Festakt zu 50 Jahren entwicklungspolitischer Zusammenarbeit von Staat und Kirchen

Schwerpunktthema: Rede

Bonn, , 6. September 2012

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 6. September beim Festakt anlässlich der 50-jährigen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirchen in Bonn eine Rede gehalten. Zuvor nahm er an einem ökumenischen Gottesdienst teil.

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede beim Festakt in der Bundeskunsthalle

Es ist mir eine besondere Freude aus diesem Anlass hier zu sprechen, denn wer sich gegen Armut und Ungerechtigkeit einsetzt, der braucht starken Willen, Mut und Zuversicht – alles Dinge, die mir am Herzen liegen und die ich verstärken möchte. Heute sind hier – wie auch im Gottesdienst heute Morgen – eine Menge Leute versammelt, die genau das mitbringen: Den Mut, gegen die Resignation anzutreten und zu handeln.

Sie hier wissen: Weltweit hungern eine Milliarde Menschen. In den am allerwenigsten entwickelten Ländern wird jedes zehnte Kind nicht einmal ein Jahr alt. Weltweit sterben alle zweieinhalb Jahre 50 bis 60 Millionen Menschen an vermeidbaren Krankheiten oder an Armut – das sind so viele Opfer, wie der 2. Weltkrieg gefordert hat.

Sie hier wissen: Es gibt neben diesem, was uns bedrückt, aber auch Erfolge in der weltweiten Entwicklung. Zum Beispiel gehen immer mehr Kinder weltweit in die Schule, oder immer weniger Menschen sterben an Malaria. Und dazu haben Sie beigetragen, dass Armut eben weltweit nicht übermächtig wird.

50 Jahre Zusammenarbeit staatlicher und kirchlicher Entwicklungsarbeit sind also ein guter Anlass, sich Gedanken zu machen, wie es weiter gehen soll mit dem scheinbar übermächtigen Goliath namens Armut und Ungerechtigkeit, sich mit dem Kampf gegen ihn genauer zu befassen.

Sie erinnern sich: Die Ausgangslage Davids gegen Goliath war bejammernswert. Aber David jammerte nicht, er zog gegen den Übermächtigen in den Kampf und er hatte fünf Kieselsteine – in der Entwicklungszusammenarbeit sind es fünf Bereiche, die mir von besonderer Bedeutung erscheinen, wenn wir Erfolg haben wollen im Kampf gegen die Armut und gegen deren Ursachen. In allen spielen der Mut und die Zuversicht der Aktiven, also auch der Kirchen, eine Rolle.

Erstens: Die Entwicklungszusammenarbeit muss die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land überzeugen. „Wer die Ärmsten dieser Welt gesehen hat, fühlt sich reich genug zu helfen”, das stellte schon Albert Schweitzer fest. Zu Ostern 1959 sammelte die katholische Kirche erstmals unter dem Namen Misereor zu Gunsten der Armen in der Dritten Welt. Nur wenige Menschen in Deutschland hatten persönlich damals die Armut außerhalb Europas gesehen. Aber sie kannten Hunger und Not aus dem letzten Krieg und der Nachkriegszeit. Auch heute sehen wir oft, dass ausgerechnet die Ärmsten der Armen ohne viel zu fragen Flüchtlinge aus den Nachbarländern aufnehmen und das Wenige, was sie haben, teilen. Wie können wir in einer reichen Gesellschaft dieses Solidaritätsgefühl aufrechterhalten? Merkwürdig, dass es offensichtlich schwieriger wird, je reicher und saturierter eine Gesellschaft wird.

