieder anknüpfen. Sicher auch, weil Sie, Majestäten, und Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger dieser Schule immer Ihre Aufmerksamkeit zugewendet haben.

Wie viele andere deutsche Auslandsschulen begreift sich diese Schule hier in Stockholm als Begegnungsschule. Begegnung bedeutet hier zunächst, dass täglich fast 600 Schülerinnen und Schüler aufeinandertreffen, um gemeinsam zu lernen. Gleich werden wir noch hören, ob es an der Schule über das Aufeinandertreffen hinaus noch andere Möglichkeiten gibt, sich wirklich zu begegnen. Ich bin sehr gespannt.

Liebe Schülerinnen, liebe Schüler, ich hoffe, Ihr habt – zumindest im Großen und Ganzen – Freude an Eurer Schule. Immer, das gelingt ja nie, wenn man in der Schule ist, das weiß ja jeder. Nirgendwo und zu keiner Zeit haben Schüler nur Spaß und Freude an ihrer Schule. Das war früher nicht anders, als es heute ist. Den wenigsten liegen alle Fächer gleich gut, viele Menschen müssen sich beim Lernen richtig anstrengen, während es anderen einfach zufliegt, sie können leicht lernen, haben auch immer Erfolg. Und dann gibt es wieder welche, die sehr, sehr hart um Erfolg kämpfen müssen und die Mühe haben, sich selbst zu motivieren oder auch sich motivieren zu lassen.

Aber wenn wir mal das Ganze betrachten, dann können wir alle, wenn wir genau hinschauen, auch immer, wenn wir den Blick auf die Schule richten, etwas sehr Schönes erleben. Wir können uns nämlich erinnern an Glücksgefühle, die sich einstellen, wenn es uns gelingt, unsere geistigen oder körperlichen oder musischen Fähigkeiten darzustellen, sie wirklich zu leben und zu entwickeln. Das ist ein wunderbares Geschehen. Und in jedem von uns wartet sozusagen Zukunft, nämlich die Zukunft von Menschen, die ahnen, dass sie etwas vermögen, was sie noch nicht voll in sich ausgeprägt haben. Und die Lehrerinnen und Lehrer müssen diese Gaben, die in uns liegen, entwickeln, fördern, manchmal auch suchen, und sie müssen Lust machen, dass bei ihnen und bei Euch, liebe Schülerinnen und Schüler, der Funke zündet und Ihr Eure Gaben und Schwerpunkte entwickeln könnt. Mancher liebt Mathematik oder Chemie - das ist für mich unbegreiflich. Aber es gibt solche Menschen. Manche Menschen wollen später Arzt oder Ärztin werden – ich habe so einen Sohn: Das ist für mich unbegreiflich. Ich muss schon wegschauen, wenn im Fernsehen jemand eine Spritze bekommt. Aber bei vielen Menschen wächst schon in dieser Zeit eine Lust auf etwas, das sie noch nicht können. Und wo Schule gut ist, wird aus dieser Lust sinnvolle Arbeit, eine kraftvolle Persönlichkeit, die später etwas wirklich darstellt im Leben, in der Wissenschaft. Wir spüren schon, wenn wir klein sind: Es gibt da große unbekannte Welten. Und es muss schön sein, in sie vorzudringen, sich nicht zu fürchten vor der Welt um uns herum, sondern in dieser großen Welt, die um uns herum wartet, irgendwann einmal zu Hause zu sein.

Ich kann mich an meine eigene Schulzeit in einem weit weniger freundlichen Staat als Schweden es ist sehr gut erinnern. Ich könnte Ihnen, meine Damen und Herren und liebe Schülerinnen und Schüler, stundenlang erzählen. Aber vielleicht ist es ja so: „Jag kommer tillbaka.“ - Und dann kann ich mehr erzählen. Aber heute kann ich es nur andeuten. Wenn ich wiederkäme, würde ich erzählen von einer Zeit, in der in halb Europa Diktatur herrschte, kommunistische Machthaber über uns herrschten.

Schulen in solchen Diktaturen, die lehren auch das Notwendige, wir lernen dort auch das Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturwissenschaften, Sport, Kunst, wenn die Herrschenden das richtig einordnen, was man lernen darf.

