Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland zum Tag der Deutschen Einheit 2012

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 4. Oktober 2012

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 4. Oktober anlässlich des Tags der Deutschen Einheit 35 Bürgerinnen und Bürgern den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen: „Gestern haben wir die Deutsche Einheit gefeiert. Ich empfinde sie noch immer als ein unglaubliches Glück. Wir, das Volk, haben dies erreicht. Die friedliche Freiheitsrevolution von 1989 scheint uns heute oft wundersam, aber sie ist von Menschen erkämpft. Und sie ist die Geschichte einer Nation, die wir mögen dürfen. Wir können zudem immer dann eine besondere Nähe zu unserem Land erleben, wenn wir den vielen ehrenamtlich Engagierten begegnen, die mit ihrem selbstlosen Tun die Bürgergesellschaft bereichern, auch die Vielen, die für Wissenschaft und Kultur Großes leisten, und diejenigen, die uns als Künstlerinnen und Künstler mit außergewöhnlichen Erfahrungen und Gedanken beschenken. Wir brauchen diese bürgerliche Tatkraft und soziale Hingabe genauso, wie wir Institutionen brauchen, die Recht und Demokratie garantieren.“

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Ansprache

Viele besondere und außergewöhnliche Menschen schmücken heute das Schloss Bellevue. Dieses Schloss ist unter anderem auch deshalb wieder aufgebaut worden nach dem Krieg, weil es ein schönes Stück Architektur war und in Berlin sehr viel davon verlorengegangen ist. Man muss sich einmal vorstellen, dass all das, was in Berlin wieder aufgebaut worden ist, nicht existieren würde: Das wäre traurig. Aber noch trauriger wäre es, wenn es Menschen wie Sie, die wir heute ehren und auszeichnen, wenn es die nicht gegeben hätte. Das ist ein viel schönerer Schmuck als das, was wir an Architektur, bildender Kunst, Musik und allem anderen aufzubieten haben in einer Kulturnation. Eine Kulturnation wird nicht nur Kulturnation wegen der wahren Dinge, die Künstler uns schenken, und der großen Gebäude der Architektur, sondern weil es Menschen gibt, die im Stande sind, jeder Zeit wieder Gebäude der Menschlichkeit, der Kultur, des Glaubens und der Mitmenschlichkeit zu errichten.

Das ist das Fundament, auf dem ich Sie heute hier in Schloss Bellevue begrüße. Aus diesem Grund ist es mir eine besondere Freude. Ich weiß, dass ein Bundespräsident das eigentlich bei jeder Versammlung, bei jedem Essen hier sagen muss. Aber Sie spüren, weil Sie mein Herz zu erkennen vermögen, wie ernst es mir ist, wenn ich sage, dass mir eine Begegnung wie diese ganz besondere Freude macht.

Wir haben gestern den Tag der Einheit begangen, unseren Nationalfeiertag. Viele Menschen müssen sich ja, weil die deutschen Gene so tief in ihnen verankert sind, immer wieder von der Kultur des Verdrusses, die unser Land prägt, lösen, um einmal in den Zustand der Freude zu gelangen. Gestern ist es ja wieder partiell gelungen. Wir verbinden unser Zusammentreffen hier mit der Freude, die wir gestern empfunden haben, gerade im Angesicht der Dinge, die uns im Fernsehen, in den Zeitungen noch einmal vor Augen geführt wurden, woher wir eigentlich kommen. Wir können uns ja nur verstehen, wenn wir wissen, woher wir kommen. Dieser lange Weg unserer Nation und das, was wir gestern gefeiert haben, gehören ja immer irgendwie zusammen. Die letzten Jahrzehnte sind Jahrzehnte der Freude und des Glücks. In Sichtweite von hier stand einst die Berliner Mauer. Alle, die hier gewohnt haben oder die hier öfter waren, wissen es nur zu gut. Aber den jungen Leuten, unseren Enkeln und Kindern, je nach Alter, müssen wir das immer wieder erklären. Was, hier war eine Mauer? Das ist ja kaum zu glauben. Mühsam suchen wir dann die Spur, die unsere Stadtarchitektur gelegt hat. Zwei Pflastersteine irgendwo auf der Straße. Ach hier stand einmal die Mauer. Ich möchte gerne, dass Sie daran denken, wenn wir uns hier heute Morgen treffen.

