„Führungstreffen Wirtschaft 2012“ der Süddeutschen Zeitung

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 15. November 2012

Der Bundespräsident hat am 15. November beim „Führungstreffen Wirtschaft 2012“ der Süddeutschen Zeitung in Berlin die Eröffnungsrede gehalten: "Wir haben Freiheit und Verantwortung auseinanderdriften lassen und müssen sie nun wieder enger zusammenführen. Verantwortliches Handeln heißt jetzt: aus Freiheit ein Freund mancher Grenzen zu sein!"

Bundespräsident Joachim Gauck am Rednerpult

Zuerst danke ich Ihnen, lieber Herr Kister, für die Einladung. Sie sind unser Gastgeber, wir freuen uns! In der Ankündigung zu diesem Kongress stand das Wort „Krise“, genauer gesagt: „Finanz- und Schuldenkrise“, und gleich danach kam dann der freundliche Satz: „Er“ – gemeint war ich – „kann Orientierung geben.“

Danke für diesen Vertrauensvorschuss! Das nennt man vielleicht einen Kredit für klare Worte. Ich will gern versuchen ihn einzulösen im Rahmen der Möglichkeiten, aber auch der Grenzen, die das Amt des Bundespräsidenten nun einmal hat. Dieses Amt macht mich nicht zum Ökonomen, auch nicht zum Parlamentarier, der Entscheidungen zu fällen hätte, und schon gar nicht macht es mich zum Propheten. Aber es schenkt mir Unabhängigkeit, Möglichkeiten zum offenen Wort und Momente wie diese, in denen ich laut Programmbeschreibung zugleich als Deutscher, Europäer und als Weltbürger sprechen darf.

„Das neue Europa in einer neuen Weltwirtschaft“: So ist der Titel Ihrer Veranstaltung. Der Titel würde mindestens für zwei Vorträge reichen. Unserem Miteinander in Europa werde ich an anderer Stelle gern eine Rede widmen. Die Weltwirtschaft – Stichwort „Schwellenländer“ – ändert sich derzeit in einem Tempo, dass die Wortbeiträge auf Kongressen schon oft beim gemeinsamen Abendessen überholt sind. Umso mehr lohnt es sich, nach den hinter der Krise und hinter unserer Sehnsucht nach Erneuerung liegenden Motiven zu suchen. Das soll heute mein Thema sein. Unter dem Gesamtthema „Freiheit ermöglichen, Verantwortung wahrnehmen“, das ich mir gesetzt habe, frage ich, wie es uns gelingt, überzeugend Freiheit und Verantwortung zu verbinden? Dabei geht es mir nicht nur um die Frage, wie wir unser Tun moralisch beurteilen oder moralisch verbessern wollen, sondern auch darum, wie wir Fakten schaffen für Wettbewerbsfähigkeit und Standortstärke. Es gibt neben der politischen auch eine ökonomische Ratio von Freiheit und Verantwortung!

Schauen wir zurück: Das Jahr 2008 steht für einen Schock, der bis heute nachwirkt. Die Finanzbranche gehört seither zu den meistgescholtenen Berufsgruppen überhaupt. Allerdings: Mancher Bankkaufmann fühlt sich ja genauso getäuscht und betrogen wie mancher Sparer oder Investor, dessen Traum von einem 25-prozentigen Gewinn in einem 100-prozentigen Verlust endete.

Auch einige Führende erwiesen sich als Verführte, manchmal auch als Verführer: mit ihrem Gewinnstreben und ihrer Gier – nicht nur im Finanzsektor, mit ihren Wohlstandsversprechen und überbordenden Wachstumsfantasien – nicht nur in der Politik, mit ihrer Gutgläubigkeit und ihren überzogenen Erwartungen – nicht nur auf der Kundenseite. Maßlosigkeit hat uns in diese Krise geführt. Zu spät bemerkten viele Akteure: Wenn das Augenmaß verloren geht, schwinden Basiswerte – Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Vernunft und immer wieder Vertrauen. Nicht alles, was legal war, empfinden wir heute als legitim. Wir sehen: Überall dort, wo das vernünftige Maß nicht mehr Maßstab war, wo Freiräume überdehnt und missbraucht wurden – im Kreditwesen, bei Schattenbanken, im Immobiliensektor oder auch bei öffentlichen Haushalten wie bei der privaten Verschuldung – überall dort hat die Krise nach uns und um sich gegriffen. Aus Verantwortungskrisen wurden Wirtschaftskrisen und Staatsschuldenkrisen, weil Ansprüche und Anstrengungen einander nicht mehr entsprachen.

