Festakt "50 Jahre Welthungerhilfe"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 14. Dezember 2012

Bundespräsident Joachim Gauck hat beim Festakt „50 Jahre Welthungerhilfe“ die Festrede gehalten.

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede

Wenn ich an diesem heutigen 50. Geburtstag der Welthungerhilfe an das Thema Hunger denke, dann bewegen mich sehr unterschiedliche Gefühle: Eines der Freude, schon wegen des 50. Jahrestages. Auch deshalb müssen wir uns ins Gedächtnis rufen: 1969 waren es zweieinhalb Milliarden Menschen, die ausreichend zu essen hatten. Heute sind es sechs Milliarden. Dass es möglich ist, soviel mehr Menschen zu ernähren, ist eine gute Botschaft. Dann aber gibt es das Gefühl der Verunsicherung und der Nachdenklichkeit. Wir wissen: Teile der Menschheit schießen weit über das Ziel hinaus, satt zu werden. In vielen Ländern landet bis zur Hälfte aller produzierten Lebensmittel im Müll. Auch bei uns. Niemand kann wollen, dass das so bleibt. Und dann schließlich gibt es noch ein ganz anderes Gefühl: das der Unruhe und der Empörung: Heute noch leiden 870 Millionen Menschen weltweit an Hunger. Dass im 21. Jahrhundert mit all seinem technischen Fortschritt Menschen verhungern, kann ich nicht und das kann keiner akzeptieren!

Das Recht auf ausreichende Ernährung ist ein Menschenrecht. Nicht ohne Grund ist es im Sozialpakt der Vereinten Nationen festgeschrieben. Um es zu verwirklichen, müssen wir sowohl an den technischen als auch an den politischen Rahmenbedingungen ansetzen. Die Weltgemeinschaft, zu der wir gehören, muss dafür sorgen, dass ausreichend Nahrungsmittel hergestellt werden und für alle zugänglich sind.

Ob die Welt im Kampf gegen den Hunger weiter erfolgreich sein wird, hängt wesentlich davon ab, wie auf dem Lande gewirtschaftet wird. Daher freue ich mich darüber, dass Sie, Herr Minister Niebel, vor drei Tagen genau dieses Thema prominent in Berlin angesprochen haben. Entwicklungsländer, Schwellenländer und Industrieländer können nur gemeinsam Antworten auf die großen Zukunftsfragen der Welternährung finden. Viele fragen sich: Was sind Chancen und Risiken gentechnisch veränderter Pflanzen? Und wie sehen Regeln aus, die die Flächenkonkurrenz zwischen Trog, Tank und Teller, also zwischen der Herstellung von Futtermitteln, Pflanzen zur Energiegewinnung und Nahrungsmitteln in ein verantwortbares Maß bringen?

Angesichts des Bevölkerungswachstums und des Klimawandels werden wir uns noch sehr viel intensiver als bisher darum kümmern müssen, genug Lebensmittel so herzustellen, dass der Hunger gestoppt und verantwortungsvoll mit Natur und Menschen umgegangen wird. Eine Aufgabe für viele ist das: für Forscher und Firmen, für verantwortlich handelnde Regierungen und für die vielen Nichtregierungsorganisationen. Auch jeder Einzelne kann sich über Initiativen einbringen. Aber die Aufgaben übersteigen bei Weitem das Vermögen eines Landes alleine. Daher kommt den multilateralen Institutionen der Vereinten Nationen eine so besonders wichtige Rolle zu.

Wer gegen den Hunger kämpft, der muss auch den Kampf gegen den Klimawandel ernst nehmen. Extreme Wetterereignisse wie Fluten, Stürme und Dürren haben in den letzten Jahren zugenommen. Der Tropensturm Sandy vor der Küste der USA zeigt: Wetteränderungen treffen nicht nur die Länder des Südens. Stellen Sie sich vor, was geschähe, wenn in der Sahelzone die Regenfälle einige Jahre ausblieben und gleichzeitig durch Stürme und Überschwemmungen Überschüsse der Produktion in Europa und Nordamerika vernichtet würden? Oder wenn durch Wassermangel aufgrund eines veränderten Klimas nicht mehr genug angebaut werden könnte? Den Kampf gegen den Hunger können wir nicht gewinnen ohne gleichzeitiges Engagement gegen den Klimawandel und seine Folgen.

