Rede zu Perspektiven der europäischen Idee

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 22. Februar 2013

Der Bundespräsident hat am 22. Februar in Schloss Bellevue unter dem Titel "Europa: Vertrauen erneuern - Verbindlichkeit stärken" eine Rede zu Perspektiven der europäischen Idee gehalten. Mit dieser Rede eröffnete der Bundespräsident gleichzeitig das "Bellevue Forum".

"Europa: Vertrauen erneuern -
Verbindlichkeit stärken"

Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

so viel Europa war nie! Das sagt jemand, der mit großer Dankbarkeit in diesen Saal blickt, der Gäste aus Deutschland und aus ganz Europa begrüßen darf. Seien Sie herzlich willkommen.

So viel Europa war nie –das empfinden viele Menschen besonders in Deutschland derzeit auf ganz andere Weise, zum Beispiel beim Blick in die morgendlichen Zeitungen. Da begegnet uns Europa meistens verkürzt auf vier Buchstaben – Euro – oder als Krisenfall. Immer wieder ist von Gipfeldiplomatie die Rede und von Rettungspaketen. Es belastet. Es geht um schwierige Verhandlungen, auch wenn es Erfolge sind, nur um Teilerfolge, und dann gibt es immer wieder ein Unbehagen, auch deutlichen Unmut, den man nicht ignorieren darf. In einigen Mitgliedsstaaten fürchten die Menschen, dass sie zu Zahlmeistern der Krise werden. In anderen wächst die Angst vor immer schärferen Sparmaßnahmen und sozialem Abstieg. Geben und Nehmen, Verschulden und Haften, Verantwortung und Teilhabe scheinen vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr richtig und gerecht sortiert in der Gemeinschaft der Europäer.

Hinzu kommt eine Liste von Kritikpunkten, die schon seit langer Zeit zu hören sind: der Verdruss über die sogenannten Brüsseler Technokraten und ihre Regelungswut, die Klage über mangelnde Transparenz der Entscheidungen, das Misstrauen gegenüber einem unübersichtlichen Netz von Institutionen und nicht zuletzt der Unwille über die wachsende Bedeutung des Europäischen Rates und die dominierende Rolle des deutsch-französischen Tandems.

So anziehend Europa auch ist – zu viele Bürger lässt die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit zurück. Ich weiß es, ich höre es, ich lese es fast täglich: Es gibt Klärungsbedarf in Europa. Angesichts der Zeichen von Ungeduld, Erschöpfung und Frustration unter den Bürgern, angesichts der Umfragen, die mir eine Bevölkerung zeigen, die unsicher ist, ob unser Weg zu „mehr“ Europa richtig ist, scheint es mir, als stünden wir vor einer neuen Schwelle – unsicher, ob wir wirklich entschlossen weitergehen sollten. Die Krise hat mehr als nur eine ökonomische Dimension. Sie ist auch eine Krise des Vertrauens in das politische Projekt Europa. Wir ringen nicht nur um unsere Währung. Wir ringen auch mit uns selbst.

Und dennoch stehe ich heute als ein bekennender Europäer vor Ihnen und spüre das Bedürfnis, mich mit Ihnen gemeinsam noch einmal zu vergewissern, was Europa bedeutet, was es bedeutet hat und welche Möglichkeiten es weiter in sich trägt – so, wie ich es heute zu überblicken vermag.

Für mich ist dieser Tag auch Anlass, neu und kritischer auf meinen euphorischen Satz kurz nach meiner Amtseinführung zurückzukommen, als ich sagte: „Wir wollen mehr Europa wagen.“ So schnell und gewiss wie damals würde ich es heute wohl nicht mehr formulieren. Dieses Mehr an Europa braucht zumindest eine Deutung, braucht Differenzierung. Wo kann und wo soll mehr Europa zu einem gelingenden Miteinander beitragen? Wie soll Europa aussehen? Was wollen wir entwickeln und stärken, und was wollen wir begrenzen? Und nicht zuletzt: Wie finden wir für mehr Europa mehr Vertrauen, mehr Vertrauen, als wir es derzeit haben?