Wer die aktuellen Beschäftigungszahlen und das Wachstum in Deutschland betrachtet, könnte nun meinen, die Schieflage sei überwunden. Zugleich spüren wir aber an jeder Ecke, dass unsere innere Verfasstheit nach wie vor in Unordnung ist. Es gibt ein Unbehagen, das Experten wie Laien teilen, ohne es im Detail ausbuchstabieren zu können. Wir lesen alle paar Tage von der Nervosität der Märkte. Wir hören, wie die Nachbarin zum Autohändler sagt: „Ehe das Geld weg ist, mache ich meinem Enkel lieber eine Freude.“ Sie sagt das ruhig und pragmatisch, fern von aller Panik. Aber Sätze wie diese zeigen, dass sich – so gut es uns geht – im Denken irgendwie etwas verändert hat. Der Glaube an ein „Weiter so“ ist erschüttert.

Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Erstens: die Regeln, also den äußeren Rahmen des Handelns, zu korrigieren. Das ist gut und ist richtig, denn Rahmen und Regeln sind unverzichtbar. Darauf komme ich zurück. Genauso dringend ist die Option zwei: die Überprüfung unserer inneren Überzeugungen, unserer Motive und Haltungen. Dieser Prozess scheint vielfach ins Stocken geraten zu sein.

Erinnern wir uns. Die Diskussion nach 2008 gipfelte in Stichworten wie „Casino-Kapitalismus“. Von Zockern und Hasardeuren war die Rede. Bankenkrise und Schuldenkrise avancierten zum Alltagsvokabular und neue Worte wie Bad Bank haben ihren Platz dort bis heute gefunden. Nicht nur Griechenland, eine ganze Reihe von Ländern in Europa, Amerika und Asien, auch Deutschland selbst leidet unter einer zuweilen erdrückenden Schuldenlast. Die Zusammenhänge sind komplex, Probleme haben sich oftmals über Jahre oder gar Jahrzehnte kumuliert. Schuldzuweisungen gibt es jede Menge. Und eher selten sind es die Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik, die bekennen: „Ich habe einen Fehler gemacht.“

Ein neuer Umgang mit Fehlern stünde uns deshalb gut zu Gesicht. Zur Führung, Größe und Glaubwürdigkeit gehört es auch, Fehler zu erkennen und anzuerkennen. Ein Freund aus dem Ausland hat einmal zu mir gesagt, was er als typisch deutsch empfindet: „Deutsche betrachten einen Fehler als Scheitern, denken an Versagen. Bei uns dagegen ist ein Fehler eher eine wertvolle Erfahrung, die beim Neubeginn hilft.“ Vielleicht können wir von dieser Haltung lernen. Wenn wir Ursachen und Wege aus der Krise identifizieren wollen, dann lohnt es sich jedenfalls, unsere Denk-, Sprach- und Verhaltensmuster zu überprüfen.

In der Vergangenheit lag eine bequeme Lösung im Verschieben von Verantwortlichkeit ins Abstrakte. Das heißt dann etwa so: „Der Markt hat versagt.“ „Die Regulierung hat gefehlt.“ „Die Sanktion hat nicht gegriffen.“ Schuld war „das System“, „die Politik“ oder am besten gleich: „die Globalisierung“ oder noch simpler „der Kapitalismus“.

Hören wir uns eigentlich noch zu? Wir sprechen so über einen abstrakten Feind, der unüberwindbar klingt wie Militärmacht und Mauern des Kalten Krieges. Das Problem einer solchen Abstraktion ist: In dieser Welt gibt es niemanden, mit dem man verhandeln, Kompromisse finden, Kooperationen entwickeln oder gar Frieden schließen könnte. Nach Sätzen ohne Ich-Pronomen fehlt meistens das Subjekt, das Selbstkritik üben und daran reifen könnte. Die Spur der Verantwortung verliert sich dann im Klagen über die Komplexität der Dinge, im Modus der Unzuständigkeit oder schlicht der Verzagtheit. Wir schimpfen eloquent auf anonyme Märkte, Massen oder Mechanismen – wir sehen zu selten auf die Menschen, ihre Haltung, mit der sie Entscheidungen treffen und etwas verändern können.