Damals kamen über 35 Millionen DM beim ersten Mal für Misereor zusammen. Eine stattliche Summe. Dieser Erfolg brachte die Bischöfe auf die gute Idee, diese Aktion zu institutionalisieren. Das protestantische Gegenstück war dann Brot für die Welt. Barmherzigkeit, Solidarität und soziales Engagement waren übrigens nicht nur für die Christen im Westen wichtig, sie war nicht nur auf diesen Teil Deutschlands beschränkt. Auch auf der östlichen Seite des eisernen Vorhanges haben Christen sich in ihren Gemeinden für internationale Zusammenarbeit engagiert – oft mit beachtlichem Erfolg und nicht unbedingt zum Vergnügen der Machthaber dort. Als ich als Pastor in einer evangelischen Gemeinde tätig war, sollte Entwicklungszusammenarbeit mehr die sozialistische Solidarität unter den sogenannten Brudervölkern sein. Wir haben versucht, dagegen zu stehen.

Die Kirchen haben ihr Gewicht und ihren Auftrag insgesamt gegen die Armut in die Waagschale geworfen und so den Einsatz für den „fernen Nächsten“ lebendig gehalten. Wenn wir heute Texte aus den Anfangsjahren lesen, dann befremdet uns manchmal das Vokabular. Wir haben inzwischen andere Begrifflichkeiten, aber die Haltung, die uns begegnet, ist der unsrigen ähnlich. Nicht zuschauen, sondern eintreten in solidarisches Handeln. Zwei Jahre bevor die Vereinten Nationen das Ziel von 0,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit vorgaben, machten die evangelischen Landeskirchen sich ihre eigene Vorgabe. 1968 beschlossen sie, zwei Prozent ihres Haushalts für Entwicklungsprojekte einzusetzen, 1975 sollten es dann sogar fünf Prozent sein. Das Wollen erwies sich freilich größer als das Vollbringen, auch das wollen wir am Rande anmerken.

Im Bundeshaushalt 2011 sind rund drei Prozent der gesamten Mittel für Entwicklungszusammenarbeit vorgesehen. Man kann nun trefflich darüber streiten, ob das zu viel oder zu wenig ist. Schon alleine hier im Raum sind so viele Menschen versammelt, die das wunderbar könnten. Aber über eines lässt sich nicht streiten: Sollen Bürgerinnen und Bürger überzeugt sein, dass dieses Geld sinnvoll eingesetzt ist, geht dies nicht ohne Informationen über die Ergebnisse in den Partnerländern.

Solidarität bemisst sich dabei nie nur in Euro. Entscheidend sind die Ergebnisse für den Alltag der Betroffenen. Es ist oft das geringere Problem, eine neue Schule zu bauen. Das größere Problem ist es, wenn darin Lehrer ohne Ausbildung, ohne Lehrpläne oder gar ohne Motivation arbeiten.

Zu der Überzeugungsarbeit im Inland tragen gerade jene unter uns ganz besonders bei, die von ihren eigenen Erfahrungen im Ausland berichten können. Dies müssen wir fördern. Die Kirchen haben nun einen maßgeblichen Beitrag zur Entstehung der Entwicklungsdienste geleistet, die motivierte Fachkräfte in Entwicklungsländer vermittelten. Bereits 1960 reisten Handwerkergruppen aus.

Heute gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich in die Entwicklungszusammenarbeit einzubringen. Alleine in der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit arbeiten weltweit über zwanzigtausend Menschen. Die meisten von ihnen sind mit ganzem Herzen bei der Sache. Aber ich kenne natürlich auch die Zyniker, die in der Entwicklungszusammenarbeit zwar einen gut bezahlten aber sinnlosen Job sehen. Ich denke, da sind wir uns einig: Nie darf eine „Entwicklungsindustrie“ ihre eigenen Interessen über die Entwicklung bei den Partnern setzen!

Ich weiß: Viele Menschen, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, sind nachdenklich geworden über die Wirkungen ihrer Arbeit, über Armut und Überfluss und über die Bedeutung solidarischen Miteinanders. Ich glaube, unserer Gesellschaft tut es gut, wenn diese Menschen ihre Erfahrungen mit uns teilen, in den Gemeinden, bei den politisch Verantwortlichen sowieso, aber auch im privaten Bereich an den Familientischen.