Das führt mich zu den politischen Rahmenbedingungen. Viele Hungersnöte haben einen einfachen, grausamen Grund: Krieg und Vertreibung. Die beste Landwirtschaftstechnik nützt nichts, wenn die Menschen aus Angst um ihr Leben ihr Land verlassen müssen. Wenn – wie in Teilen Somalias – Krieg und Dürre gemeinsam auftreten, dann wird aus Mangel eine Katastrophe. Jede Investition in Krisenprävention, Frieden und Sicherheit ist daher zugleich eine Investition für ländliche Entwicklung und gegen Hunger.

Weniger sichtbar als der Krieg, aber nicht weniger furchtbar ist die politische Unterdrückung der Bevölkerung in vielen Ländern. Länder wie Nordkorea oder Simbabwe sind traurige Beispiele dafür. Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen hat den Zusammenhang zwischen Diktaturen und Hungersnöten auf einen Nenner gebracht: Demokraten können ihre Bürger nicht verhungern lassen, Diktatoren schon. Gibt es ein einfacheres Plädoyer für die Demokratie?

Ich möchte einmal von dem Text abweichen, angeregt von dem Lied und den Darbietungen der Schauspieler, weil ich einen Moment innehalten möchte und auch über die Tragik nachdenken möchte, die entstanden ist, weil Menschen einmal meinten, sie könnten all den Hunger auf der Welt verändern, indem man einfach ein neues System errichtet - ein System der Gleichheit. Und dass wir erlebt haben, dass so eine gute Zukunftsfantasie verändert worden ist in eine mörderische, ja auch von Hunger gekennzeichnete gesellschaftliche Wirklichkeit, beschreibt die schwierige Aufgabe. Es ist nicht immer nur damit getan, ein idealistisches Konzept zu entwickeln, sondern es ist erst dann getan, wenn Menschen nicht mehr hungern. Und deshalb hat sich erwiesen, dass wir wahrscheinlich sehr, sehr lange nach einfachen Lösungen suchen und bei dieser Suche oft die notwendigen ersten Schritte versäumen. Deshalb bin ich so dankbar für die Teilergebnisse, die wir errungen haben beim Kampf gegen den Hunger.

Demokraten, die nicht darauf achten, ihrer Bevölkerung eine als ausreichend empfundene Lebensgrundlage zu ermöglichen, handeln unverantwortlich und bedrohen damit die Demokratie. Diesen Zusammenhang hat der amerikanische Präsident Roosevelt bereits 1944 so beschrieben: „Es kann keine wahre individuelle Freiheit ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit geben. Menschen, die Not leiden, sind nicht frei. Völker, die hungrig oder arbeitslos sind, liefern den Stoff, aus dem Diktaturen gemacht werden.“

Er hat recht! Der Kampf gegen den Hunger ist immer auch ein Kampf für die Selbstbestimmung und für die Würde des Einzelnen. Hunger kann jeden Menschen sehr schnell zu einer würdelosen Existenz verdammen. Dabei liegt oft auf der Hand, was getan werden müsste, um die Lage zu verbessern.

In vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas arbeiten die Bauern heute noch oft mit Ochsenpflug und Handeimer. Fortschrittsglaube allein hilft da nicht. Aber wenn das Wissen und Können der Bauern nachhaltig erweitert und mit Maschinenkraft, mechanischer Bewässerung und neuen Anbaumethoden ergänzt wird, können die Erträge vervielfacht werden. Wenn die Bauern bessere Speicher haben, werden sich die Nachernteverluste deutlich reduzieren lassen. Und auch die Informationstechnik kann zum Fortschritt beitragen: Immer mehr Bauern können auch in abgelegenen Landstrichen Informationen zu Wetter oder auch zu Marktbedingungen abrufen und ihr Verhalten darauf einstellen. Viele Bauern haben immer noch keinen Zugang zu Krediten, mit denen sie Notlagen nach schlechten Ernten überbrücken können. Sie brauchen gute Banken. Stattdessen aber sind sie oft Wucherern ausgesetzt. Auch haben viele Bauern immer noch keine Besitz- oder Nutzungsrechte am Land, auf dem sie arbeiten. Sie leben in Angst vor Vertreibung, sie können nicht investieren. Und wenn Sie geerntet haben, müssen sie in manchen Ländern auf ihrem Weg zu den Märkten innerhalb eines Staates an Kontrollpunkten vorbei. Bevor sich der Schlagbaum hebt, öffnet sich oftmals eine begierige Hand.

