Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes an die Medaillengewinnerinnen und -gewinner der Olympischen und Paralympischen Sommerspiele 2012 in London

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 7. November 2012

Bundespräsident Joachim Gauck zur Verleihung des Silbernen Lorbeerblattes: "Meine Wertschätzung gehört Ihnen allen gleichermaßen. Wenn ich mit staunenden Augen auf Ihre unglaublichen Leistungen schaue, kann ich dabei keinen Unterschied machen zwischen Gold, Silber und Bronze und auch nicht zwischen den beiden Wettbewerben, den Olympischen und Paralympischen Spielen."

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Ansprache

Herzlich willkommen in Bellevue! Ich bin inzwischen schon oft hier an das Rednerpult getreten, aber der Blick ins Publikum ist immer wieder eine schöne Überraschung. Dieser Saal kann fast alles sein: Bürgerforum, Kulturbühne, diplomatisches Parkett, heute so etwas wie ein Sportforum. Liebe Sportlerinnen und Sportler, Ihr Land will Ihnen Danke sagen!

Wir denken noch einmal an das Olympische Feuer in London. Wir fühlen vielleicht noch einmal die unglaubliche Anspannung vor und bei den Wettkämpfen oder die Leichtigkeit beim späteren Zusammensein im Deutschen Haus. Es ist etwas ganz Besonderes, in solchen Momenten Bundespräsident zu sein. Wenn ich heute 164 Mal das Silberne Lorbeerblatt verleihe, schwingen all diese Erinnerungen mit – und natürlich die große Freude, Sie heute wiederzusehen, liebe Ehrengäste, die Sie als Einzelstarter oder  Mannschaft in London erfolgreich waren, Ihre erste Medaille gewonnen haben oder sogar mehrere, manchmal als glänzende Erweiterung einer schon bestehenden Sammlung. Einige von Ihnen gewannen mit Weltrekord – alle gewannen die Aufmerksamkeit eines Weltpublikums, das sich an Ihren Leistungen begeistern konnte: beim Laufen, Springen, Radfahren, Schwimmen, mit Boot, Ball, Barren und in all den Disziplinen, die wir gleich noch einmal hören werden.

Meine Wertschätzung gehört ganz besonders Ihnen, die ich heute auszeichnen darf, aber auch den anderen Mitgliedern unserer Mannschaften, die ich in London getroffen habe. Ich weiß die Arbeit, die Kraft und den Willen auch derer zu schätzen, die nicht das Silberne Lorbeerblatt empfangen, sich aber sehr angestrengt haben. Ich schaue mit staunenden Augen auf die unglaublichen Leistungen und will heuten keinen Unterschied machen etwa bei der Farbe der Medaillen und auch nicht zwischen den beiden Wettbewerben, den Olympischen und Paralympischen Spielen. Wir übersehen nicht die Unterschiede, die es in unserer Gesellschaft und damit auch in unserem Sport gibt. Aber ich möchte nicht das Trennende hervorheben, sondern das Gemeinsame. 

Friedhelm Beucher hat mich vorhin angesprochen auf eine Rede, die ich vor ein paar Tagen hier in Berlin gehalten habe beim 100-jährigen Jubiläum des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes. Wir haben bei diesem Anlass über die Probleme der Inklusion gesprochen, zum Beispiel das  schablonenartige Denken, unsere Sprachmuster, die mancher Veränderung im Wege stehen. Wie oft haben wir bei den Paralympics gehört: „Oh, dieses oder jenes Ergebnis ist fabelhaft – und das alles trotz der Behinderung!“ Nicht jeder, der so gelobt wird, empfindet dabei Anerkennung. Und wenn wir einen Augenblick innehalten, verstehen wir auch, warum. Ein Vergleich kann helfen. Man stelle sich vor, ich würde zu meiner Lebensgefährtin, einer Journalistin, sagen: „Daniela, das hast Du wunderbar geschrieben – obwohl Du eine Frau bist.“ Oder zu unseren früheren Nachbarn in Schöneberg: „Wie schön, dass Sie hier wohnen – obwohl Sie gar nicht in Deutschland geboren wurden.“ Undenkbar! Warum stört uns der Nachsatz bei den Paralympics eigentlich nicht genauso?

Oder der Name der Veranstaltung? „Para“ steht als Vorsilbe für „neben“. Nebensportschauplatz oder ein Paralleluniversum des Sports?, könnte man sich fragen. Das deckt sich so gar nicht mit meiner Erinnerung an London. Ich saß direkt an der Rennbahn, als Tobias Graf seinen Rekord erkämpft hat. Da war nichts „para“, wenn schon, dann „supra“ und ganz sicher sehr real: das Tempo der Fahrer und auch der Jubel des Publikums.

Die wichtigste Gemeinsamkeit aller Wettkämpfe – ob mit oder ohne Handicap – lautet: Der olympische Gedanke ist für alle Sportlerinnen und Sportler in gleicher Weise wichtig. Er sollte es jedenfalls sein. Wir wissen natürlich, dass es nicht nur die glücklichen Momente auf dem Siegerpodest gibt. Es gibt auch Nachrichten etwa über Doping, die gerade Sie als Sportminister, lieber Herr Friedrich, zu Recht immer wieder aufgreifen. Dafür danke ich Ihnen und den vielen Aktivisten des Antidopingkampfes, bei der Nada, beim DOSB und an anderen Stellen. Wir haben viel Kritikwürdiges erlebt und deshalb brauchen wir bei diesem Thema weiterhin einen kraftvollen und sehr bewussten Einsatz. Ich könnte es mir leichter machen und diese Seite des Sports komplett ausblenden. Schließlich sind wir bei einer Feierstunde. Aber damit würde ich der Symbolik des Lorbeerblattes nicht gerecht werden. Es soll ja nicht nur für herausragende messbare Leistungen stehen, sondern auch für einen Leistungsgedanken, der auf Ehrlichkeit und Fairness gründet und deshalb unserem Land Ehre macht.