Wer in der Ferne tätig ist, braucht viele Unterstützer zu Hause. Darum wirken die Kirchen ja auch bewusst mit ihrer entwicklungspolitischen Bildungsarbeit an der Akzeptanz in Deutschland mit. Das ist außerordentlich wichtig und darf uns nicht verloren gehen. Sie erklären, wo es uns etwas angeht, zu welchen Bedingungen Kinder in vielen Ländern arbeiten müssen und was wir hier dafür tun können, dass diese Kinder gute Lebenschancen haben.

Die Kirchen können auf lange Erfahrungen und ein unvergleichliches Netz an Kontakten zurückgreifen, um abstrakte globale Fragen hier vor Ort begreifbar zu machen, auch um unser Verhalten in Familien und Behörden und Firmen zu prüfen. So wird dann Nächstenliebe Tag für Tag konkret, und das ist eine gute Nachricht.

Trotz aller Frustrationen über Misserfolge, die es auch gibt in der Entwicklungszusammenarbeit, die immer wieder auch aufkommen, können gerade die Kirchen den Willen, die Ursachen von Armut zu bekämpfen, am Leben erhalten. Die Kirchen lassen sich nicht entmutigen – so verwundert es nicht, dass die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit bisweilen ein höheres Ansehen genießt, als die staatliche. Ich glaube, dass es deshalb wichtig war, dass wir uns heute im Gottesdienst daran haben erinnern lassen, wo die Quellen unserer Hoffnung liegen. Ich habe in ganz anderen politischen Zusammenhängen erfahren, dass es den glaubenden Menschen manchmal eher gelingt oder länger gelingt, Hoffnung aufrecht zu erhalten, wo andere sich einem „mainstream“ angepasst haben und erlahmt sind. An solche Erfahrungen müssen wir anknüpfen und Sie, die Aktiven auf den Arbeitsfeldern der Entwicklungszusammenarbeit, Sie haben die Kraft, die aus Ihrer Erfahrung wächst. Sie haben die Kraft, die Hoffnung der Vielen, die noch nicht angefasst sind von den Problemen, die uns wichtig erscheinen, wieder neu zu beflügeln und damit Aktivitäten zu ermöglichen.

Mein zweiter Kernsatz lautet: Entwicklungszusammenarbeit ist eine partnerschaftliche Gemeinschaftsaufgabe mit den Betroffenen vor Ort. Das mag für den Einen oder Anderen banal klingen. Sie haben selber die Grundsätze für dieses Denken gestaltet und entwickelt. Aber Hand aufs Herz: Wie viele große Entwicklungspläne wurden an einem sehr grünen Tisch in weiter Ferne ersonnen, ohne dass sich die Planer jemals mit den Partnern und Bedürftigen wirklich zusammengesetzt hätten? Sie mögen einwenden, das sei früher so gewesen, aber heute nicht. Ich will das lieber gar nicht so genau wissen. Ich glaube, dass wir auch heute noch eine beständige Energieleistung aufbringen müssen, um in diesem partnerschaftlichen Diskurs die Dinge, die uns am Herzen liegen zu gestalten. Der amerikanische Entwicklungsökonom William Easterly konnte darüber ein ganzes Buch füllen unter dem Titel „Wir retten die Welt zu Tode“. Viele von Ihnen kennen es vielleicht.

Die kirchlichen Entwicklungsdienste dagegen bemühten sich, gemeinsam mit den Partnern den Bedarf bei den Betroffenen wirklich zu ermitteln. Diese Grundhaltung war auch für die Kirchen zunächst Neuland: Denn die Missionare, die zu Kolonialzeiten nach Südamerika, Asien und Afrika kamen, spielten beim Aufbau des Schul- und Gesundheitswesens eine bis heute nicht zu unterschätzende, manchmal auch durchaus anerkannte Rolle. Aber diese Einrichtungen wurden ja auch nach europäischen Ideen und Maßstäben aufgebaut – es waren damals eben auch viele weiße Besserwisser am Werk.