Auch die internationalen Rahmenbedingungen erschweren ihnen den wirtschaftlichen Erfolg: Zu Recht gibt es zum Beispiel immer wieder Kritik an den Exportsubventionen der Europäischen Union. Viele Nichtregierungsorganisationen fragen nach einer entwicklungspolitischen Kohärenzprüfung aller politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen der Europäischen Union. Ist es nicht billiger und besser, sich im Vorhinein Gedanken über mögliche negative Folgen von Handelsbedingungen für Entwicklungsländer zu machen, als sie hinterher mit Entwicklungsprojekten wieder abzumildern?

Ebenso würde es sich durchaus lohnen, die Nahrungsmittelbörsen unter die Lupe zu nehmen. Die Absicherung gegen die Folgen schlechter Ernten gehört seit eh und je zur Landwirtschaft. Aber wann ist die Grenze zur Spekulation auf Kosten Hungernder überschritten? Das Bild des Getreidesackes stand schon in der frühen Neuzeit sowohl für Wohlstand als auch für Wucher. Heute treibt überschüssige Liquidität an den globalen Märkten die Renditejagd selbst an den Märkten für Lebensmittel in immer gefährlicheres Terrain. Wenn dann schwankende Preise armen Menschen sprichwörtlich die Mittel zum Leben abschöpfen, ist Handeln nicht nur aus ethischer, sondern aus politischer und sozialer Notwendigkeit dringend geboten. Auch hier freuen wir uns über einzelne Schritte in die richtige Richtung. Ich finde es darum gut, wenn deutsche Banken Verantwortungsbewusstsein zeigen und entsprechend ausgelegte Fonds prüfen und hoffentlich zurückziehen.

Nach den Bemerkungen zum empörenden Mangel nun zum ebenso empörenden Überfluss. Er wirft zunächst die dringende Frage der Gerechtigkeit auf. Der erste Schirmherr der Welthungerhilfe, der damalige Bundespräsident Lübke, hat dazu in seiner Antrittsrede 1959 gesagt: „Es ist klar, dass das Nebeneinander von satten, bei denen täglich Tausende von Tonnen Lebensmitteln verderben oder vernichtet werden, und hungernden, von Seuchen und grenzenloser Armut und Unwissenheit geplagten Menschenmassen auf die Dauer völlig unmöglich ist. So wie der Bruder gegenüber dem Bruder Verantwortung trägt, so haben auch die Völker füreinander einzustehen. Beachten wir dieses Gebot nicht, so wird das ungelöste Problem den Fortbestand unserer Zivilisation in Frage stellen.“

Diese beschriebene Gerechtigkeitslücke besteht auch noch heute. Sie besteht nicht nur zwischen unterschiedlichen Ländern, sondern auch innerhalb vieler Gesellschaften. In großen Schwellenländern wie Indien und China ist nicht nur die Unterernährung ein Problem, sondern zunehmend auch die Fehl- und Überernährung. In vielen Industrieländern ist der gesundheitlich angemessene Bedarf an Lebensmitteln mehr als gedeckt. Im Gegenteil, in manchen Ländern ist es schon so, dass mehr Menschen an Übergewicht sterben, als an Mangelernährung.

Und wie wir alle wissen, passiert noch etwas anderes: Bis zu 50 Prozent der erzeugten Lebensmittel landen in einigen Industrieländern im Abfall – sei es in privaten Haushalten, in Gaststätten oder im Handel. Das Essen, das wir in Europa wegwerfen, würde zweimal reichen, um alle Hungernden der Welt zu ernähren, wurde berechnet. Das ist ein Skandal. Uns allen würde es kein Jota schaden, wenn sich diese Wegwerfmentalität ändern würde. Keiner ist gezwungen, Lebensmittel wegzuschmeißen. Jeder kann der Maßlosigkeit und der Gleichgültigkeit eine Absage erteilen.