Erinnern wir uns: Der Anfang war doch vielversprechend. Bereits fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlug Frankreichs Außenminister Robert Schuman seinen europäischen Partnern die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Frankreich und Deutschland wurden zu den großen Impulsgebern der europäischen Entwicklung – und aus ehemaligen Kriegsgegnern wurden Partner. Als wir im Januar den 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags gefeiert haben, war uns noch einmal besonders deutlich bewusst, wie kostbar diese Freundschaft für Europa geworden ist und wie groß das Glück ist, diese Freundschaft mit einer neuen Generation weiterleben zu können, weitergestalten zu können.

Damals, 1950, war Jean Monnet der Ideengeber. Sein Ziel: die Sicherung des europäischen Friedens durch eine „Vergemeinschaftung“, die den Mitgliedern gleichzeitig rationalen Nutzen versprach. Es war nicht nur vernünftig, es war auch in ihrem nationalen Interesse. Westdeutschland erreichte mit dieser Integration seine erste Rehabilitierung in der internationalen Staatengemeinschaft. Frankreich und die anderen Partnerstaaten befriedigten durch Kontrolle auch deutscher Kohle- und Stahlproduktion ihr Sicherheitsbedürfnis. Der Gedanke war lange schwer umzusetzen, aber von großer politischer Hellsichtigkeit: Wenn die Wirtschaft verschmilzt, verschmilzt irgendwann auch die Politik. Übrigens sagte Walther Rathenau das schon 1913, vor genau 100 Jahren. Wo einst Staaten um Ressourcen und um die Hegemonie stritten, wächst Frieden durch gegenseitige Verflechtung.

Für eine umfassende nationenübergreifende Politik war es 1950 natürlich noch zu früh. Nur Schritt für Schritt sollte aus wirtschaftlicher Integration eine politische werden, aus immer größeren Feldern von Vergemeinschaftung schließlich ein gemeinsames Europa entstehen – für die einen war das eine europäische Föderation, für die anderen ein Europa der Vaterländer. Lange Zeit brachte diese pragmatische Methode das Projekt Europa tatsächlich voran. Heute sind wir nun allerdings gezwungen, diese Art des Vorgehens grundlegend zu überdenken. Weil Entwicklungen ohne ausreichenden politischen Gesamtrahmen zugelassen wurden, sind die Gestalter der Politik bisweilen zu Getriebenen der Ereignisse geworden.

Selbst an bedeutenden Wegmarken fehlte es in der Vergangenheit oft an politischer Ausgestaltung. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers etwa wurden zehn Staaten in die EU aufgenommen, obwohl das nötige Fundament für eine so große EU noch fehlte. Und so blieben bei dieser größten Erweiterung der EU die Fragen nach einer Vertiefung – teilweise jedenfalls – unbeantwortet. Als folgenschwer erwies sich auch die Einführung der gemeinsamen Währung. 17 Staaten führten im Laufe der Jahre den Euro ein, doch der Euro selbst bekam keine durchgreifende finanzpolitische Steuerung. Dieser Konstruktionsfehler hat die Europäische Union in eine Schieflage gebracht, die erst durch Rettungsmaßnahmen wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus und den Fiskalpakt notdürftig korrigiert wurde.

Für mich ist jedoch klar: Selbst wenn einzelne Rettungsmaßnahmen scheitern sollten, steht das europäische Gesamtprojekt nicht infrage. Seine Vorteile liegen bis jetzt deutlich auf der Hand: Wir reisen von der Memel bis zum Atlantik, von Finnland bis nach Sizilien, ohne an irgendeiner Grenze den Reisepass zu zücken. Wir zahlen in großen Teilen Europas mit einer gemeinsamen Währung und kaufen Schuhe aus Spanien oder Autos aus Tschechien ohne Zollaufschläge. Wir lassen uns in Deutschland vielerorts von polnischen Ärzten behandeln und sind dankbar dafür, weil manche Praxen sonst schließen müssten. Unsere Unternehmer beschäftigen zunehmend Arbeitskräfte aus allen Mitgliedsländern der Union, die in ihren eigenen Ländern oft gar keine Arbeit oder nur Jobs unter sehr viel schlechteren Bedingungen finden würden. Und unsere Senioren, sie verbringen zum Teil ihren Ruhestand an Spaniens Küsten, manche auch an der polnischen Ostsee. Mehr Europa ist also auf erfreuliche Weise Alltag geworden.

Deswegen sind die Ergebnisse von Meinungsumfragen nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Zwar ist die Skepsis gegenüber der EU in den letzten Jahren stark angestiegen, aber eine Mehrheit ist weiterhin überzeugt: Unsere komplexe und zunehmend globale Realität braucht Regelungen im nationenübergreifenden Rahmen. Wir alle in Europa haben große politische und wirtschaftliche Vorteile von der Gemeinschaft.

