Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite für Wissenschaft und Künste

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 4. Juni 2012

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache im Großen Saal

Ich heiße Sie alle ganz besonders herzlich willkommen in Schloss Bellevue. Was ist das für ein Erlebnis, Ihre Gemeinschaft zu erleben! Sie alle haben in der Welt der Kunst, der Wissenschaft, Sie haben in unterschiedlichen Disziplinen Großartiges und Herausragendes geleistet.

Für mich sind die meisten der Kontakte neu. Eberhard Jüngel kennt mich schon ein wenig – als ich einen anderen Beruf hatte, war er ein Leuchtturm für mich. Ich habe einmal Theologie studiert und war evangelischer Pfarrer in Rostock in der DDR, wie dieser Staat damals hieß, den seine Bürger 1989 zu Grunde brachten. Weil es ein Staat war, der nicht auf dem Willen der Bürger beruhte. Und ausnahmsweise, weil es so wenige Menschen gibt, die aus dieser Gegend Deutschlands kommen, begrüße ich einen ihrer Ordensbrüder extra. Das ist ein Künstler, den Sie schon alle kennen: Herr Uecker, ein Landsmann von mir. Man sollte es nicht glauben, dass sich ein Mecklenburger in den Orden Pour le mérite verirrt - und nun ist sogar noch ein Mecklenburger Bundespräsident. Ich weiß selber nicht, wie es zugegangen ist.

Ich begrüße besonders diejenigen, die heute neu aufgenommen sind in den Orden. Es ist schön, dass es weitergeht. Und ich habe heute auch erlebt, Sie haben sich würdevoll von denen verabschiedet, die nicht mehr unter uns sein können und es ist auch an die gedacht worden, die grade eben von uns gegangen sind, wie Professor Hirzebruch.

Nun sind wir hier zusammen und ich erinnere Sie durch meine schiere Präsenz hier an dieser Stelle daran, dass das überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass freie Menschen hier in diesem Haus zusammenkommen. Ganz in der Nähe, das wissen die meisten von Ihnen, war jahrzehntelang die Berliner Mauer und ich war auf der anderen Seite mit ein paar wenigen hier im Raum, die auch aus dem Osten stammen. Wir standen dann, wenn wir Berlin besuchten, am Brandenburger Tor. Das heißt, wir durften nicht bis zum Brandenburger Tor, sondern mit gebührendem Abstand schauten wir durch die Säulen hindurch, ob wir vielleicht die Siegessäule sehen könnten. Und dann sagten wir unseren Kindern, da ist der Westen. Ja, und warum können wir da nicht hin? Wir konnten nicht dahin. Deshalb ist es für mich, ich bin ja ein Anfänger in dem Beruf, den ich hier ausübe, immer noch ein Ereignis, das mich mit einer ganz elementaren politischen, historischen und ganz menschlichen Freude erfüllt. Hier im Herzen von Berlin weht ein freier Geist und deshalb passt Ihre Versammlung so gut hierher. Hier in die Mitte unserer Hauptstadt. Wo große Kunst und große Wissenschaft schon immer zusammengefunden hatten – jedenfalls meistens – und heute wieder eingebettet sind in den Lebensatem einer freiheitlichen Demokratie.

Wenn ich eben diese Erinnerungen bemüht habe, dann spüren Sie, dass es mir wichtig ist, dass wir beständig daran denken: Unsere Zivilisation ist bedroht. Was wir erleben, Freiheit, Glück, Rechtsstaat - ist nicht selbstverständlich. Wir wissen, wie viele Landsleute nichts anderes kennen und es deshalb selbstverständlich finden. Sie kennen die Neigung der deutschen Nation, sich beständig irgendwie schlecht zu fühlen. Die Deutschen halten das für eine Kultur, sich unwohl zu fühlen. Ich bitte Sie herzlich, dagegen anzuarbeiten. Ich habe heute mit Ihrer öffentlichen Sitzung ein wunderbares Beispiel erlebt, dass das gelingen kann. Wir sind dankbar, dass das wieder möglich ist: Dass die Künste und Wissenschaften frei agieren können hier unter dem Schutz der Polis.