Dazu kommt eine andere Vorliebe: Wir sehen lieber auf die Gegenwart. Wenn es um Folgen für die Zukunft geht, blenden wir Verantwortung gern aus oder nehmen – mehr oder weniger bewusst – in Kauf, dass unsere Entscheidungskriterien von heute den Anforderungen von morgen nicht entsprechen.

Wer aus dem Alltagsgeschäft einen Moment zurücktritt und sich fragt, ob die größten globalen Probleme – ich sage Probleme, nicht Herausforderungen – etwas gemeinsam haben, der wird feststellen: Es gibt einen gemeinsamen Nenner bei Überschuldung, Einkommensschere, Umweltzerstörung und bei vielem anderen. Immer haben wir uns zu einem Zeitpunkt X – „damals“ – entschieden, etwas zu tun, dessen Folgekosten für die Zukunft wir entweder nicht absehen wollten oder nicht absichern konnten.

Wir haben den Preis unseres Handelns vom Augenblick der Entscheidung entkoppelt und damit zwei Dinge getrennt, die zusammengehören: die Freiheit, etwas zu tun, und die Verantwortung, für etwas gerade zu stehen. Stattdessen haben wir manche Lasten verantwortungslos in die Lebenszeit unserer Enkel einfach verschoben. Ich sage „wir“, weil ich nur wenige kenne, die diesem Muster nicht irgendwann einmal erlegen waren. In einigen Ländern Europas stehen die Älteren, die jahrzehntelang mit besten Absichten für Wohlstand und Lebensqualität geschuftet haben, inzwischen ratlos vor einer Jugend, einer ganzen großen Bevölkerungsgruppe, die kritisch nachfragt und sich als Opfer aufsummierter Versäumnisse empfindet: ohne Ausbildung, ohne Arbeit, ohne Perspektive auf ein selbstverwirklichtes Leben in Beruf und Gesellschaft.

Das sind nun wahrlich beunruhigende Entwicklungen. Ich kann hier natürlich keine Hilfe zaubern, wenn ich diese Dinge beschreibe, aber ich kann sehr wohl für eine Haltung werben. Ich wünsche mir, dass wir unsere Vorstellungen von Verantwortung hinterfragen und – wo nötig – Verantwortung überzeugender wahrnehmen, Verantwortung verankern im Hier und Heute. Und dabei die Zukunft mit einkalkulieren! Verantwortung darf kein Geschäft zu Lasten Dritter sein. Wer sie übernimmt, muss bereit sein, sie sofort und nachhaltig zu tragen. In Nachhaltigkeit findet sich der Wortstamm für Haltung. Nachhaltigkeit bedeutet, von Unternehmern, Politikern wie Interessengruppen zu erwarten, dass sie ihre Entscheidungsprozesse verbinden mit der Frage, ob sie das ganze System überlasten und der Allgemeinheit schaden oder mit welcher Alternative sie Zukunftsrisiken klein halten können.

Indem ich die Verantwortung für die Zukunft so hervorhebe, übersehe ich nicht die bereits gelingenden Seiten der Gegenwart, im Gegenteil: Diese Seiten will ich stärken. Und ich weiß, dass in der deutschen Wirtschaft – nicht nur dort! – Verantwortung schon heute an vielen Stellen vorbildlich gelebt wird. Dafür bin ich dankbar. Hier im Saal, bei Ihrer Konferenz sitzen Zeugen dafür, Verantwortliche, Macher: fachlich exzellente, umsichtig und integer handelnde Persönlichkeiten.

Ich bin dankbar, wenn Gäste aus dem Ausland mir in Bellevue erzählen, welchen guten Ruf deutsche Unternehmen und deutsche Unternehmer und ihre Produkte in der Welt haben, dass „made in Germany“ für Qualität, Verlässlichkeit und hohe Standards steht. Dann erzählen sie mir sehr oft, wie sehr sie das duale Ausbildungssystem bewundern. Ich nenne dies als konkretes Beispiel, wie Verantwortung über Unternehmensgewinne hinaus bejaht und gefördert, auch eingeübt wird. Es gibt eine Unternehmerkultur, zu der dieses System einfach dazu gehört. All das sehen wir. Wir stellen es nicht in Frage, wir freuen uns darüber. Es ist Quelle unserer mentalen Kraft. Genauso außer Frage steht, dass wir uns mit diesem Gedanken nicht auf eine Insel zurückziehen können, denn wir wollen doch ein neues Europa und eine neue Weltwirtschaft mit aufbauen. Gerade als erfolgreiche Wirtschaftsnation sind wir doch ein Teil einer großen Dynamik, in der Führen und Verführtwerden auch künftig näher beieinander liegen könnten, als uns lieb ist.

