Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Wolfgang Niedecken

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 21. Februar 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 21. Februar 2013 bei der Verleihung des Verdienstkreuzes 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Wolfgang Niedecken in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten:

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Ansprache im Großen Saal

Herzlich willkommen in Schloss Bellevue! Ordensverleihungen in diesem Saal haben normalerweise eine feste Dramaturgie: Rede, Musik, Übergabe. Manchmal weiß man nicht so genau, ob es nun feierlich wird oder fröhlich. Wenn es gut geht, wird es beides. Lob und Leidenschaft bestimmen den Ton, seltener Leid oder schwere Lebensgeschichten wie die, von denen wir gleich hören werden. Heute wird einiges anders sein, denn heute zeichnen wir einen Mann aus, der nicht nur Dur und Moll beherrscht, sondern auch mit Dissonanzen in dieser Welt umzugehen weiß. Jemanden, der vielen Menschen mit seinem Tun das Herz und die Augen öffnet: Wolfgang Niedecken!

Lieber Herr Niedecken, Ihre Kunst kann so vieles sein: ein Konzert, ein Gemälde, ein Politikum. Manchmal alles miteinander. Sie haben die Gabe, Ihre lauten und leisen Gefühle auf eine Weise auszudrücken, die viele andere gern mit Ihnen teilen: für einen kurzen intensiven Augenblick, oft auch für ein großes Versprechen, das die Menschen dann ein Leben lang zu begleiten vermag.

In den 90er-Jahren haben Sie gegen Fremdenhass und Rassismus gesungen und dafür Ihren ersten Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland erhalten. Die Laudatio von damals ist auch heute noch aktuell, Ihr Engagement gegen Rechtsradikale einfach unermüdlich. Dafür einen speziellen Extradank!

Unermüdlich ist auch Ihr Glaube daran, dass sich Gesellschaften ändern lassen, dass man auch in scheinbar verlorenen Situationen Mut und neue Kraft gewinnen kann. Mit dieser Haltung engagieren Sie sich in Deutschland und in den vergangenen Jahren auch ganz besonders in Afrika. Diese aktuelle Arbeit führt uns heute zusammen.

„Rebound“ heißt das Projekt, das Sie in Norduganda und im Ostkongo zusammen mit Worldvision entwickelt haben, dem Sie als Pate dienen und dem Sie Ihre Aktivitäten widmen – mit großem Einsatz. Ein „Rebound“ ist beim Basketball der entscheidende Moment, wenn der Ball den Korb zwar verfehlt hat, aber wieder aufgefangen wird und damit eine neue Chance entsteht. Wer fängt Menschen auf, die ins Bodenlose zu fallen drohen? Menschen, die noch sehr jung sind, aber mit ihren Hoffnungen oft schon am Ende?

Wenn man sich wie Sie, lieber Herr Niedecken, mit dem Leben von Kindersoldaten beschäftigt, läuft man leicht Gefahr, ganz reglos und starr zu sein vor Entsetzen und dann auch leicht in Ohnmacht zu verfallen. Denn es sind Geschichten von einer uns oft unvorstellbaren Grausamkeit, die Rebellengruppen sind gnadenlos und perfide, die Abgründe mit Worten schwer zu beschreiben. Neunjährige werden von marodierenden Banden gezwungen, die eigenen Eltern mit der Machete zu zerstückeln und damit vor den Augen der Dorfgemeinschaft die größte Schuld auf sich zu laden. Elfjährige lernen das systematische Foltern und Töten. 13-Jährige gelten als alt genug, ihrerseits Kindersoldaten, neue Rekruten anzuwerben. Angst und Hass, Blutzoll und Rache, all das vermischt sich. Diese unfassbare Brutalität hinterlässt Spuren – an den Körpern, in den Seelen der Betroffenen und in der ganzen Gesellschaft.