Was uns als Europäer allerdings auszeichnet, was unsere europäische Identität bedeutet, das wiederum bleibt schwer zu umreißen. Junge Gäste hier in Schloss Bellevue haben mir vor Kurzem bestätigt, was wohl viele hier im Saal auch kennen: „Wenn wir draußen in der großen, weiten Welt sind, dann empfinden wir uns als Europäer. Wenn wir in Europa sind, dann empfinden wir uns als Deutsche. Und wenn wir in Deutschland sind, na, dann eben als Sachse oder Hamburgerin.“

Wir sehen dabei, wie vielschichtig Identität sein kann. Und wir begreifen: Europäische Identität löscht weder regionale noch nationale Identität, sie existiert neben diesen Identitäten. Gerade habe ich bei meinem Besuch im Freistaat Bayern an der Universität Regensburg im Projekt Europaeum einen jungen Studenten getroffen, der als Pole in Deutschland aufwuchs, polnisch erzogen, mit Polnisch als Muttersprache, und bei Sportereignissen trug er begeistert die polnische Fahne umher. Aber erst, als er ein Semester in Polen studierte und seine Kommilitonen ihn komplett als Deutschen wahrnahmen, wurden ihm auch diese, seine deutschen Anteile der Identität bewusst. Er konnte sie auch schmerzfrei bejahen. Es ging ihm wie vielen: Oft nehmen wir unsere Identität durch die Unterscheidung gegenüber anderen wahr.

„Man braucht Europa nur zu verlassen, gleich in welcher Richtung, um die Realität unserer Kultureinheit zu spüren“, fasste der Schweizer Philosoph Denis de Rougemont diese Erfahrung schon Ende der 50er-Jahre zusammen. Er sagte: „In den Vereinigten Staaten, in der Sowjetunion sofort und ohne jeden Zweifel in Asien werden Franzosen und Griechen, Engländer und Schweizer, Schweden und Kastilianer als Europäer betrachtet. (…) Von außen gesehen ist die Existenz von Europa augenscheinlich.“

Ist die Existenz Europas von innen gesehen genauso augenscheinlich? Schon geografisch ist der Kontinent ja schwer zu fassen – reicht er beispielsweise bis zum Bug oder bis zum Ural? Bis zum Bosporus oder bis nach Anatolien? Auch die identitätsstiftenden Bezüge unterlagen in einer langen Geschichte mehrfach einem Wechsel. Heute wissen wir, dass sie sich auf ein ganzes Ensemble beziehen – angefangen von der griechischen Antike über die römische Reichsidee und das römische Recht bis hin zu den prägenden christlich-jüdischen Glaubenstraditionen.

Doch wie sieht es heute aus? Was bildet denn heute das einigende Band zwischen den Bürgern Europas? Woraus schöpft Europa seine unverwechselbare Bedeutung, seine politische Legitimation und seine Akzeptanz?

Als die Europäische Union im Dezember den Friedensnobelpreis erhielt, haben die Festredner Europa als Friedensprojekt beschrieben, gefeiert und geehrt. Wir denken dann, wie unvergesslich es war, als Winston Churchill 1946 in seiner berühmten Rede an die Jugend in Zürich die „Neuschaffung der europäischen Familie“ forderte. Unvergesslich, dass damals die Überzeugung von Politkern wie Bevölkerung in drei Worten zum Ausdruck zu bringen war: „Nie wieder Krieg!“ Unvergesslich auch, wie 700 Politiker und Intellektuelle 1948 in Den Haag auf dem Europäischen Kongress zusammenkamen, so unterschiedliche Persönlichkeiten wie etwa Bertrand Russell oder aus Italien Ignazio Silone oder aus Deutschland Konrad Adenauer, Walter Hallstein oder Eugen Kogon.