Ich sehe Führungskräfte in einer dreifachen Verantwortung: nach innen, nach außen und für ein kooperatives Miteinander in unserer Gesellschaft. Ich kann es auch so ausdrücken: Es geht um die Verantwortung für den Erfolg des Unternehmens am Markt. Es geht um die Verantwortung für die Akzeptanz des Unternehmens in der Gesellschaft. Und es geht um die Verantwortung für die Regeln, die gelten sollen im Zusammenleben. Diese Kategorien überlappen sich, genauso wie das Leben, das sich ja auch nicht trennscharf definieren lässt. Entscheidend ist für mich bei dieser Trias: Führung verpflichtet nicht nur in einer Hinsicht. Eine der wichtigsten Lehren aus der Krise war, dass wir unseren Blick beständig weiten müssen: von den originären unternehmerischen Aufgaben über Faktoren wie Glaubwürdigkeit und Vertrauen bis hin zu den großen ethischen und sozialen Themen.

Verantwortung heißt auch: Antworten geben. Nicht nur auf die Fragen der Anteilseigner und Aktionäre, sondern eben auch auf die der Mitarbeiter und Kunden, der Lieferanten, der Partner, der Bürger, Kinder, Enkel. Diese Gesprächsbereitschaft haben einige teilweise und andere völlig verloren. Dabei orientiert sich diese von mir gepriesene Verhaltensweise eigentlich an sehr alten Tugenden und einem alten Wissen, das wir allerdings immer wieder neu gewinnen müssen.

Martin Buber, der jüdische Philosoph, hat es einst so formuliert: „Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt. Antworten worauf? Auf das, was einem widerfährt, was man zu sehen, zu hören zu spüren bekommt.“ Soweit Buber.

Der erste Schritt, mit dem solche Verantwortung wahrgenommen wird, ist das Bekenntnis zum verantwortlichen Subjekt, zum Menschen mit seinen Möglichkeiten. Das müssen wir nicht neu erfinden. Ich denke an ein altes Konzept, den ehrbaren Kaufmann – manche sagen: eine bedrohte Spezies. Das wird so nicht stimmen, denn schon im alten Venedig wurde behauptet, es sei leichter einen spitzfindigen Juristen auszubilden, als einen ehrlichen Kaufmann. Also wir wissen, dass es schwierig ist, aber es gibt ihn. Sie alle kennen ihn, einige von Ihnen sind es selber und Sie leiden da nicht unbedingt Not, sondern Sie verdienen trotz Ehrbarkeit gutes Geld. Das muss man sich immer mal wieder ins Gedächtnis rufen. Vielleicht können wir in diesem Zusammenhang an eine Unternehmerpersönlichkeit, die für unser Land typisch ist, erinnern, und das ist Robert Bosch. Übrigens hat der erste Bundespräsident unseres Landes eine Biografie über ihn geschrieben. Sein Motto war: „Eine anständige Art der Geschäftsführung ist auf die Dauer das Einträglichste.“ So hat Robert Bosch das schlicht zu formulieren gewagt. Man kann nicht sagen, dass er dabei arm geworden wäre. Ein Unternehmen, das sich dieser Unternehmensphilosophie bis heute verpflichtet, ist immer noch wettbewerbsfähig und zum Teil führend am Markt.

Ich darf auch ruhig an die Szenerie der Banken erinnern. Daran erinnern, dass natürlich in der real existierenden Bankenwelt auch Leute existieren, die 2008 nicht unter die Zocker gegangen sind. Einigen bin ich persönlich begegnet. Dabei habe ich interessante Erfahrungen gemacht. Die einen haben mir erzählt, dass sie die komplizierten Bankprodukte vor 2008 nicht verstanden und deshalb nicht in das Geschäft eingestiegen sind. Andere erzählten mir genau das Gegenteil: sie hätten diese Produkte zu gut verstanden, um einsteigen zu wollen. Es gibt jedenfalls in diesem Sektor ehrliche Kaufleute.