Einige von Ihnen, die heute geehrt werden oder die als Gäste mitgekommen sind, wissen auch von der besonderen Beklemmung, die jenseits der Mauer über den Menschen lag. Es sind Menschen unter uns, die einfach dort nicht mehr atmen konnten. Die, um dichten oder forschen oder Künstler sein zu können, gehen mussten. Wir erinnern uns heute an ihre Wege. Einige kennen also dieses Lebensgefühl, das mit dem Wort „Mauer“ sofort in den Seelen derer auftaucht, die eingemauert waren. Gleichzeitig, wenn ich an diese trüben und dunklen, diese Gefühle des Eingemauertseins erinnere, machen wir uns aber bewusst, dass wir heute hier sind. Irgendwie, auch wenn wir noch so viele Narben haben auf unserer Seele, wir sind dann doch die Sieger geworden. Merkwürdig, Menschen in meinem Alter hatten das eigentlich erst für die Generation ihrer Kinder und Enkel erhofft. Aber wir sind es und wir können uns fröhlich anschauen: Ja, es ist so geworden!

Wenn Menschen ihre Angst verlieren oder wenn sie trotz ihrer Angst anfangen, die Freiheit mehr zu lieben als ihre Anpassung und ihre Furcht, dann geschehen gewaltige Dinge, dann können Mauern fallen. Das sind wir gewesen, wir das Volk, haben das erreicht. Das deutsche Volk, das so gerne die Einheit feiert, darf nie vergessen: Zur Einheit sind wir nur gekommen, weil vorher Menschen die Freiheit erkämpft haben. Das war, wenn wir die Geschichte unserer Nation kennen, ein besonderes Geschenk, weil wir als Deutsche eine besondere Begabung haben, uns an die Verhältnisse anzupassen. Wir haben ein gesteigertes Adaptionsvermögen und wir stellen uns in der Regel mit denen, die uns beherrschen, recht gut. Das tun wir sogar halbwegs anständig, wenn nicht die großen Brüche kommen, wo dann ganz normale Menschen unglaublich von sich selbst wegkommen, ver-kommen im wahrsten Sinne des Wortes.

Unglaublich, dass zu einer solchen Geschichte der Anpassung und des Gehorsams, des gut funktionierenden Gehorsams übrigens, dann dieses Freiheitsaufbegehren gehört, das uns hier alle in dieser Weise zusammen führt. Normalerweise hätten Roland Jahn, Freya Klier und ich und viele andere unter uns heute, wir hätten vor unseren Fernsehern gesessen, wenn wir nicht grade in Dresden gelebt hätten oder auf Rügen, wo man nichts sehen konnte. Wir hätten vor dem Fernseher gesessen und hätten solchen Ereignissen zugeschaut. Jetzt aber erinnern wir uns bewusst dieser guten Seiten unserer Nation, die wir wieder mögen dürfen, seitdem sie Gutes geschaffen hat. Die Freiheit, die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, schließlich die Einheit. Und dieses Gute nach so viel Finsternis, das ist schon staunenswert. Es ist nicht einfach ein Wunder. Wunder geschehen ohne menschliches Zutun. Es ist etwas Wunderbares, das durch menschliches Tun, den menschlichen Geist und den menschlichen Mut geschehen ist. Und weil das so ist, können wir uns heute auch ganz fröhlich in einer besonderen Nähe zu dieser Nation empfinden. Das sagt einer, der früher, als er jung war, alles andere mochte, nur nicht diese Nation.
Wir können aber nicht nur, wenn wir auf die jüngere Geschichte blicken, eine Nähe zu unserem Land entwickeln, sondern wir können es auch, wenn wir in die Gegenwart schauen – und dazu ist heute nun ein besonderer Anlass.

Wir erleben in unserer Nähe engagierte Menschen. Wenn wir uns umschauen in Deutschland, sehen wir Sie, die wir heute auszeichnen, ehrenamtlich Engagierte, die mit selbstlosem Tun den Bürgersinn fördern und die Bürgergesellschaft bereichern. Auch die vielen sehen wir, die in der Wissenschaft, in den Künsten, in der Kultur täglich Großes schaffen, und diejenigen, die uns als Künstlerinnen und Künstler mit außergewöhnlichen Geschenken beglücken.

