Festakt zum 200. Geburtstag von Adolph Kolping im Rahmen der „Kölner Gespräche 2013“

Schwerpunktthema: Rede

Köln, , 2. Februar 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hat beim Festakt zum 200. Geburtstag von Adolph Kolping im Rahmen der „Kölner Gespräche 2013“ am 2. Februar 2013 in Köln eine Ansprache gehalten: "Adolph Kolping, der vor 200 Jahren geborene Kerpener, wollte die jungen Menschen seiner Zeit, die Gesellen, die in den Bahnen ihrer Herkunft, ihrer geringen Bildung, ihrer ja, auch Verwahrlosung und Perspektivlosigkeit anscheinend dazu verurteilt waren, ausweglos im immer selben Kreis zu laufen – er wollte diese jungen Menschen an die frische Luft einer anderen Möglichkeit bringen – und in eine Gemeinschaft von Suchenden, von Strebenden, eine Gemeinschaft von solchen, die Verantwortung für sich selber und für andere übernehmen."

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Ansprache in der Industrie- und Handelskammer

Wenn man von „dem Kerpener“ spricht, weiß ich, dass die meisten Menschen in Deutschland an den mehrfachen Formel-1-Weltmeister denken. Kerpen, ganz hier in der Nähe, heißt aber nicht etwa „Schumacherstadt Kerpen“, sondern „Kolpingstadt Kerpen“. Das hat wohl nicht nur den Grund, dass Adolph Kolping, an dessen Geburtstag wir heute erinnern, dort schon vor zweihundert Jahren geboren ist. Es liegt wohl vor allem an einem entscheidenden Unterschied.

Wo der eine der Meister darin ist, auf einer vorgegebenen Strecke der Schnellste zu sein, dabei aber immer im Kreis fährt, ging es dem anderen gerade darum, Menschen zu helfen, aus dem vorgegebenen Kreislauf ihres Lebens auszubrechen – ruhig auch einmal langsam zu fahren. Adolph Kolping ging es Zeit seines aktiven Lebens darum, Menschen begreiflich zu machen, dass sie ihren ganz eigenen Weg suchen müssen – und dass sie ihn finden können. Das Leben ist keine vorbestimmte Kreisbahn, aus der es kein Entrinnen gibt: Das Leben, wie er es sah und so wie wir es sehen wollen, ist die Herausforderung, aus dem Vorgegebenen auszubrechen, sich einen Weg buchstäblich selber zu bahnen – allerdings nicht nur allein, weil dazu unsere Kräfte oft nicht reichen, sondern in der Gemeinschaft mit anderen.

Adolph Kolping, der vor zweihundert Jahren geborene Kerpener, wollte die jungen Menschen seiner Zeit, die Gesellen, die in den Bahnen ihrer Herkunft, ihrer geringen Bildung, ihrer ja, auch Verwahrlosung oder Perspektivlosigkeit anscheinend dazu verurteilt waren, ausweglos immer in demselben Kreis zu laufen – er wollte diese jungen Menschen an die frische Luft anderer Möglichkeiten bringen – und in eine Gemeinschaft von Suchenden,  Strebenden, eine Gemeinschaft von solchen, die Verantwortung für sich selber und für andere übernehmen.

Ein besonderer Mann ist er gewesen, ein überzeugter  Christ und ein großer Deutscher. An eines denken wir, wenn wir ihn ehren:  Adolph Kolping gehört zusammen mit Bischof Ketteler von Mainz und Johannes Wichern, dem evangelischen Sozialreformer,  Pädagogen und Publizisten, zu den christlichen Männern und Frauen des neunzehnten Jahrhunderts, die gleichzeitig genau das Evangelium gelesen und die ganz genau hingeschaut haben, was die Bedürfnisse ihrer Zeit waren.