Die Aufgabe eines Unternehmers, so wissen wir, bleibt es, in erster Linie Gewinn zu machen, gute schwarze Zahlen zu schreiben, die Markttauglichkeit zu sichern, dabei mutig zu sein, Investitionen zu wagen und eben auch Risiken einzugehen. Der Punkt ist: Risiken müssen beherrschbar bleiben und dürfen am Ende nicht uns beherrschen. Unternehmen und unterlassen gehören immer irgendwie zusammen. Schwarze Zahlen sind kein Grund, rote Linien zu überschreiten!

Freies Unternehmertum braucht also sehr wohl Grenzen. Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet ich, ein Liebhaber der Freiheit, dessen Lebensthema die Überwindung von Grenzen ist, hier ein Loblied der Grenze anstimmen würde. Auch ich gehörte übrigens eine Zeit lang zu jenen, die beim Stichwort Regulierung vor allem glaubten: Weniger ist mehr.

Meine Grundeinstellung hat sich freilich verändert. Ich liebe die Freiheit. Ich bin nicht bereit, sie der Angst zu opfern. Auch in Krisenzeiten dürfen wir nicht glauben, zukunftsfähig zu werden, indem wir der Wirtschaft die Freiheit nehmen, die sie stark macht. Aber der Einschnitt von 2008 hat doch einen Irrtum offenbart. Allzu viele haben sich damals in den 90er-Jahren den „schlanken Staat“ auf die Fahnen geschrieben. Weil wir hofften, mit weniger Bürokratie das Wachstum zu fördern. Echtes Wachstum, keine Scheinprosperität, keine Maßlosigkeit. Im Bankensektor und an den globalen Finanzmärkten war dies in mancher Hinsicht dann leider ein Fehler! Die wichtigste Botschaft der Beflaggung hätte dem handlungsfähigen und handlungswilligen Staat gelten müssen! Stattdessen haben wir Freiheit und Verantwortung auseinanderdriften lassen und müssen sie nun wieder enger zusammenführen, ja: führen!

Verantwortliches Handeln heißt jetzt: aus Freiheit ein Freund mancher Grenzen zu sein! Wenn sich einige wenige die Freiheit nehmen, für nichts Verantwortung zu tragen, zerstören sie die Voraussetzungen dafür, dass wir in Freiheit leben können. Jene Voraussetzungen der Freiheit, die übrigens gerade die Wirtschaft braucht. Grenzenlosigkeit verschafft diesen wenigen vielleicht einmal auch unerhörte Höhenflüge. Aber für die vielen, für die anderen schafft Grenzenlosigkeit keinen bewohnbaren Lebensraum, sondern eine Wüste.

Soll Leben gelingen, so gehören Freiheit und Verantwortung also zusammen. Diese Kopplung entsteht nicht von selber, durchaus nicht automatisch. Auch der ehrbare Kaufmann allein kann sie nicht herstellen. Sie muss gesamtgesellschaftlich organisiert, muss idealerweise auch global gestaltet werden.

Dazu gehört nun der Staat, dessen primäre Aufgabe es ist, Regeln zu setzen, Regeln durchzusetzen. Dazu gehört eine Gesellschaft, die Regulierung und effektive Aufsicht neu schätzen lernt. Und dazu gehört eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, was wir wollen und was nicht.

Beispiel Finanzsektor. Das Credo der Banken sollte buchstäblich die Glaubwürdigkeit ihres Handelns sein. Einige Banken rücken den Begriff der Glaubwürdigkeit zu Recht wieder neu in den Mittelpunkt, denken laut über eine geringere Rendite nach, über weniger Gehaltszulagen und Boni. Manche bekunden gar ihr Bedauern und reagieren auf die Vorwürfe, die inzwischen vor Gerichten gehandelt werden. Für mich unglaublich: diese Manipulation des Libor-Zinssatzes von zum Teil doch hochseriösen Instituten. Für mich wäre das unvorstellbar gewesen vor einer Reihe von Jahren, was wir jetzt vor Gerichten zum Teil verhandeln. So kündigen einige Geldhäuser dann ganz bewusst einen Kulturwandel an.