Um dies alles wahrzunehmen und anzuerkennen, uns daran zu freuen, deshalb haben wir uns hier versammelt. Der Tag der Deutschen Einheit, unser Nationalfeiertag, ist für alle Bundespräsidenten, so also auch für mich, Anlass, die Menschen zu ehren, die in unserem Land Besonderes geleistet haben und die sich ganz besonders verdient gemacht haben. Heute darf ich nun diese Ehrung zum ersten Mal vollziehen und Sie spüren mir an, dass das nicht nur eine Pflicht ist, sondern dass es eine Freude ist, eine große Freude!

Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, hat 1951 zur Einführung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland einmal gesagt: „Der Staat muss danken können.“ Deshalb versammeln wir uns. Stellvertretend für viele, viele Bürgerinnen und Bürger dieses Landes danke ich Ihnen heute für unermüdliches Engagement und für Ihre herausragenden Leistungen. Sie haben Ihre Ideen Wirklichkeit werden lassen – kulturell oder unternehmerisch, mit sozialen wie mit ökologischen Zielen. Wir ehren heute nicht nur den Wunsch und die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft. Wir ehren Sie als Menschen, die mit Entschlossenheit und Tatkraft Wünsche und Sehnsucht nach einer besseren Welt konkret in Handeln, in Tun, umgesetzt haben. Wir ehren Tatkraft und Gestaltungswillen.

Wenn wir das tun, machen wir uns bewusst, dass in unserem Land viel mehr Menschen zu ehren sind, als wir das gemeinhin annehmen. In unserem Gemeinwesen engagiert sich jeder Dritte außerhalb seiner beruflichen Pflichten für etwas, von dem ich nachher eine lange Liste vortragen werde. Jeder Dritte, das müssen wir uns bewusst machen – gerade wenn wir manchmal unzufrieden sind mit Politik oder Politikern oder klagen über das Funktionieren der Institutionen. Unsere Institutionen und unsere Politik sind nicht so schlecht, wie wir manchmal meckern. Aber selbst wenn sie das wären, dann hätten wir noch eine Gestaltungskraft der Zivilgesellschaft mit Ihnen als engagierte Bürger. Sie stehen nicht einfach entfernt vom Handeln derer, die einen politischen Auftrag zur Gestaltung und zur Führung haben.

Sondern Sie gestalten mit – in einer Parallelgesellschaft, in einer, die so gar nicht in der Verfassung steht. In der Verfassung sind die Grundlagen gelegt für Ihr Engagement und für Ihre Haltung. Aber tatsächlich gestalten wir von unten noch einmal das, was unsere Verfassung, was die Demokratie überhaupt meint. Und jeder Dritte tut das. Es gibt Länder, wo es noch mehr sind. Aber wir finden das schon ganz schön großartig. Besonders, wenn wir aus Ostdeutschland kommen, und besonders, wenn wir, wie ich, aus Nordostdeutschland kommen, wo die Mentalität der Leute nicht unbedingt gleich auf Mittun oder gar Vorangehen ausgerichtet ist.

Das heißt, es gibt Kulturen, die fördern das Engagement der Bürger, und es gibt Kulturen, die haben dieses Mittun Jahrzehnte lang geblockt. All das spielt sich in der einen Bundesrepublik Deutschland ab. Zweierlei Traditionen – eine der Einladung, die Bürgerexistenz zu erlernen, und eine Kultur des Abweisens der Eigeninitiative und der Eigenverantwortung. Deshalb freue ich mich ganz besonders über diejenigen, die trotz solch einer Prägung, der Blockade von Eigenverantwortlichkeit, durchgedrungen sind zu dieser selbstbewussten und selbstbestimmten Haltung des Gestaltens und der Eigenverantwortung.

Ich appelliere an Sie, der Bundespräsident bittet Sie: Seien Sie Menschen, die diese Haltung weiter fördern, bleiben Sie Vorbild. Bürgerlichkeit, bürgerschaftliche Gesinnung zeigt sich eben darin, dass wir Verantwortung kennen, Verantwortung wollen und dass wir diese Verantwortung auch tragen. Das heißt, wir leben auch ein Stück vor, was wir von allen anderen in unseren Familien oder auch in unserem Umfeld gerne sehen möchten. Das ist eine segensreiche Art von Vorbild. Und die Ermutigung, die von Ihnen ausgeht, das ist für ein ganzes Land, nicht nur für Sie persönlich, ein Segen.

