Gedenkfeier "Lichtenhagen bewegt sich" zum 20. Jahrestag der fremdenfeindlichen Angriffe auf
das "Sonnenblumenhaus"

Schwerpunktthema: Rede

Rostock, , 26. August 2012

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 26. August bei der Gedenkfeier "Lichtenhagen bewegt sich" zum 20. Jahrestag der fremdenfeindlichen Angriffe auf das "Sonnenblumenhaus" in Rostock eine Rede gehalten.

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Ansprache

Es ist Vergangenheit, was uns heute hier in Lichtenhagen zusammenführt – was wir erinnern, was wir beklagen, was uns beschämt: Alles war vor 20 Jahren. Es ist Vergangenheit – das war mein erster Satz. Aber der zweite Satz heute kann nur lauten: Es ist die Gegenwart, die unsere Wachsamkeit, unsere Entschlossenheit, unseren Mut und unsere Solidarität braucht.

Und genau deswegen sind Sie alle hier, alle heute hierhergekommen! Auch die Kinder, die noch nicht geboren waren, als geschah, was leider bis heute für Rostock ein Brandmal ist. Ihre Anwesenheit heute hier ist ein Bekenntnis! Das Bekenntnis, Vielfalt wertzuschätzen, wachsen zu lassen und dabei in einem ganz wichtigen Punkt gleich zu sein: im täglichen Bemühen um ein gedeihliches, respektvolles, friedliches Miteinander.

Dieses Bekenntnis ist das größte Geschenk, das sich Rostock an einem Tag wie diesem selber machen konnte! Das sage ich als Bundespräsident voller Zuversicht für diese Stadt. Aber ich sage es auch als Rostocker, der hier geboren wurde und Jahrzehnte hier gelebt hat und gar nicht weit entfernt von hier als Pastor gearbeitet hat, und der die immer wieder gestellte Frage kennt: Wie konnte es dazu kommen, dass ein ganz normales Stadtviertel, in DDR-Zeiten sogar ein Vorzeigeobjekt, zum Austragungsort brutaler Gewalt wurde - einer organisierten gewalttätigen Ausschreitung, bei der aus einer Menschenmenge ein Mob wurde, der den Tod von Angegriffenen billigend in Kauf nahm? Wie konnte es soweit kommen, dass die Gejagten zusätzlich noch gedemütigt wurden durch Tausende Hände, die der Hetzjagd applaudierten und eine Pogromstimmung erzeugten?

Wir können die größten ausländerfeindlichen Ausschreitungen in der Geschichte der Bundesrepublik nicht mehr ungeschehen machen. Umso mehr sind wir verpflichtet, die Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, nicht irgendwie Gras über sie wachsen zu lassen, sondern sie immer wieder zu betrachten, zu analysieren, um aus den Fehlern und Versäumnissen von damals zu lernen.

Denn Eines gilt es zu betonen: Es waren von Menschen gemachte, ganz besondere Umstände, in denen die Gewalt siegte. Die Zusammenstöße von Lichtenhagen kündigten sich monatelang an – sie waren nicht unvermeidlich. Und wir können sagen: Es war ein Wunder, dass niemand umgekommen ist.

Glücklicherweise sind ähnliche Übergriffe in den vergangenen Jahren in der Regel durch entschlossenes Handeln von Einsatzkräften und – was mir noch wichtiger ist – durch breite Bürgerbündnisse verhindert worden. An vielen Orten der Republik wurden seit den 1990er Jahren Vereine und Initiativen gegründet, damit Menschen in unserem Land nicht wieder um ihr Leben fürchten müssen.

Trotzdem haben sich uns Namen wie Solingen, Mölln, Hoyerswerda eingeprägt, über Jahre ermordete die Zwickauer Terrorzelle Bürger vor allem ausländischer Herkunft. All dies ließ uns aufschrecken: Es konnte wieder passieren. Menschen sind wieder Opfer fremdenfeindlicher und rechtsextremer Hetzjagden geworden. Insofern sehen wir: Die Ereignisse von Lichtenhagen sind zwar Vergangenheit. Aber die Gegenwart bleibt infiziert von Fremdenfeindlichkeit, Hass, Gewalt.