Vieles ist dabei erst angestoßen. Der Wildwuchs im Finanzsektor ist bis heute nicht beseitigt, aber wir sind auf einem Weg der Korrektur. Grundsätzliche Veränderungen tun weiterhin not. Immerhin teilen Politik und Wirtschaft ein Grundverständnis: Der Finanzsektor muss dringend aufgeräumt werden! Ziel muss es sein, dass einzelne Banken nicht mehr ganze Staaten an den Rand des Abgrunds führen können. Über das „Wie?“ dieser Aufräumarbeiten wird sicher intensiv zu diskutieren sein, das „Wann“ wird nach Empfinden vieler Beobachter zu langsam angegangen.

Die Politik versucht zwar zu regulieren, aber leider gibt es über Maß und Prinzipien der Regulierung international wenig Einigkeit. Außerdem ist offenbar die Politik den Banken recht oft unterlegen. Insider illustrieren das immer wieder mit dem „Hase-und-Igel-Phänomen“ auf dem weiten Feld der Regulierung.

Ich freue mich auf den Tag, an dem die Banken selber ein Konzept formulieren, das nicht nur in Fachkreisen debattiert wird, sondern in einen breiten gesellschaftlichen Diskurs mündet. Das Bankwesen der neuen Weltwirtschaft – wenn Sie so wollen –, jedenfalls ein Bankwesen, das Zukunft hat, darf nicht in guten Zeiten diese Boni kassieren und bei Schwierigkeiten wegen seiner Systemrelevanz die Steuerzahler fordern. Bankenrettung kann durchaus im Einzelfall geboten sein, um Schaden nicht nur von der Bank, sondern auch von der Allgemeinheit abzuwenden. Da verschließe ich nicht meine Augen. Aber vor allem müssen Banken wieder genuinen geschäftlichen Verantwortungen gerecht werden und für die Konsequenzen ihres Handelns haften. Die derzeitige Gewissheit, im Notfall gerettet zu werden, verschiebt ja die Risikohaltung der Banken in einer Weise, die weder dem Markt entspricht noch den Wünschen der Steuerzahler.

Mit der Anstrengung, neue und überzeugende Regeln zu finden, ist natürlich das Thema Akzeptanz verbunden: für mich der Schlüsselbegriff der zweiten Verantwortungsform von Unternehmen, Verantwortung nach außen. Akzeptanzförderung bedeutet in meinen Augen mehr als gute PR oder Arbeit am Firmenimage. Akzeptanzförderung ist die nachhaltige Auseinandersetzung mit den eigenen Werten. Mit Haltung ist also nicht einfach nur Edelmut gemeint. Haltung zeigt sich, wenn Führungskräfte in Unternehmen verstanden haben, dass Glaubwürdigkeit ein unverzichtbarer Teil ihres Unternehmenskapitals ist, so wie Glaubwürdigkeit untrennbar zum Bankengeschäft oder zum Mandat von Politikern gehört. Glaubwürdigkeit klingt nicht nur moralisch wertvoll, sondern ist auch ökonomisch klug, ein echter, für Unternehmen durchaus auch monetärer Gewinn! Wir kennen die Beispiele, bei denen mangelnde Glaubwürdigkeit, mangelnde Verankerung von Grundwerten ganze Handelsketten in den Ruin getrieben hat. Kunden quittieren moralische Verstöße manchmal schärfer als greifbare Produktmängel. Umgekehrt sind Solidität und Reputation oft sogar Kaufanreize. Die Marke „made in Germany“ lebt zum großen Teil davon. Akzeptanz ergibt sich wie ein Mosaik aus vielen Teilen, etwa den Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter, der Erfüllung von Umweltschutzauflagen, der Auswahl von Zulieferern und Vertragspartnern – einfach aus allen Standards, die eine Führungspersönlichkeit begründen kann mit dem Satz: „Weil diese Werte es uns wert sind.“

Gesunde Unternehmen brauchen im eigenen Interesse ein gesundes Umfeld. Das gilt sozial, es gilt ökologisch und das weltweit. Wenn wir die Debatten über CO2-Quoten oder Umweltzerstörung beobachten, bekommen wir eine Ahnung davon, wie vielschichtig Akzeptanzfragen in den nächsten Jahrzehnten bearbeitet werden müssen.

Dass nicht nur Geld und Ressourcen, sondern auch unsere sozialen Werte auf dem globalen Marktplatz zur Disposition stehen, haben noch nicht alle verstanden. Dabei geht es aber um Menschenwürde, um Menschenrechte, um Respekt und das Miteinander der Verschiedenen. Es geht um Demokratie, um ihre Bürger und alle denkbaren Formen von Verantwortung. Es geht um die Fundamente unserer Freiheit! Diese Werte dürfen wir nirgendwo abgeben – an keinem Fabriktor der Welt.