Dafür muss sie sich begrenzen. Ich erlebe das an mir selbst, als Bundespräsident in Ausbildung. Und schon zuckt es in meiner Seele, denn ich bin ein freiheitlicher Geist und immer, wenn es um Begrenzung geht, dann steht etwas in mir auf. Und trotzdem: Politik muss sich zu definieren vermögen, muss die Fähigkeit haben, Abschied zu nehmen vom Anspruch, das Absolute zu gestalten.

Ich bin dem Visionären in der Politik jedenfalls von Herzen abhold. Politik muss für mich immer wieder Realpolitik sein, muss geerdet sein, muss sich bewähren bei der Gestaltung des Möglichen.

Kunst und Wissenschaft hingegen haben ein anderes Programm. Sie stehen für Lebensszenarien, in denen es ganz tödlich wäre, Begrenzung als Tugend auszugeben. Sie stehen für Lebensszenarien, die beweisen, dass Menschen, indem sie sich nach Zielen, nach Inhalten sehnen, durch diese Sehnsucht erweitert werden und dass ihnen ihr Dasein so lebenswert erscheint. Was Sie tun, als Wissenschaftler und Künstler, muss auch nicht immer durch politische Ratio gefiltert sein. Und der Protektor Ihres Ordens steht nun dafür, dass wir die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft nicht einschränken wollen und nicht einschränken lassen, etwa durch politische Machtinteressen. Nicht allzu weit von hier hat man für Kunst und Wissenschaft Normen aufgestellt, die immer beinhalten, dass die Machtinteressen einer herrschenden Klasse nicht in Frage gestellt werden. Viele Ältere sind unter uns, manche sind sogar so alt, dass sie sich noch an die Stalin- und Hitler-Zeit erinnern können. Man muss sich einmal die Vorworte in damaligen wissenschaftlichen, politischen Büchern vorlesen. Ich, lieber Fritz Stern, kann die Lehrbücher der Nazizeit nicht erinnern, so alt bin ich nicht. Ich war fünf, als der Krieg zu Ende war. Aber ich hatte Teil an den Segnungen des Stalinismus, und ich kann Ihnen sagen, in den wissenschaftlichen Büchern dieser Zeit musste, ob es um Mathematik oder Biologie oder was auch immer ging, die Weisheit des Genossen Stalin gelobt werden. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Wissenschaft und die Künste frei sind von politischem Einfluss.

Wo Politik in die Kunst hineinwirkt, da möchte ich nicht mehr sein. Also meistens produziert die Kunst dann kurz gesagt Schrott. Man kann sich das natürlich auch schönreden und ganze Kunsttheorien entwickeln, nach denen diese Staatskunst wirkliche Kunst ist. Aber meistens hält sich ja so etwas nicht. Darüber könnten die anwesenden Künstler hier mehr sagen als ich. Wenn Agitprop produziert wird, haben wir das früher jedenfalls nicht für Kunst gehalten. Oder wenn Despotenköpfe in Granit gemeißelt werden. Das ist etwas Ähnliches – auch unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen.

Heute sind wir an Schiller vorbeigegangen. Er steht da ein bisschen einsam auf dem Gendarmenmarkt. Schiller hielt in seinen „Ästhetischen Briefen“ fest: „Der Nutzen ist das große Ideal der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht (…) und verschwindet vor dem lärmenden Markt des Jahrhunderts.“

Heute würde er über die Angriffe oder die Versuchungen sprechen, denen Kultur ausgesetzt ist. Ich will nicht vollmundig der Abgrenzung das Wort reden. Aber wir wollen den je eigenen Lebensbereichen Raum verschaffen. Ganz besonders in den Wissenschaften, in den Naturwissenschaften, sehen wir ja, wie eng häufig Politik und Wissenschaft aneinander geraten. Ich denke an große historische Auseinandersetzungen. Ich denke oft an Carl Friedrich von Weizsäcker und an seine Aufsätze, die er damals geschrieben hat – hinein mit seinem Wissen als Wissenschaftler in den politischen Raum. Oder ich denke an die heutigen Debatten über Bioethik, die uns ja nun auch schon ein Jahrzehnt begleiten. Das politische Leben, die Dimension des Politischen und die Arbeiten der Wissenschaften kommen da doch sehr nahe zueinander, und um Ethik geht es ja hier wie dort. Es sollte jedenfalls in der Politik auch um Ethik gehen und es sollte auch in der Wissenschaft um Ethik gehen - auch um Ethik jedenfalls.