Da wir dieses belastende Wissen in uns tragen ist es mir besonders wichtig, Sie hier begrüßen zu können, sehr geehrter Herr Nguyen Do Thinh: Sie lebten damals in dem elfstöckigen Gebäude, aus dem die Flammen schlugen, Sie hörten die johlende, Beifall klatschende Menge unten auf der Straße, Sie spürten den Rauch in die oberen Stockwerke dringen, Sie hatten Todesangst. Wenn ich auf die Geschehnisse blicke, die Brutalität, ja Mordlust der Tage vor 20 Jahren, nötigt es mir umso größeren Respekt ab, dass Sie, Herr Nguyen Do Thinh, in meiner, in Ihrer, in unserer Stadt geblieben sind und den Verein „Diên Hồng – Gemeinsam unter einem Dach“ gegründet haben. Sie machen unserer Heimatstadt, sie machen Rostock mit Ihrem Bekenntnis ein wunderbares Geschenk. Dafür bin ich dankbar. Als Sie die deutsch-vietnamesische Begegnungsstätte eröffneten, klang der Name dieser Stätte noch wie eine unerreichbare Illusion. Inzwischen gehört Diên Hồng zu den wichtigsten Stätten des Miteinanders der Region. Wer heute dort Beratung und Bildung sucht, wird fachmännisch betreut, ungeachtet dessen, woher er stammt und welcher Nationalität er angehört. Und andere Institutionen und Bundesländer nehmen sich ein Beispiel an dem, was hier schon gelungen ist und erprobt wurde.

Was vor 20 Jahren in Lichtenhagen geschah, erzürnt mich – den Rostocker wie den Bundespräsidenten – und schmerzt mich bis heute. Und es prägt sich meinem Realismus neu ein, was ich hier heute erlebe. Trotzdem trifft zu: Wir haben solchen Institutionen geschaffen, haben viel erreicht. Es erzürnt mich, dass gewalttätige Jugendliche aus Rostock, unterstützt von Randalierern und Rechtsextremen aus Ost- und Westdeutschland, ihrem Hass und ihren Ressentiments tagelang freien Lauf lassen konnten. Es erzürnt mich noch mehr, dass Anwohner den Mob anfeuerten, die Gewalttäter vor der Polizei schützten und klammheimliche Freude darüber empfanden, dass es „den Ausländern mal so richtig gezeigt wird“ – dabei handelte es sich um Menschen, die selber Opfer unguter Umstände waren.

Es hat mich zudem nachhaltig erschreckt, als ich damals in den 1990er Jahren erkennen musste, dass die Fremdenfeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist.

Ich weiß, dass in Lichtenhagen, in Rostock, wie überall in der DDR viele Menschen nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden, dass sie sich als Verlierer sahen, enttäuscht waren über die Zustände im neuen Deutschland, in dem sie – anstatt zu Wohlstand zu gelangen – häufig sozial abrutschten. Ich weiß, dass sich viele tief verunsichert fühlten, orientierungslos in der neuen Freiheit, überfordert mit den unzähligen und einschneidenden Veränderungen, ungeübt in der Übernahme von Verantwortung. Ich weiß, dass bei manchen Menschen die Furcht vor der Freiheit umschlug in Wut und Aggression. Die Entstehung solcher Gefühle kann man erklären. Aber unsere Erfahrung lehrt: Wenn Hass entsteht, wird nichts besser, aber alles schlimmer. Hass darf als Mittel der Konfliktlösung niemals geduldet sein!

Wir spüren noch heute, wie wir es immer spüren werden: Eine völlig von allem Dunklen und Bösen „gereinigte“ Gesellschaft wird es nie geben – nach all unseren Erfahrungen widerspricht sie der Natur des Menschen. Mit Aggression, Hass, Wut, Groll, Zorn reagieren Menschen auf tatsächliche oder angenommene Kränkung, auf Verletzung, Unterdrückung und Unrecht. Dunkles und Böses lassen sich allerdings durch Vernunft, Empathie und Solidarität eindämmen, notfalls auch durch das Gesetz. Denn Hass, der nicht zurückgedrängt wird, wirkt seinerseits verletzend, unterdrückend, ja zerstörerisch.

Eine völlig gereinigte Gesellschaft werden wir also nicht erreichen können, eine solidarische Gesellschaft aber sehr wohl. Hass macht auch blind. Er sucht oft nicht nach den wirklich Verantwortlichen, sondern richtet sich gegen Menschen, die als Sündenböcke herhalten müssen – wie damals in Lichtenhagen: Menschen, die sich abgehängt fühlten, reagierten sich gewaltsam an Wehrlosen ab, die für sie schlicht und einfach noch unter ihnen standen. Hass und Gewalt untergraben und zerstören das wichtigste Fundament eines Gemeinwesens: das Miteinander der unterschiedlichen Vielen und den Respekt vor der Menschenwürde eines jeden Einzelnen.