„Ob der ewige Frieden auf dieser Erde möglich ist, weiß kein Mensch“, so fasste der französische Philosoph Raymond Aron später die Intentionen zusammen. „Dass die Beschränkung der Gewalt in diesem gewaltsamen Jahrhundert unsere gemeinsame Pflicht geworden ist, darüber gibt es keinen Zweifel.“

Allerdings wurde damals Europa recht bald zu einem Konzept nur für Westeuropa. Im Kalten Krieg zerfiel der Kontinent in zwei politische Lager. Doch mochten Ost- und Mittelosteuropa über 40 Jahre abgeschnitten sein, so lebten seine Bewohner doch im Geiste in Europa. Sie hatten es eigentlich nie verlassen. Für sie und auch für mich war 1989/90 unser überzeugtes Ja zu dem freien, demokratischen, wohlhabenden Europa so etwas wie der zweite Gründungsakt Europas, ein nachgeholter Beitritt für jenen Teil des Kontinents, der einfach nicht von Anfang an dabei sein konnte. Es war zugleich eine qualitative Erweiterung für Europa. So, wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem ein Friedensprojekt gewesen war, so war es nach 1989 vor allem ein Freiheitsprojekt.

Die junge Generation, die in den 80er-Jahren und später geboren wurde, sieht Europa wieder mit ganz anderen Augen. Ihre Großeltern und Urgroßeltern, die Berlin, Warschau und Rotterdam noch in Schutt und Asche erlebten, sie haben es geschafft, Europa neu aufzubauen, im Westen konnten sie sogar Wohlstand an ihre Kinder und Kindeskinder vererben.

Ich weiß, liebe Schülerinnen und Schüler im Saal, ihr habt eurer erstes Taschengeld in Euro erhalten, ihr lernt mindestens zwei Fremdsprachen, ihr fahrt zur Klassenreise nach Paris, London, Madrid, vielleicht auch nach Warschau, Budapest, Prag. Und wenn ihr euren Schulabschluss habt, stehen euch Erasmus-Stipendien oder Berufsbildungsprogramme wie Leonardo zur Verfügung. Oft lernt ihr schon miteinander in Europa, statt nur etwas übereinander zu lernen. Und ihr feiert miteinander: auf europäischen Musikfestivals oder in den lebendigen Metropolen Europas. Keine Generation vor euch hatte so erfreuliche Gelegenheiten, sagen zu können: Wir sind Europa! Und ihr erlebt tatsächlich „mehr Europa“ als alle, alle Generationen vor euch!

Trotzdem stimmt natürlich, was oft moniert wird: In Europa fehlt die große identitätsstiftende Erzählung. Wir haben keine gemeinsame europäische Erzählung, die über 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union auf eine gemeinsame Geschichte vereint, die ihre Herzen erreicht und ihre Hände zum Gestalten animiert. Ja, es stimmt: Wir Europäer haben keinen Gründungsmythos nach der Art etwa einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität wahren konnte. Wir haben auch keinen Gründungsmythos im Sinne einer erfolgreichen Revolution, in der die Bürger des Kontinents gemeinsam einen Akt der politischen oder sozialen Emanzipation vollbracht hätten. Die eine europäische Identität gibt es genauso wenig wie den europäischen Demos, ein europäisches Staatsvolk oder eine europäische Nation.

Aber dennoch hat Europa eine identitätsstiftende Quelle – einen im Wesen zeitlosen Wertekanon, der uns auf doppelte Weise verbindet, als Bekenntnis und als Programm. Wir versammeln uns im Namen Europas nicht um Monumente, die den Ruhm der einen aus der Niederlage der anderen ableiten. Wir versammeln uns für etwas – für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, für Menschenrechte, für Solidarität.

Alle diese europäischen Werte sind ein Versprechen, aber sie sind auch niedergelegt in Verträgen und garantiert in Gesetzen. Sie sind Bezugspunkte unseres gemeinsamen republikanischen Verständnisses – Grundlage dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben können. Die europäischen Werte öffnen den Raum für unsere europäische Res publica.

Unsere europäische Wertegemeinschaft will ein Raum von Freiheit und Toleranz sein. Sie bestraft Fanatiker und Ideologen, die Menschen gegeneinander hetzen, Gewalt predigen und unsere politischen Grundlagen untergraben. Sie gestaltet einen Raum, in dem die Völker friedlich miteinander leben und nicht mehr gegenseitig zu Felde ziehen. Ein Krieg wie noch vor kurzem auf dem Balkan, wo bis heute europäische Soldaten und zivile Kräfte den Frieden sichern müssen, so etwas darf nie wieder blutige Realität werden.