Scheuen wir uns also nicht, künftig häufiger zu fragen: Was für Stärken habe ich und was könnte ich tun, dass diese Stärken auch anderen zu Gute kommen können? Wofür kann ich mit geringer Mühe auch noch etwas freie Zeit, manchmal auch ein wenig freies Geld hergeben? Dazu gehört es auch, dass wir uns gegenseitig auf Potenziale ansprechen, die in uns ruhen, weil es manchmal so etwas wie den blinden Fleck gibt. Wir erkennen nicht gleich, was eigentlich in uns steckt. Darum brauchen Menschen gegenseitige Ermutigung.

Es soll dabei nicht darum gehen, dass wir uns überfordern. Überforderung ist ein schlimmes Problem, weil der nächste Schritt nach der Überforderung die Ermattung und die Entmutigung ist. Aber wir wollen sehen, was in uns steckt. Weil wir gesehen haben, was überraschender Weise aus unserem Leben herausgewachsen ist. Und ich ehre Sie heute dafür, dass Sie genau das getan haben – und genau das gelebt haben – in Ihrem früheren Leben oder genau jetzt.

Wir ehren Sie, weil Sie die Menschenrechte verteidigen, den Bedürftigen helfen, weil Sie Räume der Begegnung schaffen für politisch, künstlerisch oder religiös Suchende. Sie kümmern sich um Kinder und Jugendliche, Sie helfen in Not geratenen Familien oder sorgen für Orte kindlicher Freude. Sie bringen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Sie kämpfen gegen tückische Krankheiten, sorgen für die Beratung von Menschen in persönlichen und sozialen Notlagen jeder Art. Sie organisieren den Austausch zwischen Studierenden und fördern die Verständigung zwischen den Völkern. Sie ermöglichen Hilfe im Ausland bei Katastrophen und Notsituationen. Sie setzen sich für gelingende Integration ein und für den interreligiösen Dialog in unserem Land.

Sie knüpfen bis heute – und das bewegt mich sehr – an Ihre kirchliche Friedens- und Jugendarbeit in der DDR, an Ihre mutigen Taten in der Friedens- und Demokratiebewegung vor 1989 an. Sie erinnern an Unrecht, Sie arbeiten gegen das Vergessen von Schuld und Leid. Sie engagieren sich gegen Extremismus. Sie sind Vorbilder für eine ganz allgemeine bürgerliche Regsamkeit und Achtsamkeit vor Ort – politisch und in Initiativen, in Vereinen oder in Verbänden.

Sie bewahren Kulturbesitz und Überlieferung oder stellen Wertvolles wieder her. Sie fördern Kultur, Buch- und Lesekultur, die Musik. Sie lassen Künstler und Gesellschaft einander begegnen. Sie verkörpern die Theaterkultur dieses Landes! Sie haben Großes in der Kunst geschaffen: Gedichte, Gemälde, neue soziale Ausdrucksformen. Sie haben sich um die Wissenschaften in diesem Land verdient gemacht, Sie helfen naturwissenschaftlich unmusikalischen Menschen wie mir, Naturwissenschaften und Technik zu verstehen. Sie haben uns in Forschung, Entwicklung und Unternehmertum ökologisch weitergeholfen und den industriell gefertigten Dingen im Alltag unseres Lebens ein rühmenswertes Design verpasst. Sie helfen uns die Verfassung unseres Staates zu verstehen und wertzuschätzen.

In all dem, was Sie so bewunderungswürdig tun, machen Sie unser Land zu einem Land, in dem wir alle gerne leben. Sie machen unser Land solidarisch. Sie machen unser Land zu einem humanen, geistreichen und kunstsinnigen Ort.

Der Orden ist eine Würdigung Ihres Werkes, Ihrer Leistungen und Ihrer Verdienste, auf die Sie mit Recht stolz sein dürfen. Der Orden ehrt Sie, er ehrt das, was Sie tun, und er ehrt auch die Menschen, die sich in ähnlicher Weise engagieren wie Sie. Und er soll ein Ansporn für andere sein, Ihrem guten Beispiel zu folgen.

Sie haben also allen Grund, sich über diese Auszeichnung zu freuen und selbstbewusst zu tragen, wenn Sie sie erst einmal haben – übrigens nicht nur heute, sondern ich würde die Orden gern öfter sehen, auch in der Öffentlichkeit.

Ich freue mich nun, Sie, die das wahrhaftig verdient haben, zu ehren.

Es ist unser Land, es ist unser Staat, der Ihnen dankt!