Das hat nicht wenige Menschen in Rostock schon damals entsetzt und geschmerzt. „Wir Lichtenhäger – schrieben sie in einem Friedensgebet nach den Ausschreitungen – klatschen nicht Beifall, wir sind verzweifelt.“ Sie waren verzweifelt, weil sie in dieser zugespitzten Situation als einfache Bürger keine Möglichkeit mehr zu einem Eingreifen mehr sahen. Sie standen der entfesselten Gewalt hilflos gegenüber und konnten nur noch ihren Abscheu, ihren Protest, ihr Dagegen dokumentieren: „Kein Totschlag! Keine Verletzung, keine Zerstörung! Lass die Gewalt enden. Herr, hilf uns!“ Worte von damals. Auch an diese besonnenen Menschen, die sich einig waren, dass in unserer Demokratie Konflikte allein mit friedlichen Mitteln zu lösen sind, möchte ich heute erinnern. Ihnen gelten meine ausdrückliche Anerkennung, meine Freude und mein Dank!

Nun kommen wir heute zusammen, um noch einmal genau hinzuschauen. Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Merkmal der Ausschreitungen verweisen, das die Ereignisse in Lichtenhagen für mich zu einem negativen Lehrbeispiel macht. Fassungslos habe ich in einem Dokumentarfilm verfolgt, wie die Gewalt vor dem Sonnenblumenhaus über mehrere Tage eskalieren konnte. Wo blieb die Staatsmacht, fragte ich mich. Wo blieben ausreichende Polizeikräfte, die imstande gewesen wären, die Gewalttäter festzunehmen, die aggressive Menge zu zerstreuen und Menschenleben zu schützen? Wie konnte es soweit kommen, dass die Polizei zeitweilig gänzlich abrückte, die Feuerwehr sogar an Löscharbeiten gehindert wurde und Menschen schutzlos dem Feuer ausgeliefert waren?

Ich ahne ja die Ängste, die auch einzelne Polizisten spürten: zwischen die Fronten zu geraten, vielleicht selbst in Lebensgefahr zu kommen. Ich ahne auch die Überforderung der Sicherheitsorgane und der politisch Verantwortlichen, mit einer solchen Situation umzugehen. Aber wie viele andere Bürger fragte auch ich mich damals und frage mich bis heute: Wie konnte das Gewaltmonopol des Staates scheinbar so schnell und scheinbar fahrlässig aufgegeben werden?

Bitter ist mir auch bis heute, dass die anschließende Aufarbeitung der Geschehnisse oftmals Gefahr lief, sich mit vordergründigen Erläuterungen zu begnügen und so von vielen als Beschwichtigungen verstanden wurde. Etwa wenn es hieß, die Zuständigkeiten zwischen Schwerin und Rostock seien nicht endgültig geklärt gewesen. Oder wenn es hieß, die Polizei habe sich noch im Prozess der vereinigungsbedingten Umstellung befunden und sei einer derartigen Herausforderung nicht gewachsen gewesen.

Aus dem Funkverkehr der Feuerwehr geht hervor, wie Wolfgang Richter, damals Ausländerbeauftragter der Stadt Rostock, der solidarisch mit den Vietnamesen im eingeschlossenen brennenden Gebäude ausharrte, verzweifelt die Hilfe von Polizei und Feuerwehr erbat. Auf Seiten der Verantwortlichen aber verschlossen viele die Augen, wollten sich nicht exponieren, keine Verantwortung für ein entschiedenes Eingreifen übernehmen. Doch genauso wenig, wie die Umbruchsituation eine Entschuldigung für den Hass von Bürgern sein kann, kann sie eine Entschuldigung für die mangelnde Entschlossenheit und Professionalität der Sicherheitskräfte und der politisch Verantwortlichen sein.

Selten ist mir aus unserer jüngsten Geschichte so deutlich wie im Fall von Lichtenhagen bewusst geworden, dass wir beides brauchen: Mutige Bürger, die nicht wegschauen, wenn unser demokratisches und friedliches Miteinander im Alltag gefährdet wird. Aber vor allem brauchen wir auch einen Staat, der fähig und willens ist, Würde und Leben der Menschen zu schützen, die in ihm leben. Wenn unsere Demokratie Bestand haben soll, muss sie auch wehrhaft sein. Sie darf sich das Gewaltmonopol niemals aus der Hand nehmen lassen.