Deswegen ist die Erinnerung an sie, deswegen ist auch die Erinnerung an Adolph Kolping nicht wie ein Gang durch ein historisches Museum. Ich will noch einmal an diese Zeit erinnern. Das war ja das Jahrhundert, in dem andere Menschen sich aufgemacht haben mit der Idee des Klassenkampfes und der Errichtung einer wirklichen ganzheitlich geordneten Welt. In diesem Jahrhundert bewegte sich sehr viel in den Köpfen. Das besondere an den Menschen wie Adolph Kolping war, dass sie den Kontakt zu der Wirklichkeit, die sie umgab und die gestaltbar war, nicht verloren haben. Sie gaben sie nicht verloren an die große Vision eines diesseitigen Heils. Heute ist nicht die Stunde, um ausführen, was das damals bedeutet hat: diese zwei Arten von Suchbewegungen im großen gesellschaftlichen Raum. Aber wichtig ist, daran zu denken, dass die reformerischen Schritte, die wir vorhaben, oftmals – verglichen mit den ganz großen Visionen – klein erscheinen, aber doch von einer elementaren und veränderten Kraft zeugen. Es handelt sich heute also um eine produktive Erinnerung, eine „gefährliche Erinnerung“, würde  Johann Baptist Metz das nennen. Gefährlich für denjenigen, der den Wandel scheut, weil  aus der Auseinandersetzung mit der Erinnerung etwas folgen kann.

Warum? Weil es die Erinnerung an eine ganz besondere politisch-kirchliche Kombination ist.

Bei Adolph Kolping kommen drei Wesenszüge zusammen – und zwar auf eine Weise, die uns gefährlich daran erinnert, was uns heute oftmals fehlt – und wo wir als Christenmenschen wie als Staatsbürger ganz neu gefordert sind.

Adolph Kolping war zutiefst fromm, ein ganz von der Spiritualität, man kann auch schlicht sagen: von der Jesus-Nachfolge geprägter Mann, er war mit Leib und Seele Priester, er war ein leidenschaftlicher Seelsorger.

Er war aber mit der gleichen Leidenschaft Zeitgenosse, er war mit der gleichen Leidenschaft interessiert an den Menschen seiner Zeit. Er litt unter den sozialen Zuständen, er litt unter den fehlenden Chancen für so viele, er litt darunter, dass so viele Familien moralisch und finanziell Not leiden mussten und dadurch den Einzelnen Stabilität und Halt abhanden kamen.

Er nahm also teil am Schicksal seiner Zeitgenossen – und  schrieb darüber, er war ein, man kann schon sagen: besessener Publizist. Ein Rechercheur, Redakteur, Herausgeber,  war Zeitungsgründer –  war unermüdlich dabei, die Missstände, die er sah, unters Volk zu bringen. Auch darin ähnelt er übrigens seinem evangelischen Bruder im Geiste Johannes Wichern. Er wusste: wer wirken will, braucht Medienpräsenz. Dieses Wort gab es damals noch nicht. Aber er wusste genau, eben dies müssen wir erreichen. Und zwar nicht aus Eitelkeit, sondern um unser Werk, was wir für wichtig halten, voranzubringen. Wer weiß, ob er nicht heutzutage einen kirchlichen Fernsehsender gegründet hätte – und wenn, hoffentlich ganz  bestimmt einen ökumenischen! Ich kann mir auch vorstellen: Wenn er das nicht geschafft hätte, hätte er nicht Trübsal geblasen, das lag ihm nicht, sondern er hätte einen  fulminanten Internet-Auftritt hingelegt.

Aber – und das ist nun das entscheidende: Adolph Kolping war auch ein Mann der Praxis. Er wollte nicht nur darüber nachdenken, was möglich war. Auch nicht nur Gedichte schreiben, darüber philosophieren. Sondern er gehörte zu den besonderen, die Herz und Verstand zusammenbringen in tagtäglich neuen Arbeitsschritten. Er gründete also den katholischen Gesellenverein, weil ihm klar war: so etwas musste es geben und einer muss den Anfang machen. Und er ließ das erste Gesellenhaus bauen, weil er wusste: diese Einrichtungen werden eben bitter benötigt, werden gebraucht – und einer muss den Anfang machen.