Von anderen Kontinenten zugewanderte Menschen wissen das Kostbare Europas oft in ganz besonderer Weise zu schätzen. Sie kennen Armut, Unfrieden, Unfreiheit und Unrecht in anderen Teilen der Welt. Sie erleben Europa als einen Raum des Wohlstands, der Selbstverwirklichung und in vielen Fällen auch als Schutzraum: vor Pressezensur oder staatlichen Internetsperren, vor Folter, vor Todesstrafe, vor Kinderarbeit oder Gewalt gegen Frauen oder vor der Verfolgung jener, die eine gleichgeschlechtliche Beziehung leben.

Unsere europäischen Werte sind verbindlich, und sie verbinden. Mögen europäische Staaten Europas Regeln auch gelegentlich verletzen, so können diese doch vor europäischen Gerichten eingeklagt werden. Mag es auch immer einmal wieder Anlass geben, Europa oder Deutschland zwiespältigen Umgang mit Menschen- und Bürgerrechten vorzuwerfen, so garantiert Europa doch eine immerwährende kritische Öffentlichkeit und freie Medien, die für Verfolgte und Unterdrückte besonders in diktatorischen und autoritären Staaten Partei ergreifen können.

Der europäische Wertekanon ist nicht an Ländergrenzen gebunden, und er hat über alle nationalen, ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinweg Gültigkeit. Am Beispiel der in Europa lebenden Muslime wird dies deutlich. Sie sind ein selbstverständlicher Teil unseres europäischen Miteinanders geworden. Europäische Identität definiert sich nicht durch negative Abgrenzung vom anderen. Europäische Identität wächst mit dem Miteinander und der Überzeugung der Menschen, die sagen: Wir wollen Teil dieser Gemeinschaft sein, weil wir die gemeinsamen Werte teilen. Mehr Europa heißt: mehr gelebte und geeinte Vielfalt.

All das, was wir zwischenstaatlich lernen mussten und weiter lernen, um den Frieden zwischen den Völkern zu sichern, haben wir immerfort auch innerhalb unserer Gesellschaft zu lernen und zu sichern, um den Ausgleich zwischen zunehmend Verschiedenen zu erlangen. Wir erleben es tagtäglich: Wir sind auch dann Europa, wenn wir zu Hause bleiben. In Deutschland treffen wir Restaurantbesitzer aus Italien, Krankenpflegerinnen aus Spanien, Fußballspieler aus der Türkei. An den Universitäten und in den Betrieben, an den Bühnen, in den Geschäften arbeiten immer mehr Menschen, die ihre familiären Wurzeln in anderen Ländern haben und die, wenn sie religiös sind, in andere Gotteshäuser gehen als evangelische und katholische Deutsche. Europa ist längst mehr. Vielfalt ist Alltag in der Mitte unserer Gesellschaft geworden.

Sehr geehrte Damen und Herren, unseren Wertekanon, den stellt glücklicherweise kaum jemand in Europa infrage. Der institutionelle Rahmen dagegen, den sich Europa bis jetzt gab, der wird gerade intensiv diskutiert. Für einige ist die europäische, föderale Union die einzige Chance für den Kontinent, andere zielen auf Korrekturen bei den bestehenden Institutionen – etwa die Einführung einer zweiten Kammer oder die gewünschte Erweiterung der Rechte des Europaparlaments. Manche halten es für ausreichend, den Status quo zu wahren, wenn dessen Möglichkeiten mit mehr politischem Willen tatsächlich ausgenutzt werden würden. Und die Euroskeptiker würden die europäische Ebene am liebsten reduzieren.

Aber auch namhafte Befürworter Europas fragen, ob alles, was bis jetzt von Brüssel aus reguliert wird, wirklich von dort aus kommen muss. Wir stehen also mitten in dieser Diskussion und nicht an ihrem Ende. Und wir werden uns leichter über die institutionellen Festlegungen, über den institutionellen Rahmen einigen, wenn wir gemeinsam und in aller Ausführlichkeit die grundlegenden Fragen zur Zukunft des europäischen Projekts diskutiert haben.

Notwendige Anpassungen im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich im Euroraum hat die Politik jetzt glücklicherweise unter Druck vorgenommen. Wir alle wissen aber, dass Europa ja vor weiteren Herausforderungen steht. Ich habe eingangs in meiner Rede von einer Schwelle gesprochen: Wir halten inne, um uns gedanklich und emotional zu rüsten für den nächsten Schritt, der Neues von uns verlangt.