20 Jahre Abstand scheinen eine lange Zeit, die Ausschreitungen weit entfernt. Doch die Abgründe unserer Seele sind manchmal erschreckend nah. Machen wir uns ruhig deutlich: Die Angst vor dem Fremden ist tief in uns verwurzelt. Wir würden wohl irren, wenn wir davon ausgingen, dass sie sich gänzlich überwinden ließe. Aber in langen Zivilisationsprozessen haben religiöse und moralische Normen und staatliche Gesetze dazu beigetragen, dass ihre zerstörerischen Potentiale weitgehend gebannt werden konnten.
Auch Erfahrungen von materieller Sicherheit, Frieden und einer gesicherten Ordnung führten und führen dazu, dass der Einzelne wie die Gesellschaft die Angstimpulse besser beherrschen können. In Zeiten der Krise jedoch, Zeiten des Umbruchs oder der Identitätssuche wächst die Angst rapide. Dann werden Fremde leicht zur Bedrohung, und die Angst führt uns auf Irrwege bis hin zum Hass. Deshalb werden wir wachsam bleiben. Das gilt für Lichtenhagen genauso wie für Hoyerswerda, das gilt für Mölln, für Solingen und für jeden anderen denkbaren Ort, wo Einheimische und Fremde zusammenkommen.

Bis heute sind Asyl und Zuwanderung häufig Anlässe für Polemik und Panikmache geblieben. In den frühen 90er Jahre war von Flüchtlingsströmen, Zuwanderungswellen, Überflutung und dem „vollen Boot Europa“ die Rede. Heute entzünden sich die Ängste an fremden Kulturen und Religionen, vor allem bei den muslimischen Zuwanderern. Natürlich wissen wir: Wo Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zusammenleben, bringt das Herausforderungen und nicht selten auch Konflikte. Es hat keinen Sinn, das zu verschweigen oder gar zu leugnen. Auch dann nicht, wenn dies im besten Willen und in bester menschenfreundlicher Absicht geschieht. Konflikte sind jedoch in gegenseitigem Respekt zu debattieren und zu lösen. Und zur Lösung gehört, sich darüber klar zu werden, dass unser Land inzwischen ein Einwanderungsland geworden ist, dass wir uns aber über das Maß und die Bedingungen der Zuwanderung verständigen und einigen können und müssen. Wenn dies geschieht, werden wir Zuwanderer nicht vor allem als Problem empfinden, sondern als Menschen, deren Anwesenheit zu unserem gemeinsamen Wohl beiträgt.

Wir dürfen uns nicht dadurch irritieren lassen, dass Ängste vor dem Fremden weiter existieren. Oft sind sie Ausdruck von Unkenntnis, innerer Unsicherheit – und von mangelndem Selbstbewusstsein übrigens auch. Das zeigt sich zum Beispiel an der auf den ersten Blick paradoxen Tatsache, dass Fremde besonders dort stark abgelehnt werden, wo nur wenige Fremde leben.

Mecklenburg-Vorpommern hat den geringsten Ausländeranteil von allen Bundesländern, aber es ist neben Sachsen das einzige Land, in dessen Parlament heute die NPD vertreten ist – und das schon zum zweiten Mal. In Mecklenburg-Vorpommern ist die NPD auch in allen Kreistagen vertreten – als Partei, die hinter manchmal auch biederer Fassade Ängste und Ressentiments schürt. Übrigens hätten wir dieses Problem gar nicht, wenn mehr Bürger an den demokratischen Wahlen teilnehmen würden! So aber können sich die Neonazis in dünn besiedelten, scheinbar abgehängten Gebieten als selbsternannte Kümmerer und Retter präsentieren – mit rechtsextremistischen Kameradschaften, neofaschistischen Organisationen und NPD-Ortsverbänden, die im Kern darauf abzielen, Neidgefühle und Ausländerhass zu schüren. Ihre Positionen werden nicht immer laut beklatscht, aber oft verharmlost oder im stillen Einvernehmen hingenommen.

Doch heute und hier versprechen wir: Allen Rechtsextremisten und Nationalisten, all jenen, die unsere Demokratie verachten und bekämpfen, sagen wir: Wir fürchten euch nicht – wo ihr auftretet, werden wir euch im Wege stehen: In jedem Ort, in jedem Land, im ganzen Staat. Wir sind stark. Wir wissen es: Wir sind stark! Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände!