Bewusste Ernährung und verändertes Konsumverhalten haben weltweite Folgen: Die Hälfte des weltweit produzierten Getreides wird an Tiere verfüttert. Würde in den entwickelten Ländern nur drei Prozent weniger Fleisch gegessen, könnte man mit dem weniger benötigten Getreide etwa eine Milliarde Menschen ernähren. Auch dies ist ein Beitrag im Kampf gegen den Hunger.

Ich habe meine Rede mit dem Gefühl der Freude begonnen. Sie passt in einen positiven Kontext: Denn nach Angaben der Weltbank wurde das erste Millenniumsziel erreicht. Mussten 1990 noch etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, liegen die neuesten Werte bei etwa 20 Prozent. Das heißt noch lange nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen könnten. Aber es zeigt etwas anderes: Von Erfolgen träumt man nicht nur, Erfolge erringt man.

Die Geschichte der Welthungerhilfe als Teil der damaligen Kampagne „Freedom from hunger“ der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, welche Kraft ein breites Bündnis staatlicher und nichtstaatlicher Stellen entfalten kann. Dabei hatte der damalige Bundespräsident Lübke dem privaten Sektor die Führungsrolle zugedacht. Ihm war klar, dass sich Barmherzigkeit und Nächstenliebe nicht erzwingen lassen. Die Mitverantwortung für die Not des Nächsten war eine Aufgabe, die der Staat nicht alleine bewältigen konnte und sollte. Und es gibt auch andere gute Gründe für eine Aufgabenteilung: Wo die staatliche Zusammenarbeit aufgrund bestimmter Grenzen nicht hinkommt, können Nichtsregierungsorganisationen bisweilen immer noch arbeiten. Ich denke da zum Beispiel an die Aktivitäten der Welthungerhilfe, die es in Nordkorea gibt.

Vor 50 Jahren war diese Art der Koalition etwas Außergewöhnliches. Heute gibt es eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen, die sich mit hohem Engagement und vielfältigen Fähigkeiten so wie die Welthungerhilfe einbringen. Ich sehe das mit großer Freude in meinem Amt immer wieder, wie stark bei uns in Deutschland das Engagement für Humanität und Mitmenschlichkeit auch auf der globalen Ebene ist. Das zeichnet unsere Gesellschaft in besonderer Art und Weise aus. Und ich muss dafür meine Dankbarkeit bezeugen.

Vor allen Dingen danke ich heute allen Mitgliedern und Unterstützern der Welthungerhilfe. Viele von Ihnen arbeiten unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen. Dieser Dank gilt ebenso den vielen Mitarbeitern und den Partnern auf der ganzen Welt. Ich freue mich, dass einige von Ihnen heute dieses Jubiläum hier in Berlin mitfeiern. Die Welthungerhilfe hat schon lange verstanden, dass Entwicklungszusammenarbeit nur als Gemeinschaftsaufgabe erfolgreich sein kann.

Und die Welthungerhilfe blickt heute nach vorn. Mit zwei Denkfabriken, deren Ergebnisse heute Abend vorgestellt werden, hat sie sich und die Entwicklungspolitik im Ganzen einer Prüfung auf Herz und Nieren unterzogen. Das erfordert Mut. Mutig ist auch das ehrgeizige Ziel der Welthungerhilfe, sich selbst überflüssig zu machen. Das ist ein wirklich einprägsamer Satz. Es gibt Aktivitäten, die wollen wir uns in der Zukunft einfach nicht mehr zumuten. Und dazu möchte ich viel Erfolg wünschen.

Die Überwindung des Hungers erscheint uns oft wie ein riesengroßer, kaum überwindlicher Berg. Aber jedem von uns ist klar, dass dieser Berg nicht naturgegeben, sondern von Menschen gemacht ist. Er kann ebenso von Menschen überwunden werden. Daran arbeitet die Welthungerhilfe seit 50 Jahren, das verdient Anerkennung, Respekt und Dank. Vor allem aber verdient es weiter unsere Unterstützung.