Diese Kombination aus tiefem Glauben, dem Menschen zugewandter Medientätigkeit und praktischen Antworten auf die Nöte der Zeit: diese Kombination ist es, die Adolph Kolping als einen hoch aktuellen Typus Mensch erscheinen lassen. Wir können von ihm lernen. Die im Sinne von Johann Baptist Metz „gefährliche Erinnerung“ daran kann aus Bequemlichkeiten und Selbstgenügsamkeiten aufrütteln und neue Orientierung geben.

Auf die sozial engagierten Menschen wie Adolph Kolping kann die Christenheit mit Recht stolz sein. Ich wünschte mir, dass die ökumenische Christenheit das begreift. Wir haben nicht nur die schrecklichen und abstoßenden Figuren unserer Geschichte, sondern wir haben diese großen Männer und Frauen. Wenn unser Blick auf sie fällt, dann fällt es uns leichter, unsere Herzen und unseren Verstand zu entdecken und in ihre Richtung zu gehen. Das ist ein Teil der großen Ausstrahlung von Menschen, wie Adolph Kolping einer war.

Was aber machte Kolpings soziale Arbeit im Kern aus? Und was machte die große Ausstrahlung aus? Kolping war in erster Linie Praktiker. Aber es kann keine gelingende Praxis geben ohne Überzeugungen und Prinzipien, ohne Werte.

Die fundamentale Überzeugung, die Kolpings Handeln geprägt hat und bis heute aktuell macht, lautet: Der junge Mensch muss und kann  befähigt werden, selbständig und selbsttätig zu werden. Er muss und kann seine Fähigkeiten entdecken, er muss und kann erfahren, was in ihm steckt. Kolping war kein sozialer Reparateur, der Versagen der Vergangenheit aufarbeiten wollte, sondern er war ein Pädagoge. Einer der auf Zukunft hin orientiert war, auf das gegenwärtige und zukünftige Gelingen des Lebensweges. Einer, dem jede und jeder Einzelne wichtig war. Das ist eine Lehre für uns heute.

Menschen, die entdecken, was in ihnen steckt, sind leistungsfähig und leistungsbereit. Sie haben Freude daran, etwas zu können, etwas zu bewerkstelligen, etwas zu geben. Sie nehmen ihren Beruf nicht als das ganze Leben wahr, aber als einen wesentlichen Teil  ihrer Selbstvergewisserung und  ihrer Selbstverwirklichung. Das gilt nicht nur für Gesellen und nicht nur für das Handwerk.

Bildung und Berufsausbildung dienen so dazu, die Eigenständigkeit und  Eigenverantwortlichkeit und die Freude am Leben, am Gestalten, auch an der Leistung zu entwickeln und zu erhalten. Manchmal muss eine solche Freude auch erst entdeckt und geweckt, sozusagen wachgeküsst, werden. Diese Prinzipien Kolpings, die bis heute auch das weltweite Kolpingwerk prägen, tun der gesamten Gesellschaft gut. Denn die Gesellschaft profitiert von starken, selbstbewussten Einzelnen, die sich in unsere Gesellschaft einbringen.

In unseren gemeinsamen Bemühungen darum, einen Sozialstaat herauszubilden, der sich diesen Namen immer wieder neu verdient, verfallen wir manchmal in einen paternalistischen Gestus gegenüber denen, die abgehängt sind. Dieses beruhigende paternalistische „Ich sorge für Dich, sei mal ganz ruhig, ich gebe Dir auch 4,50 Mark mehr“, das hat natürlich etwas Sympathisches. Es kümmert sich um den anderen. Aber bei Kolping lernen wir, dass es ein nichtpaternalistisches Kümmern gibt. Dass es ein Kümmern gibt, was in denen, die gerade noch abgehängt sind, auch verborgene Kräfte wecken kann, die nachhaltiger sind als das, was wir mit finanziellen Zuwendungen oder mit paternalistischen Gesten erreichen können. Das ist nach wie vor ein Teil auch unserer aktuellen Debatte. Was kann man Menschen abverlangen? Und manchmal müssen wir uns dabei selber an unsere Lebensschritte erinnern. Es waren nicht die schlechtesten Zeiten, in denen wir uns etwas abgefordert haben. Und wir tun einander nichts Gutes, wenn wir nichts mehr abfordern und nichts erwarten von einander. Oft scheint es so, als wären diejenigen, die im Moment in prekären Verhältnissen leben, unfähig, überhaupt für sich zu sorgen, sich selbst zu solidarisieren. Welch ein anderer Geist kommt mir entgegen, wenn ich die Art und Weise betrachte, wie Kolping Potentiale der einzelnen Menschen angeschaut hat und das Erwecken dieser Potentiale zu seinem Programm gemacht hat.