Freiheit von Kunst und Wissenschaft heißt: Die Ergebnisse und die Voraussetzungen sind nicht politischer Notwendigkeit verpflichtet. Sie stehen für eine ganz eigene Dimension der so vielfältigen menschlichen Schaffenskraft.

Wie der Mensch träumt und hoffen kann, so kann er sich auch die Dinge der Welt erklären. Der Mensch hat den Genuss oder die Qual, aber eben auch die Fähigkeit zu wissen und in ungeahnte Räume des Erkennens vorzustoßen.

Wir haben es gar nicht nötig, die verschiedenen Dimensionen, in denen wir leben und wirken, gegeneinander zu gewichten. Schaffenskraft in Kunst, Politik und Wissenschaft existieren nebeneinander und es sollte kein oben und unten geben, keine Wertehierarchie. Manchmal müssen gerade Wissenschaftler auch die Ebene des Politischen achten und verteidigen, wie umgekehrt diejenigen, die in der Politik tätig sind, die Welten der Wissenschaft und der Kunst zu schützen, zu bewahren und zu fördern haben.

Der Protektor heute Abend, also ich, habe als politische Figur großen Respekt vor den vielen Menschen unter Ihnen, die ganz Herausragendes leisten und dabei unserer Nation, den Ländern aus denen sie kommen und den jungen Leuten, die mit uns in dieser Welt leben, ein Vorbild sein können. Zusammen mit den allermeisten Deutschen bewundere ich Sie alle, die Sie hier sitzen für das, was wir, die allermeisten, grade nicht können - nämlich herausragende Leistungen zu erbringen, die unser aller Leben bereichern, sichern, mit Sinn oder mit Freude erfüllen. Aber erneut erinnere ich daran: Indem Sie das tun, brauchen Sie auch einen Raum, der Ihnen erlaubt, dies zu tun, brauchen Menschen und Institutionen, die Ihnen diesen Raum und diese Freiheit zur Verfügung stellen. Übrigens auch oftmals die finanziellen Mittel.

Wir sind irrende Menschen mit dürstenden Seelen, und die Wüsten und Ebenen der Politik, sie vermögen unsere Seelen nicht dauerhaft zu nähren. Deshalb brauchen wir Sie, die Künstler, deshalb brauchen wir die Wissenschaftler mit ihren Sinnangeboten.

Meine Aufgabe als Protektor ist nun nicht die Apotheose der Schutzbefohlenen bereits zu ihren irdischen Lebenszeiten. Vielmehr ist es trotz aller Exzellenz, die hier versammelt ist, auch heute Abend wieder so: Es begegnen Mängelwesen Mängelwesen. Wir haben allerdings besondere Gaben entwickelt, mit denen wir uns trotz unserer Mängel es uns erlauben können, uns aufeinander zu freuen, Gesellschaft zu gestalten und Humanität zu fördern.

Wenn ich hier mit großer Freude die so spezifischen Fähigkeiten von Kunst und Wissenschaft preise, Menschen zu sich selbst zu führen, dann ist gleichzeitig davor zu warnen, anzunehmen, Kunst und Wissenschaft könnten das, was Politik nicht kann: alles. Oder sie hätten sogar ein Erlösungskonzept. Wohl verschaffen Sie uns magische Augenblicke irdischer Glückseligkeit oder erleuchtender und leuchtender Erkenntnis, aber gleich darauf sind wir wieder in der Welt wie sie ist. Es warten unsere Alltagspflichten, Alltagsgebrechen und Alltagsnöte.