Einst waren ja die europäischen Staaten Großmächte und Global Players. In der globalisierten Welt von heute mit den großen neuen Schwellenländern kann sich im besten Fall ein vereintes Europa als Global Player behaupten: politisch, um substanziell mitentscheiden und weltweit für unsere Werte Freiheit, Menschenwürde und Solidarität eintreten zu können. Wirtschaftlich, um wettbewerbsfähig zu bleiben und so in Europa unsere materielle Sicherheit und damit innergesellschaftlichen Frieden zu sichern.

Bis jetzt ist Europa auf diese Rolle zu wenig vorbereitet. Wir brauchen eine weitere innere Vereinheitlichung. Denn ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik kann eine gemeinsame Währung nur schwer überleben. Wir brauchen auch eine weitere Vereinheitlichung unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, um gegen neue Bedrohungen gewappnet zu sein und einheitlich und effektiver auftreten zu können. Wir brauchen auch gemeinsame Konzepte auf ökologischer, gesellschaftspolitischer – Stichwort Migration – und nicht zuletzt demografischer Ebene.

Dies nun geduldig und umsichtig zu vermitteln ist Aufgabe aller, die sich dem Projekt Europa verbunden fühlen. Unsicherheit und Angst dürfen niemanden in die Hände von Populisten oder Nationalisten treiben. Die Leitfrage bei allen Veränderungen sollte daher sein: Wie kann ein demokratisches Europa aussehen, das dem Bürger Ängste nimmt, ihm Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, kurz: mit dem er sich identifizieren kann?

Wer meint, die europäische Vereinigung sei so etwas wie ein Kunstgebilde und unfähig, ihre unterschiedlichen Bürgerinnen und Bürger aus bald 28 Nationalstaaten zusammenzuführen, der sei daran erinnert, dass auch die Nationalstaaten nichts natürlich Gewachsenes und nichts Ewiges sind und waren und dass ihre Bürger häufig erst sehr langsam in sie hineinwuchsen. Als 1861 die italienische Einheit geschaffen wurde, erklärte der Schriftsteller und Politiker Massimo D'Azeglio: „Italien haben wir geschaffen, nun müssen wir die Italiener schaffen.“ Weniger als zehn Prozent der Bürger sprachen damals Italienisch, und die Masse kannte nur Dialekte.

Doch anders als im 19. Jahrhundert, als auch das Deutsche Reich aus einem Flickenteppich von Königreichen und Fürstentümern hervorging, können und wollen wir eine europäische Vereinigung nicht von oben dekretieren. Wir haben inzwischen starke Zivilgesellschaften. Ohne die Zustimmung der Bürger könnte keine europäische Nation, kann kein Europa wachsen. Takt und Tiefe der europäischen Integration, sie werden letztlich von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern bestimmt.

An dieser Stelle möchte ich einen Blick nach Großbritannien werfen. Mit großem Interesse habe ich die Äußerungen, die Doppelbotschaft des Premierministers vernommen: das Ja zu britischer Tradition und zu britischen Interessen, das kein Nein sein sollte zu Europa. Es ist zwar Sache der Briten allein, über ihre Zukunft zu entscheiden, aber vielleicht sind sie doch bereit, wenigstens einen Wunsch aus dem Schloss Bellevue anzuhören. Er lautet:

Liebe Engländer, Waliser, Schotten, Nordiren und neue Bürger Großbritanniens! Wir möchten euch weiter dabeihaben! Wir brauchen eure Erfahrungen als Land der ältesten parlamentarischen Demokratie, wir schätzen eure Traditionen, aber wir brauchen auch eure Nüchternheit und euren Mut! Ihr habt im Zweiten Weltkrieg mit eurem Einsatz geholfen, unser Europa zu retten – es ist auch euer Europa. Lasst uns weiter gemeinsam den Weg zur europäischen Res publica bestreiten, dabei auch unter Umständen streiten, aber nur gemeinsam sind wir den künftigen Herausforderungen gewachsen. Mehr Europa soll nicht heißen: ohne euch!