Die Rolle der europäischen Kirchen während der Kolonialzeit wird auch von den heutigen Partnerkirchen in den betroffenen Ländern ja durchaus sei Längerem kritisch reflektiert. Von Desmond Tutu, an den ich mich gerne erinnere, stammt bekanntlich der Satz „Als die ersten Missionare nach Afrika kamen, besaßen sie die Bibel und wir das Land. Sie forderten uns auf, zu beten. Und wir schlossen die Augen. Als wir sie wieder öffneten, war die Lage genau umgekehrt. Wir hatten die Bibel und sie unser Land“. Es ist wirklich ein tolles Bonmot – aber es lohnt sich doch noch mal genau hinzuschauen. Denn es müsste doch wohl gesagt werden, dass wohl seltener die Missionare das Land hatten, als deren aufs Geschäftemachen orientierte Landsleute. Aber wie auch immer – sicher ist wohl, dass die Kirchen zu dem von Tutu kritisierten Zustand oft geschwiegen haben.

Der partnerschaftliche Umgang mit den jeweiligen Kirchen vor Ort führte also auch in die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Das war nicht immer gemütlich. Echte Partnerschaft heißt ja nun mal, Probleme auf beiden Seiten ansprechen und nicht aus falsch verstandener politischer Korrektheit oder – ich füge hinzu – Dankbarkeit unaufgearbeitete Schuldgefühle zu verdrängen. Übrigens waren gerade die Missionsschulen ja, und das wollen wir auch festhalten, in vielen Ländern der entscheidende Zugang zu guter Bildung und ermöglichten damit letztlich auch in vielen, vielen Ländern, gerade Afrikas, politische Emanzipation.

Im Gegensatz zu den erst zu schaffenden Strukturen staatlicher Entwicklungszusammenarbeit konnten die Kirchen schon vor fünfzig Jahren auf ein dichtes Netz von Kontakten weltweit zurückgreifen, über das nun Projekte umgesetzt werden konnten. Unter dem Grundsatz, dass keine Missionierungen gefördert werden sollten, setzen heute die deutschen Kirchen mit hoher Autonomie staatliche Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit ein.

Das war eine wichtige Entscheidung. Beide Seiten haben etwas davon: die Kirche und der Staat. Denn durch ihre Partner vor Ort können die Kirchen Menschen erreichen, zu denen anderweitig kein oder nur sehr schwerer Zugang besteht. So freue ich mich, dass heute stellvertretend für diesen großen kirchlichen Schatz internationaler Partner Frau Richardson aus Indien und Erzbischof Kaigama aus Nigeria von ihren Erfahrungen berichten werden. Ich will Ihnen ganz genau zuhören, wie auch den Vertretern der deutschen Kirchen und unserem Bundesminister.

Der Leitsatz der heutigen Veranstaltung „Vertrauen auf die Kraft der Armen“ gefällt mir gut. Auch die Kirchen sind darauf bedacht, mit Entwicklungszusammenarbeit keine Subventions- oder Abhängigkeitsmentalität zu schaffen. Sie, Herr Erzbischof Zollitsch, haben heute in Ihrer Begrüßung sehr deutlich darauf hingewiesen. Es geht darum, die Menschen in die Lage zu versetzen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen und die in ihnen schlummernden oder aus vielen Gründen verschütteten eigenen Potentiale wirken zu lassen. Darum ist für mich die Frage entscheidend: Was bringt Ermutigung, was weckt die Kräfte, die in uns sind, die in uns zum Zug kommen müssen?

Ich weiß: Der Weg zur Eigenverantwortung ist in der Regel weder breit noch bequem. Mentalitätswandel geht unendlich langsam. Aber spannend und erfüllend und befriedigend sind diese Wege der inneren Entwicklung von Menschen immer! Also: Wo immer wir dazu beitragen können, dass Menschen ihre eigenen Verantwortungspotentiale leben können, da ist viel erreicht und da bin ich gerne dabei.