Wir müssen uns allerdings klar machen, dass manchmal die Kräfte des Einzelnen dabei überfordert sind. Und auch da können wir wieder bei Kolping einkehren. Er wusste, wir brauchen das, was wir heute Netzwerk nennen. Denn  Beziehungen und  Gemeinschaft müssen den Einzelnen dort stärken und schützen, wo er mit seinen Potentialen vielleicht den allerletzten Schritt dorthin zur Selbstverwirklichung nicht tun kann. Das sehe ich als das zweite tragende Prinzip Kolpings und auch des Kolpingwerkes. Heutzutage wird, wie vielleicht niemals in der Zeit zuvor, von Netzwerken, Networking geredet. Ich glaube, es gibt eine Übersetzung ins Kölnische, die heißt: Klüngel. Das ist nun einmal so mit den menschlichen Netzwerken, man kann sie so und anders aussuchen. Wissen Sie, auch die Mafia ist ja irgendwie ein Netzwerk. Aber das Besondere an Menschen wie Kolping ist, dass er uns zeigt, dass wir unsere Fähigkeit, Leistungen ehrlich zu verstärken, nicht den Bösen überlassen müssen. Letztlich steckt sogar in diesem eben erwähnten kölnischen Wort das Bewusstsein davon, dass wir alleine zu wenig sind. Deshalb habe ich vorhin von Werten gesprochen. Wir müssen, während wir diese Ermächtigung betreiben, während wir diese Netzwerke betreiben, wissen, wozu wir das tun. Das ist nicht ein Selbstzweck, sondern wir haben Gründe, warum wir uns verbinden. Und diese Gründe sind so stark, dass wir sie nicht verbergen müssen. Der schlechte Klüngel muss verbergen, warum er Netzwerke bildet. Der gute Klüngel muss davon reden. Er muss die Kerze auf den Schrank stellen, auf den Tisch stellen und nicht sein Licht unter den Scheffel stellen. Also ist das Wort Vernetzung, so wie wir es jetzt gebrauchen, nicht einfach nur eine Metapher für irgendeine Art von Verbindung, sondern sie wird von wirklichen Menschen getragen, die ein Herz haben und einen Verstand, die Fehler haben und trotzdem zu Großartigem fähig sind. Da entstehen diese Gefühle von Beheimatung, mit denen ich eingestiegen bin heute, in der Begegnung mit Ihnen. Das ist die leitende und leuchtende Idee hinter der ursprünglichen Gründung von Gesellenvereinen und allen Netzwerkverbindungen, die Menschen helfen, zu sich selber zu kommen und ein lebenswürdiges Leben zu führen. Im Grunde ist das auch die große tragende  Idee Ihrer ganzen, ja doch inzwischen weltweiten  „Kolpingfamilie“, dieses großen Netzwerkes, das auch bereit sein muss, auf neue Herausforderungen mit neuen Strategien zu reagieren. Ich gratuliere Ihnen dazu, dass Sie nicht nur der Traditionspflege verpflichtet sind, sondern in Ländern, wo Sie ganz neu starten, neue Konzepte entwickeln, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, neue Jüngerinnen und Jünger gewinnen, das ist ein großartiges Tun.