Eben noch Franz Liszt mit Alfred Brendel – und morgen droht die Steuererklärung oder die Pflicht zum Fundraising. Oder wir sind ganz betrübt über den Zustand unseres Europas – so uneins, so gefährdet! Oder unser Klima – oder Kriegsgefahren und Hungersnöte! Wir fragen: Müssen die Lebensräume der Menschen denn ewig bedroht sein? Es beunruhigt uns. Und dann wieder gibt es diese andere Welt, die Humboldt-Kantate von Felix-Mendelssohn Bartholdy oder „Freude, schöner Götterfunken“.

In der Kunst wie in der Wissenschaft und der Religion begegnen wir dem Absoluten, das wir weder in der Politik, noch in der Ökonomie jemals antreffen werden. Mängelwesen können Vollkommenheit nicht schaffen. Aber dessen ungeachtet ahnen wir das Absolute, das Gute und das Vollkommene und wir fühlen uns ihm verpflichtet. Und indem wir es ahnen, uns danach sehnen, verwandeln wir die Tristesse der Niederungen unserer Lebenswelten und bleiben aktiv und werden aktiv, weil wir das, was wir besitzen, schöner machen wollen und verändern wollen. Tag für Tag.

Was wir heute gemeinsam erlebt haben und erleben, war für uns Ältere ein Traum von einem Berlin, von dem uns unsere Eltern erzählt haben: vom Berlin der Künste und Wissenschaften, der jüdischen Intelligenz und der unendlichen Großzügigkeit derer, die aus der Wirtschaft kamen und doch die Künste und die Wissenschaft fördern wollten, von sagenhaften Unternehmen und einigermaßen ernsthaften Politikern, von großen Rechtsgelehrten und Historikern. Und ich dachte mir, als ich dort im Konzerthaus am Gendarmenmarkt saß, dass diese Veranstaltung ja eigentlich auch 1910 oder 1915 hätte stattfinden können. Man hätte über die Theater anders sprechen müssen, Herr Enzensberger, natürlich. Aber ein Kritiker hätte auch damals über die Theater einiges zu lästern gehabt. Aber diese Versammlung von Exzellenz, diese herausragenden Fähigkeiten, diese Nobelpreisträger oder gerade auf den Nobelpreis zugehenden Wissenschaftler, diese begabten Künstler, alles, alles war schon einmal da – in dieser Stadt, die einmal noch viel schöner war als heute und alles, alles hatten wir zerstört. Alle diese Erkenntnisse, die Summe dessen, was heute hier im Raum ist, außer einigen naturwissenschaftlichen Spezialentwicklungen, alles schon einmal gedacht, alles schon einmal gefühlt, alles schon einmal Lebenswirklichkeit gewesen. Und trotzdem hatten wir es verloren, und ich bin so dankbar über all diejenigen, die in der Zeit, als wir es verloren hatten, anfingen, wieder herzukommen und da zu sein. Und dann haben wir etwas Großartiges geschafft, das ich neulich bei meiner Antrittsrede im deutschen Parlament als Demokratiewunder bezeichnet habe. Wir haben nicht nur ein Wirtschaftswunder gekonnt, wir haben Freiheit gekonnt, 1989, und Rechtsstaat gekonnt, Menschenrechte und Bürgerrechte auf Dauer etabliert, all das können wir. Und so habe ich mich dazu hinreißen lassen – hätte in meiner Jugend nie daran gedacht – in einer großen Wochenzeitung laut zu sagen: „Auf ein solches Deutschland kann ich inzwischen auch stolz sein.“

Dass Sie das erleben dürfen, dass Sie, die Älteren, deren Eltern vielleicht aus Deutschland emigriert sind und die drüben in den Vereinigten Staaten dann ihre akademischen Karrieren gemacht haben, dass Sie das auch erleben können, das ist ein großes Geschenk – hier aufgeklärte und begnadete Menschen zu treffen und miteinander Freundschaft zu teilen und unsere Welt zu entwickeln.

In diesem Sinn möchte ich jetzt das Glas erheben auf Sie und darauf, dass das, was wir angefangen haben zu bauen und was Sie mit gestaltet haben, sich fortsetzt zu einem besseren Europa und einer noch schöneren Welt in Frieden.