Natürlich wissen wir: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gibt es überall in Deutschland. Aber ich will noch auf einen Punkt – weil ich ein hiesiger bin – zu sprechen kommen. Es schmerzt mich, aber ich will es nicht unerwähnt lassen. Fremdenfeindlichkeit gibt es überall, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es uns im Osten leider häufiger begegnet. Gerade wir Ostdeutschen, die wir in lange eingeübter Ohnmacht lebten, blieben anfällig für ein Denken in Schwarz-Weiß-Schemata. Wir lebten in einem Land der strukturellen Rücksichtslosigkeit; alles, was anders war, nicht linientreu war, wurde verdächtigt, denunziert, bekämpft oder ausgegrenzt. Die Kultur der offenen Bürgerdebatte war uns fremd, das Zusammenleben mit Fremden kannten wir fast nicht – auf den Straßen dieser Stadt habe ich gedankenlos und wie selbstverständlich für die wenigen Ausländer, die bei uns arbeiteten, die Bezeichnungen „Fidschis“ und „Kanaker“ gehört – das war ganz „normal“. Es liegt nicht am schlechteren Charakter der Ostdeutschen, dass es Unterschiede zu den Westdeutschen gibt, sondern an unseren unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen: Hier im Osten konnten wir nicht teilhaben an einer Zivilgesellschaft von aktiven und eigenverantwortlichen Bürgern.

Den manchmal etwas pauschalen Ruf des braunen Ostens überwinden wir allerdings nicht, indem wir lautstark behaupten: Alles ist übertrieben, alles nicht so schlimm! Wir überwinden ihn, indem wir den Beweis im Alltag antreten und dieser noch jungen Demokratie Gestalt geben. Das geschieht – Gott und den Menschen sei Dank – in Rostock, Pasewalk, Eberswalde, das geschieht vielerorts in Ostdeutschland und wird weiter geschehen müssen. Denn Demokratie ist beständig zu sichern. Wir haben sie 1989 nicht ein für alle Mal erkämpft, vielmehr haben wir mit ihr zwei Aufgaben erlangt: Die eine – sie beständig zu verbessern. Die andere – sie beständig zu verteidigen.

Auch wenn wir mit Konflikten konfrontiert werden, auch wenn gelegentlich Parallelgesellschaften das Miteinander gefährden – immer muss das Leitmotiv der Handelnden erkennbar und gegenwärtig sein. Es lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser wertvollste Satz unseres Grundgesetzes bindet die Garantie der Menschenwürde an keine Bedingungen, an keine Herkunft, keine Hautfarbe, keinen Pass, kein Papier, keinen Stempel.

Im Juli hat uns das Bundesverfassungsgericht an genau diesen Satz erinnert: Ein menschenwürdiges Existenzminimum steht jedem Menschen in Deutschland zu, auch Asylbewerbern! Dass dies nicht gewährleistet war, wurde von Flüchtlingsräten schon seit Langem moniert, seit fast 20 Jahren vergeblich! 2012 wird nun das Jahr des Handelns. An Gutachten und gutem Willen fehlt es in den Parlamenten und Ministerien ja meistens nicht. Aber es fehlt zuweilen an Rückkopplung in die Praxis, in den Alltag.

Wir vergessen oft: Die Menschen, die bei uns Aufnahme gefunden haben, werden eines Tages Botschafter sein. Aber werden sie Botschafter eines offenen, hilfsbereiten Deutschland?

Als Vertreter eines offenen und hilfsbereiten Deutschland sehe ich hier allerdings ehemalige Mitstreiter: Sie waren dabei, als das Neue Forum am 27. August 1992 gemeinsam mit den Rostocker Kirchen einen Schweigemarsch und Friedensgebete organisiert hat. „Zündet Kerzen an und keine Häuser!“, stand auf den Plakaten dieser schon damals bewegten Bürgerinnen und Bürger. Lichtenhagen bewegt sich nicht erst heute, wie es hier oben steht. Lichtenhagen hat sich schon damals bewegt. Auch daran wollen wir heute erinnern. Vertreter eines offenen und hilfsbereiten Deutschland sind ebenfalls die Frauen und Männer, die seit vielen Jahren in Rostock Gelegenheiten zum Austausch und zur Begegnung geschaffen haben. Die Initiative „Bunt statt braun“ gehört dazu, deren Kampagne „Lichtenhagen bewegt sich“ heute diese beeindruckende Gedenkveranstaltung organisiert. Ich danke Ihnen für alles, was Sie in diese Richtung getan haben und noch tun werden.

Und schließlich – und für uns alle am wichtigsten – sehe ich als künftige Botschafter unseres Landes die Kinder, die heute für mich viel mehr sind als ein großer Chor – nämlich ein großes Zukunftsversprechen.

Liebe Kinder,
Euer Land gibt Euch Lebensmöglichkeiten, von denen Eure Großeltern nur träumten. Es sind die Möglichkeiten, von denen Kinder und Erwachsene aus vielen armen Ländern auch heute noch träumen. Wenn Ihr gerade so schön offene Arme, offene Herzen, offene Geister besungen habt, so soll das auch eine Leitmelodie für das Deutschland sein, das Ihr einst gestalten werdet – ein Land, das lebenswert, liebenswert und deshalb bewahrenswert ist.