Mir ist vorhin aufgefallen, dass man „bei Kolpings“ so gerne von der „Kolpingfamilie“ spricht. Das kommt ja übrigens auch nicht von ungefähr. Das erste Netz, das Adolph Kolping überhaupt sah vor seinen geistigen Augen und was Menschen Halt und Sicherheit zu geben vermag, das ist ja die Familie. Ich habe gelesen, dass er aus einer armen und bedrängten großen Familie kam. Daher habe ich eine besondere Bewunderung für die Entwicklungsschritte, zu denen er im Stande war. Ihm war bewusst, wie wichtig es ist, ob wir eine Familie haben oder nicht. Wie sie uns bewegen kann zum Guten oder zum Schlechten. Wie sie uns stark oder schwach machen kann. Eine Familie zu haben, und zwar eine gute, eine tragende, die nicht einengend ist, nicht depotenzierend, sondern Geborgenheit und Freiheit gewährt. Das ist ein wesentliches Ziel Adolph Kolpings gewesen, und das – so hoffe und glaube ich es – bestimmt auch das Wirken der Kolpingsgemeinschaft – und auch das ist eine dringende notwendige Botschaft für heute.

Die Familie zu stärken, also die erste und nächste Instanz, das erste Netz, das uns begegnet, wenn wir aufwachsen und die ersten Schritte ins Leben probieren, das ist für unsere ganze Gesellschaft von lebenswichtiger Bedeutung. Ich bin schon oft bei anderen Reden auf diesen Punkt gekommen, dass viele von uns in ihrer Kindheit so gepolt werden, dass sie später aktive Bürger sein können. Es ist ein Mangel, nicht das Glück zu haben, als geliebtes Wesen in einer Familie aufzuwachsen oder jemanden zu haben in der Nähe, eine Großmutter, einen väterlichen Freund, eine Freundin, die Dir sagt: Du bist wertvoll. Ich glaube an Dich. Ja, wie wollen wir dann später ich sein? Und wenn wir nicht „ich“ sein können, wie können wir dann „wir“ sein? Also eigentlich ist das, was in der frühen Kindheit passiert, so etwas wie eine politische Propädeutik. Es ist eigentlich viel mehr. Es ist die Grundlage für die Existenzform des Bürgers. Vielleicht haben wir so eine ideale Vorstellung von der Familie wie wir sie auch manchmal haben vom Gelingen eines ganzen menschlichen Lebens oder einer ehelichen Partnerschaft oder einer ewigen Freundschaft. Meistens gibt es nur Näherungswerte an das, was wir uns wünschen. So sehen wir auch unsere Familie immer als je neue Aufgabe für jede Generation. Und wir sehen auch den Wandel der Verhältnisse. In einer  Agrargesellschaft mit Großfamilien war die Rolle der Familie eine ganz andere als später. In der Industrialisierung, in der Nachkriegszeit, dann jetzt  im Wohlfahrtsstaat, wo die Rolle der Familie in ganz anderer Weise bedroht ist, scheinbar brauchen viele Menschen sie gar nicht mehr. Und deshalb erfahren wir nicht – viele von uns nicht mehr – im Kindesalter diese Quelle von Kraft, die uns erlaubt, so zu werden, wie ich es vorhin beschrieben habe. Wohlfahrtsstaat auf der einen Seite und  Mangelgesellschaft, was familiäre Zuwendung betrifft, auf der anderen Seite. Das kommt schon gelegentlich zusammen vor.

Also sollte es immer darum gehen,  einen Raum zu schaffen, in dem jemand  frei atmen kann, in dem man  Sicherheit erfährt, und erfährt, dass man  angenommen wird. So entstehen dann Verlässlichkeit und Bindung. Familie ist dann ein zentrales Thema der Gesellschaft: so viele Chancen des Einzelnen,  so viel geistige, seelische und moralische Prägung hängen davon ab. Ich bin sehr froh darüber, dass im Kolpingwerk dieses Thema für viele Menschen lebendige Erfahrung ist – weltweit.

Das Zusammenleben der Generationen, das unsere ganze Gesellschaft prägt, hat seinen vornehmsten Erfahrungs- und Übungsort in der Familie. Wie Einzelne können auch Familien schwach sein und brauchen Ermutigung, Befähigung, Ermächtigung. Das geschieht im Kolpingwerk beispielhaft. Und daran können und sollten sich deswegen andere, die in der Gesellschaft Möglichkeiten und Verantwortung haben, ein Beispiel nehmen.