Aber immer, während man das lernt, verfolgen die Menschen, die solche Schulen zu verantworten haben, ein ganz bestimmtes Ziel: Die Kinder und Jugendlichen sollen nicht mündige, selbstständige Bürger werden mit eigenen Fragen und eigenen Antworten, sondern letztlich sollen sie in eine ganz bestimmte Form gepresst werden. In früheren Zeiten nannte man diese Form das „Leben eines Untertanen“. Das Wort „Untertan“ gehört für uns in eine längst vergangene Zeit vor den Demokratien. Aber die Bewohner Osteuropas haben in ganz modernen Zeiten noch einmal lernen müssen, was es heißt, Untertan zu sein. Und dazu haben die Schulen in diesen unterdrückten Ländern ihren Beitrag geleistet. Das ist jetzt ein wenig theoretisch. Wenn ich die Zeit hätte, es ganz praktisch zu erläutern, was es eigentlich bedeutet, wie viel Gehorsam, Anpassung, Unterwerfung unter die Ideologie der Ideologen damals nötig war. Dann würde es hier sehr, sehr still werden im Raum. Und wir alle würden uns fragen: „Mein Gott, wie hätte ich mich denn verhalten in diesen Zeiten? Hätte ich mitgemacht bei dem militärischen Unterricht, den es zum Beispiel in meinem Land in ganz normalen Schulen gab? Hätte ich da mitgemacht, wäre ich dabei gewesen, wenn alle Mitglied der Jungen Pioniere oder der Freien Deutschen Jugend gewesen wären?“ - In einer Schule damals, in dem Land, in dem ich lebte, wären die Kinder, die hier für uns gesungen haben, alle in einer ganz bestimmten Uniform der Thälmann-Pioniere erschienen. Sie hätten ein Halstuch angehabt und die Jugendlichen hätten alle, weil Staatsoberhäupter kommen, das blaue Hemd des Jugendverbandes getragen. Das war nicht nur in der DDR so, sondern überall in allen kommunistischen Ländern. Es wären auch nicht alle zur Oberschule, zum Gymnasium gekommen, die gewollt hätten. Ich selber habe vier Kinder, die jetzt schon lange erwachsen sind. Der Erste ist schon Großvater. Und meine Kinder durften natürlich kein Abitur machen, denn sie waren nicht Mitglied der Freien Deutschen Jugend. Warum sollten sie dann eigentlich bis zur 12. Klasse zur Schule gehen und Abitur machen? Mein Großer wollte gerne Arzt werden, das kann man aber nicht ohne Abitur, weil man ohne Abitur nicht studieren kann.

So könnte ich viele, viele Dinge erzählen. Und Ihr würdet plötzlich begreifen, dass es ein großer Schatz ist, ein Glück, ein Segen, dass man in einem freien Land in einer freien Schule erzogen wird zu einem freien Menschen, der das Recht hat, eigene Fragen zu stellen, eine Antworten zu geben und eine eigenverantwortliche Lebensform zu erlernen.

Ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, seid in einer Schule, die genau dies von Euch fordert und genau dieses Geschenk an Euch gibt, zu solchen Menschen heranzuwachsen, zu Bürgerinnen und Bürgern einer freiheitlichen Gesellschaft. Wenn wir uns das genau anschauen, dann sehen wir die große Chance, Wissen zu erwerben und Haltungen zu erlernen, die wir für unser Leben brauchen. Eigenständig kann in Schulen wie dieser jeder und jede sich Gedanken zum Sinn des Lebens machen und sich darin üben, seine Gaben zum eigenen Nutzen und zum Nutzen der Gesellschaft auszuüben und auszuleben. Wir wollen fair miteinander umgehen, es soll gerecht zugehen, dort, wo wir leben. Und wir wollen dem anderen, auch dem ganz anderen, voller Achtung begegnen.

Wenn dies gelingt, begreifen wir, später, wenn wir erwachsen geworden sind, dass das menschliche Leben genau dann seine volle Bestimmung erfährt, wenn wir die Haltung der Verantwortung leben. Wenn wir uns nicht treiben lassen, sondern verantworten, was wir für uns und andere tun. Verantwortung gegenüber Freunden, Mitschülern und Lehrern, Verantwortung gegenüber allem, den Tieren und Pflanzen, dem Natürlichem und dem Geschaffenem, Verantwortung gegenüber der Stadt, dem Land, dessen Staatsbürger wir sind und dem, in dem wir leben Verantwortung nicht zuletzt als junge Europäer für die Einigung eines freien, heute aber auch von allerhand Krisen und unterschiedlichen Interessen herausgeforderten und bedrängten Kontinents.