Mit diesem „Wir“ meine ich nicht nur Führungspersönlichkeiten aller Couleur, sondern ein echtes „Wir alle“. Bangladesch, Budapest und Berlin gehören zu einer Weltwirtschaft. Den Spielraum verantwortlich handelnder Unternehmer prägt auch das Verantwortungsbewusstsein der Kunden. Mit dem Kassenbon kann man ja auch schlimme Zustände zementieren. Oder anders ausgedrückt: Konsumenten haben eine enorme Marktmacht. Wo Handys zum Lifestyle werden, sind Produktionsbedingungen immer öfter nicht egal. Man kann morgens um 5:00 Uhr für das neueste Gerät auf dem Markt anstehen. Man kann aber auch einen ganzen Tag vor dem Laden protestieren gegen unmenschliche Arbeitsplatzverträge, dort, wo diese Produkte hergestellt worden sind. Wie lange greifen Europäer noch zu Jeans für zehn Euro, obwohl sie wissen, dass die Allerärmsten in Asien oder Lateinamerika einen hohen Preis für die Herstellung solcher Produkte zahlen, also mit ihrer Gesundheit und ihrer Menschenwürde dafür zahlen, dass wir so schön billig einkaufen können. Wir sollten die Bilder von brennenden Fabriken und geschundenen Körpern hinter verschlossenen Gittern nicht vergessen, sie gehen uns, die Kunden, an. Wir kennen die Fälle von heute und die Prognosen für morgen, falls sich nicht öfter jemand findet, der sagt: Ich habe einen Fehler gemacht und ich mache es jetzt anders. Ich bin so frei! Wenn wir das nicht erkennen, werden diese Fehler, die wir heute sehen, auch die von morgen sein.

Haltung darf sich nicht in Appellen erschöpfen. Haltung erfordert Handeln. Und zwar aller: Nicht nur der Führungskräfte in Wirtschaft und Politik, sondern auch der Kunden und Bürger. Wenn Sie so wollen: Wirtschaft und Gesellschaft, das sind nicht immer nur die anderen. Wo dies verinnerlicht wird, erfahren wir: Verantwortlicher Kapitalismus ist möglich.

Lassen Sie uns nicht in überholten Antagonismen verharren. Anstand im Wirtschaftsleben ist wichtig, zugleich ist Gewinnstreben nicht unanständig. Gefährlich wird ja erst die blanke Gier, das Mehrenwollen um jeden Preis. Zivilisierung der Gier aber schafft diesen aufgeklärten Kapitalismus, der unseren Gesellschaften Zukunft gibt. Zu oft werden jene, die Verantwortung anmahnen, wenn sie nötig ist, kurzerhand in die Ecke der Träumer gestellt – so als gäbe es nur die Wahl zwischen egoistischem Unternehmertum und weltfremdem Altruismus. Hier das Soziale, dort die Wirtschaft. Hier das warmherzige Gute, dort der kalte Wettbewerb. Dieses Denken in falschen Alternativen müssen wir überwinden. Wir können auf Wettbewerb und Wachstum nicht verzichten. Diese Anreize machen unsere Gesellschaft besonders lernfähig und besonders innovativ. Entscheidend ist, dass wir die Regeln finden, die falsche Praktiken verhindern und fairen Wettbewerb ermöglichen. Dafür braucht es auch Bereitschaft zur Kooperation, das ist für mich die dritte Dimension der Verantwortung. Sie öffnet den Raum für Ausgleich, für Kompromisse.