Die Entwicklung seiner Fähigkeiten in einem guten Beruf, das Getragenwerden durch andere und die Verantwortung übernehmen zu können für eine gute Familie, das waren zwei Prinzipien der pädagogischen Arbeit Kolpings. Ein drittes schließlich war es, die Verantwortung zu übernehmen für ein gutes Gemeinwesen. Ein christlicher, gut ausgebildeter Handwerker, der sich um seine Familie kümmert und von ihr getragen wird, wird nach Kolping auch in der Regel ein guter Staatsbürger sein, der politisch wach ist, der sich politisch einsetzt und der politisch mitentscheiden möchte und kann.

Die Befähigung, die Ermächtigung und – vielleicht vor allem – die Bereitschaft, sich politisch einzusetzen, zeichnen viele Kolpingschwestern und -brüder aus, das weiß ich. Nicht allein in der Selbstverwaltung der Handwerkskammern, die ja in gewisser Weise auch irgendwie auf Kolping zurückzuführen sind, sind sie aktiv, sondern auch in Parteien, in vielerlei politischen oder vorpolitischen Einrichtungen, in Gremien und Bewegungen.

Und das passt zu dem vorhin Beschriebenen. Das gehört für Kolping dazu. Und ich war froh, heute in der Predigt und in allen Begegnungen auch dieses Miteinander von unserem gesellschaftlichen, unserem altruistischen Engagement, zusammen mit unserer christlichen Botschaft zu hören.

Ich freue mich besonders darüber, dass die Einzelnen, aber auch die Kolpingfamilie als ganze in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement einen besonderen Schwerpunkt auf Integration setzt: für Menschen, die bei uns Heimat suchen, für Menschen mit Behinderung und für viele andere mehr – das liegt ja eigentlich auch auf der Hand, das ist die Befähigung der Vielen, die in unserer Gesellschaft einen wichtigen  Platz haben müssen. Und es liegt auf der Hand, dass Menschen mit ihren Idealen sich hier engagieren, Menschen, die es schwerer haben als die meisten, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden helfen.

Aus dem Geiste des Evangeliums, aus dem Geiste der Nächstenliebe Politik und Gesellschaft praktisch zu gestalten: das war die Sache Adolph Kolpings und das ist die Sache des Kolpingwerkes bis heute.

Aus dieser ursprünglichen Praxis – auch etwa aus der der Katholischen Arbeiterbewegung Bischof von Kettelers – wurde dann schließlich auch eine handlungsorientierende Theorie – die katholische Soziallehre. Deren zentrale Prinzipien – Subsidiarität, Solidarität und Personalität – haben sowohl unsere Wirtschaftsordnung der sozialen Marktwirtschaft als auch das Grundgesetz maßgeblich und bis heute geprägt. Man darf wohl sagen: zu unser aller Wohl und Glück. Und in aller ökumenischen Gelassenheit darf ich hinzufügen,  dass es da auch durchaus viele Gemeinsamkeiten zwischen den  Traditionen der evangelischen  Sozialethik und katholischen Soziallehre gibt. Beide haben diesen  Beitrag geleistet, den ich eben gewürdigt habe. Unser Staat ist eben nicht nur der Staat des Wirtschaftswunders. Er ist auch ein Staat des Demokratiewunders. Und ein Staat des sozialen Ausgleichs. Das können wir vorzeigen. Er ist nicht ein Staat, aus dem andere weglaufen, sondern er ist ein Staat, in dem andere leben möchten. Und daran haben Menschen wie Sie und haben Ihre Vorväter und Mütter mitgewirkt.

Diese Christliche Soziallehre mit ihren gesellschaftlich so einflussreichen und wohltuenden Folgen hätte es so nicht gegeben ohne die praktische Leidenschaft, den christlichen Glauben und den politischen Mut Adolph Kolpings.

Wir alle, nicht nur die Christen in Deutschland, tun gut daran, uns durch die lebendige Erinnerung an sein Vorbild ermutigen zu lassen, uns gesellschaftlich und politisch einzumischen. Das ganze Land hat guten Grund zur dankbaren Erinnerung an den etwas langsameren der berühmten Kerpener.