Damit verbinden sich von nun an Ihre Namen, liebe Ehrengäste. Und dazu gehört sehr viel mehr als das, was man mit der Stoppuhr, mit der Weitenmessung, oder mit Technik- oder Haltungsnoten erfassen kann. Sport verkörpert unser Idealbild einer Welt, in der beides möglich ist: Harter Wettbewerb und eine spielerische Existenz, die dem Leben der Menschen Freude macht. Der Leistungsmensch und der spielende Mensch, kommen eben in dieser Lebenswelt des Sports zusammen. Das gibt dem Sport so ein ganz besonderen und einprägsamen Charakter und eine ganz besondere Bedeutung.  Vielleicht ist es diese Mischung, die es uns erleichtert, mitzufiebern und mitzufühlen, mitzujubeln bei den großen sportlichen Wochen. ganz emotional, glücklich, dankbar und auch stolz auf unser Land zu sein. Und aus genau den gleichen Gründen sind Sportlerinnen und Sportler wie Sie für unsere Gesellschaft so wichtig, auch jenseits der Trainingsstätten und Stadien, sogar jenseits der aktiven Sportlerkarriere: Wir brauchen Sie als Vorbilderer für alle Lebensbereiche! Keine Angst, Sie haben diese Vorbildrolle nicht allein zu tragen. Auf den unterschiedlichsten Ebenen unserer Gesellschaft existieren schon gute Vorbilder. Aber mit Ihrer Popularität, mit den medialen Möglichkeiten, die sich Spitzenathleten bieten, sind Sie besonders geeignete Vorbilder.

Sie haben bewiesen, dass es sich lohnt, sich dem Wettbewerb zu stellen. Sie haben gezeigt, dass wir tiefste Freude und eine tiefere Bejahung unseres eigenen Ichs dann erleben, wenn wir uns für etwas angestrengt und Mühen in Kauf genommen haben. Sie haben jahrelang ein Extra-Stück Ihres Lebens für die Anstrengung reserviert, viele von klein auf: Die Anstrengung, es an die Sportschule zu schaffen. Die Anstrengung, neben der ersten großen Liebe noch die Trainingseinheiten im Zeitplan unterzubringen. Die Anstrengung, trotz Misserfolg oder einer Verletzung nicht aufzugeben. Sie sind nicht nur körperlich trainiert, sondern auch mental. Sie haben Ihren Erfolg erlangt, erkämpft, weil Sie sich ständig gefordert haben. Diese Stärke – der Sportsgeist im buchstäblichen Sinne – wird bleiben. Mit etwas Glück bis ins hohe Alter. Sich zu fordern und dafür belohnt zu werden, es ist etwas Großartiges. Mein größter Wunsch ist, dass unsere Gesellschaft begreift: Wir tun nichts Schechtes, wenn wir uns fordern. Dass wir Herausforderungen annehmen, statt sie zu scheuen und vor ihnen wegzulaufen. Diese Einstellung hat Sie, liebe Ehrengäste, nicht unglücklich gemacht, sondern stark.

Wenn ich eben über Herausforderungen gesprochen habe, dann denke ich  auch an Folgendes: Herr Bach etwa, der heute in Asien unterwegs ist, Herr Brechtken und Herr Beucher freuen sich bestimmt über jede und jeden, der nach der eigenen Sportkarriere Trainer wird oder Botschafterin der Fairness. Tatsache ist: Unsere Vereine, unsere Verbände sind angewiesen auf Nachwuchskräfte, die ehrenamtliche Aufgaben übernehmen. Und ich bitte Sie herzlich, später in Ihrem Leben diesen Gedanken näherzutreten.

Auch in Ausbildung, Studium und Beruf brauchen wir Menschen, die faires Wettbewerbsdenken mitbringen, und die nicht durch Tricksereien und durch  Ellenbogen ans Ziel kommen wollen, sondern  selbst erarbeitete Erfolge schätzen. Ich denke an Kampagnen, die außerhalb des Sports von vielen von Ihnen gemacht werden: gegen Rechtsextremismus, zur Unterstützung des  Integrationsthemas, gegen Gewalt. Sie haben viele Möglichkeiten, die eigene Stärke für die Schwächsten in unserer Gesellschaft einzusetzen.

Das soll nicht wie eine Verpflichtung klingen. Eher wie eine freundliche Ermunterung. Betrachten wir das kleine Silberne Lorbeerblatt als Symbol für die besonders große Anstrengung. Wer es demnächst als Sportsoldatin oder Polizist an der Uniform oder als Privatmann am Anzug trägt, wird sich vielleicht daran erinnern: Sportsgeist ist zeitlos – und ich wünsche mir: immer auch ansteckend!

Ich freue mich, Ihnen dieses Ehrenzeichen jetzt verleihen zu dürfen!