Lange bevor sich die Debatte über das neue Europa und die neue Weltwirtschaft am Horizont abzeichnete, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes unseren Wertekanon beschrieben und darin neben Demokratie und Rechtsstaat ausdrücklich den Sozialstaat verankert. Ich erinnere in diesem Sinn an Artikel 14 des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Es gibt viele verantwortliche Führungspersönlichkeiten in unserem Land, die sich diesem Wohle der Allgemeinheit verpflichtet fühlen, Werte leben und Verantwortung wahrnehmen. Meine erste Ordensverleihung im Schloss Bellevue galt zwei bekannten Botschaftern der Sozialpartnerschaft: dem Gewerkschafter Michael Sommer und dem Spitzenmanager Hubertus Erlen. Jeder – auf seine Art in seinem Bereich – hatte sich jahrzehntelang um verantwortungsvolle Entscheidungen in Unternehmen gekümmert. Und jeder konnte aus dem wahren, wirklichen, gelebten Leben von Kooperation und Suche um Zukunftsfähigkeit berichten. Michael Sommer erinnerte in seiner Dankesrede an die Sorgen im Jahr 2008, an die Kompromissbereitschaft und die unternehmerische Mitverantwortung, die damals auf beiden Seiten – bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern – erkennbar wurde. Die Sozialpartnerschaft, so lernen wir aus einem solchen Beispiel, hat sich in unserem Land bewährt. Sie, Herr Premierminister Jean-Marc Ayrault, haben gerade kürzlich darauf hingewiesen. Ich bin sehr dankbar dafür. Und 2008 hatten wir doch nun eine wirklich schwierige Situation zu bestehen, vielleicht die schwierigste seit 1949, Wir haben also gute Erfahrungen mit demokratischer Mitbestimmung. Betriebsräte und Sozialpläne haben unsere Unternehmen nicht ruiniert, sondern haben den Standort Deutschland gesichert. Wir haben gelernt, dass Kurzarbeitergeld in kritischen Phasen die langfristigen Perspektiven eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter retten kann. Wo der soziale Ausgleich also hoch geschätzt wurde, da schlug die Krise weniger stark zu.

Ich finde in dieser Krise also auch eine Fülle hoffnungsvoller Möglichkeiten, auf alle Fälle aber eine Anregung zum Handeln. Viele europäische Gesprächspartner bestätigen mir, dass sie in ihren Ländern sozialpolitischen Ausgleich als Freiraum für Dialog und Kompromisse erleben, als Voraussetzung für eine Wohlfahrtspolitik, die ermächtigt und nicht entmündigt oder gar lähmt.

Europa legitimiert sich vor seinen Bürgern durch die Verwirklichung von wirtschaftlichen und sozialen Zielen. Ich habe den Eindruck: Immer mehr Europäer erkennen, dass soziale Stabilität und Kooperation auch ein ökonomischer Gewinn sind. Dort, wo wir diese erweiterte ökonomische Ratio und die Bereitschaft zu Reformen erleben, ist Europa auf einem ermutigenden Weg.

Sehr geehrter Herr Premierminister Ayrault, ich verfolge mit großer Sympathie, dass in Frankreich ganz intensive Diskussionen in diese Richtung begonnen haben. Gerade weil das politisch ein überaus unbequemer Weg ist, schließe ich mich all denen an, die diese Anstrengungen würdigen und unterstützen. Ich freue mich sehr, Sie und die französische Delegation hier begrüßen zu dürfen! Seien Sie besonders herzlich willkommen!

Wie wir wissen, zählen Frankreich und Deutschland zu den Nationen, die immer wieder gebeten werden, sich mit besonderer Kraft für Europa einzusetzen. Lassen Sie uns das mit unseren europäischen Partnern gemeinsam und auf eine Weise tun, dass nicht einige vorausgeschickt werden, sondern dass alle davon überzeugt sind, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen.

Deutschland ist – gerade nach unseren krisenhaften Erlebnissen – bereit, sich mit seinen ökonomischen und politischen Erfahrungen der europäischen Gemeinschaft anzuvertrauen. Das galt einst in den schwierigen Nachkriegsjahren, in all den bedrängten Zeiten des Wiederaufbaus. Das galt in den Zeiten der nationalen Wiedervereinigung 1990. Das galt in den Zeiten vor gut zehn Jahren, als Deutschland ökonomisch schwächelte. Und das gilt jetzt, in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität. Wir glauben, dass unsere Erfahrungen die Zukunftsaussichten Europas nicht schwächen, sondern stärken werden.

Mein Wunsch ist zugleich eine Bitte: Das letzte Wort in der Krise dürfen wir nicht den Angstmachern überlassen - weder Zuhause noch in der Welt. Freiheit soll niemals die Freiheit sein, unsere Werte aufzugeben.

Meine Damen und Herren, gerade Sie hier im Saal können in diesen Tagen deutlich machen: Wir alle sind frei, aber keiner von uns ist frei von Verantwortung.