Meine Damen und Herren! An der Deutschen Schule Stockholm wird das zweigleisige Lernen praktiziert. Wir haben es schon gehört in den Begrüßungen. Der Unterricht findet natürlich in zwei Sprachen statt - Deutsch und Schwedisch. Sprachliche Vielfalt wird auch bei Studienreisen und in Austauschprogrammen bewusst gefördert. Manche werden fragen: Warum hat Deutschland so ein großes Interesse an der gelebten Begegnung von Sprachen und Kulturen? Lohnen sich eigentlich die Mühen der Zweigleisigkeit? Ich habe daran keinen Zweifel. Schon allein deshalb, weil dieses Konzept die Lebenswirklichkeit in einer zunehmend vernetzten Welt besonders gut widerspiegelt.

Am Anfang waren Auslandsschulen Orte, die Kindern des eigenen Landes auch in der Fremde die heimatliche Bildung ermöglichen und die heimatliche Kultur nahebringen sollten. Das ist auch heute und gerade für die vielen Kinder, deren Eltern beruflich hier tätig und mobil sind, eine wichtige Aufgabe. Und doch geht es um noch einiges mehr: Wir Deutsche wünschen uns, dass unsere Kinder nicht abgeschottet von ihrer Umwelt aufwachsen, nicht begrenzt bleiben auf ihre eigene heimatliche Kultur. Wo auch immer sie leben, sollen sie Vielfalt schätzen lernen. Sie sollen ein Gespür dafür entwickeln, dass in einem freiheitlichen Leben Unterschiede dazugehören, dass sie uns nicht bedrohen, sondern bereichern.

Das Aufwachsen mit einer weiteren Sprache und Kultur gibt den Schülern in den deutschen Auslandsschulen einen einzigartigen Zugang zu dem Land, in dem sie leben. Gleichzeitig ermöglicht es ihnen, mehr Gewissheit über sich selbst zu erlangen: Viele von ihnen werden gerade dann merken können, was deutsch und manchmal gerade auch nicht deutsch ist, wenn sie im Ausland lernen und leben. Sie werden sich manchmal ihres Deutschseins klarer und deutlicher bewusst, wenn sie nicht in Deutschland sind.

Nicht zuletzt schaffen Begegnungsschulen auch Bewegungsfreiheit. Wer seine schulische Laufbahn mit zwei Abschlusszeugnissen beendet, der hat einen privilegierten Zugang gleich zu zwei nationalen Hochschulsystemen. Auch in einer Zeit, in der die Möglichkeiten des Studierens für immer mehr junge Leute keine nationalen Grenzen mehr kennen, ist das immer noch ein bedeutender Vorzug.

Liebe Schülerinnen und Schüler, zu meiner besonderen Freude darf ich heute in Begleitung von Königin Silvia und König Carl Gustaf zu Euch kommen. Meine Enkelkinder in Deutschland sind total neidisch auf mich. Absolut. Sie erzählen mir immer von Estelle, sie wissen alles Mögliche aus dem Königshaus.

Deshalb bitte ich, liebe Schülerinnen und Schüler, dass ich mich zum Schluss auch direkt an die hohen Besucher wenden darf:

Majestäten, mit Ihrer Anwesenheit heute machen Sie beide deutlich, dass Sie und wie sehr Sie die Arbeit der Deutschen Schule Stockholm schätzen. Von Herzen danke ich Ihnen dafür – genauso dafür, dass Sie bei meinem Besuch in Schweden an meiner Seite sein wollen. Gemeinsam mit vielen anderen Freunden und Förderern zeigen Sie, wie sehr die Deutsche Schule hier in diesem Land geschätzt ist, dass sie von Ihnen in besonderer Weise auch angenommen und unterstützt wird. Mein Wunsch ist, dass das so bleiben möge. Darüber hinaus ist Ihre Gegenwart hier heute bei meinem Besuch ein ganz wunderbares Symbol für mich und mein Heimatland für die Tiefe und Dauerhaftigkeit, für die Herzlichkeit unserer Beziehungen zwischen Deutschland und Schweden.

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Freunde und Unterstützer, ich wünsche Ihnen allen weiter Freude und Erfolg beim Lernen, beim Leben und Freude im Leben in dieser wunderschönen Stadt, in diesem wunderbaren Land, und in einem Europa, dass auf die Ideen und Kräfte unserer Jugend wartet.

Tack så mycket!