Und noch ein Punkt zur Partnerschaft ist mir wichtig: Wenn wir gemeinsam an eine Aufgabe herangehen, dann erwarten die Partner von uns Verlässlichkeit und langfristiges Engagement. Die Versuchung ist groß, in der Entwicklungszusammenarbeit unrealistische Erwartungen zu wecken. Aber, Transferleistungen alleine konnten auch im Osten Deutschlands keine blühenden Landschaften entstehen lassen – sie sind immer nur Baustein in einer großen gemeinschaftlichen Aufbauleistung.

Ebenso wenig können wir erwarten, innerhalb weniger Jahrzehnte durch Geld einen materiellen Wohlstand zu erreichen, wie er in Europa über viele Generationen aufgebaut werden musste. Dazu müssen auch vernünftige Politik und passende Rahmenbedingungen kommen. Schauen Sie sich die Entwicklung von Korea an: Südkorea ist schon lange kein Entwicklungsland mehr und in Nordkorea gibt es dagegen immer noch Hungersnöte.

Mein dritter Punkt ist damit angesprochen: Entwicklungszusammenarbeit dürfen wir nicht verwechseln mit Almosen. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass Menschen unverschuldet in eine Notlage geraten, sei es durch ein Erdbeben, Flutkatastrophe oder anderes. Dann können wir nicht einfach zuschauen. Dann gilt es, Not- und Katastrophenhilfe zu leisten. Aber mit den Spenden dafür haben sich die Kirchen nie beschränkt. Sie haben ihre Arbeit nicht wie ein Trostpflaster betrachtet. Es ging ihnen vielmehr darum, Menschen langfristig bessere Entwicklungschancen zu geben.

Und das geht nicht ohne faire Rahmenbedingungen, also nicht ohne Politik. Dies zeigte sich schon in den 60er-Jahren deutlich beim Zweiten Vatikanischen Konzil und bei der Genfer Konferenz des Ökumenischen Rats der Kirchen. Die Kirchen forderten damals die reichen Länder auf, ihre „Schutzzäune“ gegen Exporte aus der Dritten Welt abzubauen. Ebenso wie viele andere kritisierten sie Handelshemmnisse und Exportsubventionen, da diese den wirtschaftlichen Wettbewerb verzerrten. Die Kirchen beschränkten ihre Kritik an den globalen Rahmenbedingungen nicht auf den Norden: Sie meldeten sich auch dort zu Wort, wo Oberschichten in Entwicklungsländern ihre Privilegien verteidigten und versuchten, die nötigen sozialen und wirtschaftlichen Fortschritte zu blockieren. Damit waren die Kirchen früh Teil der gesellschaftlichen Bewegungen, die sich dort gegen strukturelle Ungerechtigkeit wandten.

Die Kirchen haben also mit ihrer Beharrlichkeit auch dazu beigetragen, dass der lange Weg zum Schuldenerlass für die höchstverschuldeten Länder Anfang dieses Jahrtausend ins Ziel geführt hat. Zwar sind mit dem sogenannten „Jubeljahr“ nicht alle Probleme der Länder gelöst – das sehen wir ja täglich – aber die Haushalte wurden spürbar entlastet, so dass mehr Geld für soziale Aufgaben und eigenständige wirtschaftliche Perspektiven zur Verfügung gestellt werden konnte. Die Kohärenz unserer Politik bleibt ein aktuelles Thema, das unmittelbar auf unsere Glaubwürdigkeit zurückwirkt. Wenn umweltbelastende Fertigungen einfach in andere Länder ausgelagert werden, trübt das die Freude an der sauberen Umwelt in Deutschland. Wenn Flächen zur Nahrungsmittelproduktion in solche zum Anbau von Energiepflanzen umgewandelt werden, sehen das viele Menschen mit Sorge. Diese globalen Zusammenhänge sind bekannt. Die Kirchen haben sie jedoch besonders früh erkannt. Durch ihre tagtägliche Rückkoppelung mit den Armen der Welt wissen sie, wovon sie reden. Schon darum hoffe ich, dass die Kirchen sich auch in Zukunft intensiv an allen Diskussionen zur Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit beteiligen. Das sind keine ungebetenen Einreden, um es ganz deutlich zu sagen, sondern das ist erwünschte Mitwirkung.