Sehr geehrte Damen und Herren, es macht mir Sorge, wenn die Rolle Deutschlands im europäischen Prozess augenblicklich bei einigen Ländern Skepsis und Misstrauen auslöst. Ja, es stimmt, Deutschland hat auch vom Euro kräftig profitiert. Er hat Deutschland stark gemacht. Und dass Deutschland nach der Wiedervereinigung zur größten Wirtschaftsmacht in der Mitte des Kontinents aufstieg, das hat vielen Angst gemacht. Ich bin erschrocken, wie schnell die Wahrnehmungen sich verzerrten, so als stünde das heutige Deutschland in einer Traditionslinie deutscher Großmachtpolitik, gar deutscher Verbrechen. Nicht allein populistische Parteien stellten gar die deutsche Kanzlerin als Repräsentantin eines Staates dar, der heute angeblich wie damals ein deutsches Europa erzwingen und andere Völker unterdrücken will.

Doch ich versichere allen Bürgerinnen und Bürgern in den Nachbarländern: Ich sehe unter den politischen Gestaltern in Deutschland niemanden, der ein deutsches Diktat anstreben würde. Bis jetzt hat sich unsere Gesellschaft als reif und rational erwiesen. In Deutschland – und dafür bin ich dankbar – fand keine populistisch-nationalistische Partei in der Bevölkerung die Zustimmung, die sie in den Deutschen Bundestag gebracht hätte. Aus tiefer innerer Überzeugung kann ich sagen: Mehr Europa heißt in Deutschland nicht: deutsches Europa. Mehr Europa heißt für uns: europäisches Deutschland!

Wir wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch nicht unbedingt unsere Konzepte aufdrücken, wir stehen allerdings zu unseren Erfahrungen, und wir möchten diese gern vermitteln. Keine zehn Jahre ist es her, da stand Deutschland selbst als „kranker Mann Europas“ vor den Augen der Welt und unserer Bürger. Die Maßnahmen, die uns damals aus der Wirtschaftskrise herausführten, haben – trotz schwerer innenpolitischer Konflikte, die mit ihnen einhergingen – dann Früchte getragen. Gleichzeitig wissen wir, dass es verschiedene ökonomische Konzepte gibt und nicht nur ein Weg zum Ziel führt.

Sollten nun deutsche Politiker vereinzelt zu wenig Empathie für die Situation der anderen aufgebracht haben oder konnte Sachrationalität manchmal erscheinen wie Kaltherzigkeit oder Besserwisserei, so war dies sicher die Ausnahme und nicht die Regel und erklärt sich vielleicht auch aus der notwendigen Auseinandersetzung um den richtigen Weg. Sollte aus kritischen Kommentaren allerdings Geringschätzung oder gar Verachtung gesprochen haben, so ist dies nicht nur grob verletzend, sondern auch politisch kontraproduktiv. Es erschwert oder blockiert den selbstkritischen Diskurs, der in allen Krisenländern zumindest bei einer Minderheit schon deutliche Konturen angenommen hat. Uns in Deutschland aber sollte klar sein, dass, wer seinen Argumenten vertraut, es nicht nötig hat, sein Gegenüber zu provozieren oder gar zu demütigen.

Es lohnt sich für alle 27 Partner in unserer Gemeinschaft noch einmal die Versprechen in Erinnerung zu rufen, mit denen die Währungs- und Wirtschaftsunion einst gestartet ist. Diese Union wird getragen von der Idee, dass Regeln eingehalten und Regelbrüche geahndet werden. Diese Union ist ein Geben und Nehmen, sie darf für niemanden eine Einbahnstraße sein. Sie folgt dem Prinzip der Gegenseitigkeit, der Gleichberechtigung und der Gleichverpflichtung. Mehr Europa muss heißen: mehr Verlässlichkeit. Verlässlichkeit und Solidarität, sie stehen und fallen miteinander.

Ich bin überzeugt: Wenn in Europa alle diesem Grundsatz verpflichtet bleiben, dann kann innereuropäische Solidarität sogar noch wachsen, um längerfristig die großen Ungleichheiten auf diesem Kontinent zu verringern, bessere Lebensverhältnisse dort zu schaffen, wo sie verbessert werden müssen, wo Menschen in ihrer Heimat noch keine Perspektive haben, aber unbedingt eine brauchen.

Sehr geehrte Damen und Herren, mehr Europa fordert: mehr Mut bei allen! Europa braucht jetzt keine Bedenkenträger, sondern Bannerträger, keine Zauderer, sondern Zupacker, keine Getriebenen, sondern Gestalter.