Die westliche Sicht auf die Schicksale von Kindersoldaten ist leider oft verkürzt, sie konzentriert sich meist auf das akute Leiden der Kinder als Zwangsrekrutierte. Wer aus den Fängen der Warlords fliehen kann oder befreit wird, der ist aber noch lange nicht gerettet. Viele Familien und viele Dörfer weigern sich, die Jugendlichen, die diese schwere Schuld auf sich geladen haben, wieder in die Gemeinschaft aufzunehmen. Ehemalige Kindersoldaten werden oft zu Heimatlosen, landen in der Straßenkriminalität oder in der Prostitution, sind täglich dem Risiko ausgesetzt, erneut von den Rebellen aufgegriffen und wieder in dieses blutige Handwerk gezwungen zu werden. Sie gehören zu jenen traurigen Geschöpfen, die im Lied „Noh Gulu“ besungen werden: jeden Abend auf der Suche nach einem Schlafplatz, die meisten barfuß, wer Glück hat, der trägt Flipflops.

Lieber Herr Niedecken, Sie haben Worte und Melodien gefunden, die ein großes Publikum bewegen: zum Mitgefühl und zur Mithilfe. Bewegung ist das Entscheidende – in Afrika genauso wie in Deutschland, in Europa. Wer einen Rebound schaffen und Fallende auffangen will, der darf nicht reglos stehen bleiben. Der muss aktiv werden und den eigenen Standpunkt mit dem immer gleichen Blickwinkel auch einmal verlassen können. Leider sind nur wenige Menschen dazu bereit, nach wie vor. Das hat schon einer meiner Vorgänger, Bundespräsident Horst Köhler, immer wieder aufgegriffen. Unser Nachbarkontinent hat in den Augen vieler Europäer in den vergangenen Jahrzehnten kaum Kontur gewonnen. Positive Entwicklungen dort werden hier einfach zu selten oder gar nicht wahrgenommen. Etwa wenn sich Staaten anstrengen, wirklich Demokratie zu errichten. Oder wenn es tatsächlich gelingt, wirtschaftliche Wachstumsprozesse in Gang zu setzen. Oder wenn sich  in Teilen Afrikas eine Mittelschicht herausbildet. All das bleibt oft im Schatten unserer Aufmerksamkeit. Afrika gilt stattdessen als Hort der Hiobsbotschaften und ein Bericht über Kindersoldaten nur als eine erschreckende Nachricht von vielen. Weil die Probleme so groß sind, geben sich viele Zuhörer und Zuschauer erst ihrer Betroffenheit hin und dann ihrer Ohnmacht. Das ist der Punkt, an dem Sie ansetzen, Herr Niedecken, und wo immer mehr aktive Menschen anzusetzen haben. Konzentrieren wir uns nicht auf die Betrachtung von Mangel, Zerstörung und Tod, sondern auf Menschen, auf Mut zum Leben!

Wenn wir Sie heute ehren, lieber Herr Niedecken, dann deshalb, weil Sie uns bei diesem Blickwinkel helfen. Wir hören die Berichte aus den Rebound-Centern, die uns ermutigen, dass es sich lohnt, etwas Zeit, Geld, Empathie und Menschenliebe herzugeben. Ich denke zum Beispiel an das junge Mädchen, das von ihren Entführern vergewaltigt wurde und im Rebound-Center lernt, ihr daraus entstandenes Kind zu achten und anzunehmen. Sie will Schneiderin werden. Oder an den jungen Mann, der nicht mehr weiß, wie oft er eigentlich getötet hat, und der sagt: Ich will mein Messer nur noch in einer Werkstatt benutzen, es nicht mehr gegen Menschen richten. – All das ist möglich, weil es Engagierte gibt wie Sie, lieber Herr Niedecken, die Jugendlichen in ihrem Lebenswillen bestärken, ihnen eine Zuflucht schaffen, eine Ausbildung und Perspektive geben.

Der heutige Orden ist ein Orden für neu errungenes Leben. Er ist ein Dank unseres Landes an Sie, Wolfgang Niedecken. Zugleich soll diese Veranstaltung Anerkennung der Arbeit all derer sein, die sich für Kindersoldaten einsetzen.