An diesen, unseren Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung berührenden Fragen, sehen Sie schon, dass für mich alles, was zukunftsfähige Entwicklung betrifft, nicht bei der Armutsbekämpfung allein stehen bleiben darf. Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit ist, und das ist mein vierter Kernsatz, längst eine Frage unseres persönlichen Lebensstils geworden.

Ich bin vor kurzem hier in Bonn von einer Gruppe engagierter Schülerinnen und Schüler – im Grundschulalter – zum Klimabotschafter gekürt worden. Das bringt nun Verantwortung mit sich. Jeder von uns kann nun auf seine Weise versuchen, der Verantwortung gerecht zu werden. Ich weiß, dass viele von Ihnen mir weit voraus sind. Jeder von uns kann auch am Computer übrigens seinen eigenen ökologischen Fußabdruck ermitteln und hochrechnen, wie viele Planeten wir eigentlich brauchten, wenn der Lebensstil, den wir für uns für wichtig erachten, für alle Menschen zutreffend sein soll. Wir haben aber nur einen Planeten. Man kann nun über die Einzelheiten der Berechnungen streiten, wie über die Berechnungen in Richtung Klimakatastrophe. Aber unser jetziger Ressourcenverbrauch in Deutschland kann einfach nicht auf die ganze Welt übertragen werden. Und das heißt doch, Entwicklung kann nicht auf eine Kopie unserer Lebensform abzielen. Da die sogenannten entwickelten Länder dies für sich oft beanspruchen, müssen wir über unseren eigenen Lebensstil reden, wenn wir mit ihnen in Debatten eintreten. Also, aus allem ergibt sich: Auch wir müssen uns entwickeln.

Nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes steht uns ein neues Nachdenken über den Lebensstil hochindustrialisierter Gesellschaften gut an. Auch immer mehr außereuropäische Gesellschaften machen im Zuge von Wachstum die Erfahrung, dass die Korrelation von geistigem Wohlbefinden und materiellen Wohlstand nur bis zu einer bestimmten Grenze trägt. Bei uns beschäftigt sich die Enquete Kommission des Deutschen Bundestages mit den Zusammenhängen zwischen Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit. In Lateinamerika denkt man über das „Buen Vivir“, das gute Leben nach, das im sozialen Kontext mit anderen Menschen und der Natur gedacht werden muss. Auch in Asien gibt es so etwas wie eine Rückbesinnung auf kulturell verankerte Alternativen zu Lebensformen des maßlosen Überflusses. Es ist wichtig, dass dieses Nachdenken gemeinsam erfolgt und nicht ausschließlich vom hohen Ross einer saturierten westlichen Wohlstandsgesellschaft herab.

„Gut leben statt viel haben.“ – so formulierten es Misereor und der BUND im Jahre 1996. Die Entwicklungsenzyklika der Katholischen Kirche von Ostern 1967 spricht von „Gerechtigkeit als Leitstern“, dem es den „erstickenden Materialismus“ unterzuordnen gelte. Die Kirchen thematisierten also schon seit langem die Bewahrung der Schöpfung, eine Kultur des Friedens und soziale Gerechtigkeit. Sie stehen damit nicht alleine da. Sie bleiben aber eine unersetzliche Stimme im Chor derjenigen, für die ein Leben in Fülle sich gerade nicht am Kontostand oder der Kreditkarte entscheidet.

Meinen vielleicht liebsten Kernsatz habe ich mir zum Schluss aufgehoben: Entwicklungszusammenarbeit trägt ihr Ziel in sich selbst. In den ersten Spendenaufrufen der Kirchen findet sich eine Vielzahl von vorbildlichen Motiven: Nächstenliebe, Barmherzigkeit, seelsorgerischer Nutzen für die Spender, aber auch die Erinnerung an die selbst empfangene Hilfe und die Verpflichtung, das weiterzugeben. Man hatte nach dem Weltkrieg und nach Wiedergutmachungsleistungen ja allerhand Erfahrungen gesammelt. Die wollten nun umgesetzt sein.

Am Anfang staatlicher Entwicklungspolitik stand der Wille, sich nicht außenpolitischen Zielen unterzuordnen. Heute beruft sie sich auch auf eine Reihe von wichtigen Zielen: Bewahrung des Friedens, Schutz der Umwelt, Verhinderung internationaler Migration und Förderung deutscher Wirtschaftsinteressen, um nur einige zu nennen. Oftmals sind freilich nicht alle Ziele gleichermaßen erfüllbar. Können wir gleichzeitig die Infrastruktur aufbauen, den Regenwald schützen und die Aids-Quote senken?
Wir müssen auch hier aufpassen, Entwicklungspolitik nicht mit unerfüllbaren Erwartungen zu überfrachten. Derartiges hätte eben nur Frustration zur Folge und würde das, was gelungen ist, verdunkeln und zum anderen die Aktivität von Menschen einschränken: frustrierte Menschen engagieren sich nicht.

Manchmal denke ich: Sollte nicht der Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit alleine schon als Rechtfertigung ausreichen, sich in der Entwicklungszusammenarbeit weiter und beständig und immer wieder neu zu engagieren? Und hier können die Kirchen Wesentliches beitragen. Sie sind dann am stärksten, wenn sie ihr geistliches Wissen, etwa „Den Armen Gerechtigkeit“ oder „ich habe es satt, dass andere hungern“, wenn sie dies verbinden mit intelligenten Unterstützungsstrategien und mit den Gebern eine Kultur des Teilens entwickeln, gleichzeitig mit den Empfängern eine Kultur des eigenverantwortlichen Handelns.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, meine fünf Kieselsteine sind nicht gerade Leichtgewichte. Ich bin aber voller Zuversicht, dass wir uns nicht davor scheuen sollten, sie aufzunehmen in unserem Kampf gegen das, was uns bisweilen allzu groß und allzu bedrohlich erscheint. Wie es mit dem biblischen Goliath ausging, wir wissen es. Eine Gesellschaft, in deren Mitte die Überzeugung steht, sich gegen Armut und Ungerechtigkeit zu engagieren, hat gewichtige Grundlagen, um mit Partnern gemeinsam das volle Potential im Menschen zu wecken und kritisch den eigenen Lebensstil zu reflektieren. So verstandene Entwicklung ist eine ganzheitliche Aufgabe, die sich selbst als Ziel genügt. Sie erfasst alle und jeden einzelnen: Politik und Gesellschaft, Staat und Kirche. Daher bleibt deren enge Zusammenarbeit wichtig. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Misereor und Brot für die Welt sind der unentbehrliche Anfang kirchlichen Tuns, aber nie sein Ende.

Wir wissen es alle: die Armut und die Ungerechtigkeit, die in weiten Teilen der Welt das Leben der Menschen bedroht, sie sind von Menschen verursacht. Aber sie können auch durch Menschen überwunden werden. Und Sie alle hier im Saal haben dazu beigetragen, dass mehr Menschen in Würde und – soweit das in unserer Hand liegt – frei von Not leben können. Das verdient Respekt, weil Sie sich von der Größe der Aufgabe nicht haben entmutigen lassen. Und es verdient Dank, den ich Ihnen heute von Herzen ausspreche.

Ich danke allen, die auf den fernen und nahen Arbeitsfeldern der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, wie auch den Verantwortlichen in Kirche und Politik! In diesem Dank ist die Freude darüber enthalten, dass unsere Gesellschaft, unser Land nicht nur von der Dynamik der Rücksichtslosen geprägt ist, sondern auch vom Geist und der Tatkraft derer, die Not erkennen und wenden wollen. Wir können uns und unser Land nur achten, solange wir dieser Kultur des Lebens verpflichtet bleiben.