Wir alle wissen: Der Rebound-Erfolg steht für Einzelfälle. Die Uno berichtet von geschätzten 250.000 Kindersoldaten weltweit, die Hälfte davon in Afrika. Die genaue Zahl kennt niemand. Die weitgehende Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft kennen in diesem Saal jedoch die meisten. Wo der Krieg zum prägenden Alltagsgefühl und zum Wirtschaftsfaktor wird, nutzen ratifizierte Kinderrechtsabkommen einfach zu wenig. Konventionen, die nicht umgesetzt werden, sind Makulatur. Kritiker sagen: Und die Welt schaut zu!

Es ist bequem, das Unrecht dieser Welt auf die Welt zu schieben. Deshalb wünsche ich mir heute und in den folgenden Jahren eine Diskussion, die auf unbequeme Fragen eingeht. Wir haben den Bundesminister für Entwicklungszusammenarbeit und viele engagierte Gruppen zu Gast. Sie können von Ansätzen und Programmen berichten, die sich bewährt haben. Wir können etwas erreichen, darüber müssen wir mehr sprechen. Und Sie, die Medienvertreter hier im Saal können dazu beitragen, unserer gemeinsamen Botschaft Aufmerksamkeit zu verschaffen: Kindersoldaten sind kein Nebenthema der Krisengebiete. Kindersoldaten gibt es, solange in den betroffenen Regionen keine anderen Perspektiven greifbar werden als  Unterdrückung und Gewalt. Wer die Menschenrechte ernst nimmt, muss sich für Kindersoldaten zuständig fühlen, muss die Gesellschaften, in denen sie leben, in ihrer gesamten Entwicklung fördern, muss diesen Ländern den Weg in eine demokratische, selbstbestimmte und wirtschaftlich auch wirklich tragfähige Zukunft bahnen. Die Forderungen und Fragen, die wir dafür im Einzelnen zu diskutieren haben, sind äußerst vielschichtig. Das ist mir bewusst. Aber einiges erscheint mir doch offenkundig.

Erstens: Straffreiheit für Milizenführer, die Kinder als Soldaten missbrauchen, darf es nicht geben! Zweitens: Die Kinderrechte müssen geachtet werden! Wir dürfen nicht müde werden, ihre Einhaltung immer wieder einzufordern. Schwache Staaten verdienen dabei unsere besondere Unterstützung. Denn eine stabile friedliche Entwicklung ist die beste Prävention. Drittens: Die Rebound-Center dürfen keine Einzelprojekte bleiben. Nötig sind deutlich mehr Programme, die zur Demobilisierung und zur Reintegration dieser geschlagenen Bevölkerungsgruppe beitragen.

Leider funktioniert internationale Zusammenarbeit bekanntlich nicht per Wunschliste. Aber eine klare Verständigung darüber, was passieren muss, kann doch beschleunigend wirken. Zur Klarheit gehört das Eingeständnis, dass langfristige Aufgaben und offene Fragen bleiben. Wir brauchen einen langen Atem bei der Entwicklungszusammenarbeit. Lassen Sie uns die heutige Begegnung nutzen und zum Beispiel fragen:

Wie kann Versöhnung in einer Region gelingen, in denen Großeltern, Kinder und Enkel so viel Unrecht und Gewalt erfahren haben? Wie kann internationale Zusammenarbeit die Kraft der Bevölkerung potenzieren, also Menschen ermächtigen für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbruch? Und was kann Deutschland – ganz konkret – tun: an den internationalen Verhandlungstischen, durch engagierte Vorbilder in der Welt oder im Asylbewerberheim gleich nebenan, wo traumatisierte junge Flüchtlinge auf einen Neubeginn hoffen und auf Menschen warten, die ihnen das ermöglichen. Die Rebound-Center beweisen im Kleinen, dass überzeugende Antworten menschenmöglich sind.

Lieber Herr Niedecken, Sie haben gezeigt: Auch unter schwierigsten Umständen kann man den Ball des Lebens auffangen und wieder ins Spiel bringen! Dafür verleihe ich Ihnen im Namen der Bundesrepublik Deutschland das Verdienstkreuz 1. Klasse. Ich darf Sie nun nach vorne bitten!