Sie, Exzellenzen, die hier heute anwesend sind, Sie wissen, dass selbst mit einer besten pro-europäischen Haltung dennoch manche Bemühungen um Gestaltung ins Leere laufen können. Solche Schwierigkeiten möchte ich heute nicht ausblenden. Eines der Hauptprobleme bei der Herausbildung einer engeren europäischen Gemeinschaft scheint mir die unzureichende Kommunikation innerhalb Europas zu sein. Und damit meine ich eigentlich weniger die Ebene der Diplomatie, als vielmehr den Alltag der Bevölkerung, richtiger der Bevölkerungen.

Bis heute nimmt jedes der 27 Mitgliedsvölker dieselben europäischen Verträge oft auf sehr unterschiedliche Weise wahr. Die Berichterstattung der Medien erfolgt fast ausschließlich unter nationalen Gesichtspunkten. Das Wissen über die Nachbarn ist immer noch gering – von einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Studierenden, Geschäftsleuten, Intellektuellen und Künstlern einmal abgesehen. Europa hat bislang keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, die sich mit dem vergleichen ließe, was wir national als Öffentlichkeit beschreiben.

Zunächst fehlt uns dazu einfach eine gemeinsame Verkehrssprache. In Europa sind 23 Amtssprachen anerkannt, zahllose andere Sprachen und Dialekte kommen noch hinzu. Ein Deutscher, der nicht auch Englisch oder Französisch spricht, wird sich kaum mit einem Portugiesen verständigen können, ebenso wenig mit einem Litauer oder Ungarn. Es stimmt ja: Die junge Generation wächst ohnehin mit Englisch als Lingua franca auf. Ich finde aber, wir sollten die sprachliche Integration nicht einfach dem Lauf der Dinge überlassen. Mehr Europa heißt nämlich nicht nur Mehrsprachigkeit für die Eliten, sondern Mehrsprachigkeit für immer größere Bevölkerungsgruppen, für immer mehr Menschen, schließlich für alle! Ich bin überzeugt, dass in Europa beides nebeneinander leben kann: die Beheimatung in der eigenen Muttersprache und in ihrer Poesie und ein praktikables Englisch für alle Lebenslagen und Lebensalter.

Mit einer gemeinsamen Sprache ließe sich auch mein Wunschbild für das künftige Europa leichter umsetzen: eine europäische Agora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische Miteinander. Diese Agora wäre noch umfassender, als die Schülerinnen und Schüler sie vielleicht aus dem Geschichtsbuch kennen, den im antiken Griechenland zentralen Versammlungsort, Kult- und Gerichtsplatz gleichzeitig, einen Ort des öffentlichen Disputs, wo um das geordnete Zusammenleben gerungen wurde.

Wir brauchen heute ein erweitertes Modell. Vielleicht könnten ja unsere Medienmenschen, könnte unsere Medienlandschaft so eine Art europafördernde Innovation hervorbringen, vielleicht so etwas wie Arte für alle, einen Multikanal mit Internetanbindung, für mindestens 27 Staaten, 28 natürlich, für Junge und Erfahrene, Onliner, Offliner, für Pro-Europäer und Europa-Skeptiker. Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovision Song Contest oder ein europäischer Tatort. Es müsste zum Beispiel Reportagen geben über Firmengründer in Polen, junge Arbeitslose in Spanien oder Familienförderung in Dänemark. Es müsste Diskussionsrunden geben, die uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führten und verständlich machten, warum sie dasselbe Ereignis unter Umständen ganz anders beurteilen als wir. Und in der großen Politik würden dann nach einem Krisengipfel die Türen aufgehen, und die Kamera würde nicht nur ein Gesicht suchen, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch einblenden.

Ja, ob nun mit oder ohne einen solchen TV-Kanal: Wir brauchen eine Agora. Sie würde Wissen vermitteln, europäischen Bürgersinn entwickeln helfen und auch Korrektiv sein, wenn nationale Medien in nationalistische Töne verfallen, ohne Sensibilität oder Sachkenntnis,  über den Nachbarn berichten und Vorurteile fördern. Ich weiß, dass viele Medienkonzerne die europäische Öffentlichkeit schon zu stimulieren versuchen, mit Beilagen aus anderen Ländern, mit Schwerpunktthemen zu Europa und vielen guten Ideen. Ich weiß das. Aber bitte mehr davon – mehr Berichterstattung über und mehr Kommunikation mit Europa!

Wir sprechen gerade über Kommunikation. Kommunikation ist für mich kein Nebenthema des Politischen. Eine ausreichende Erläuterung der Themen und Probleme, sie ist vielmehr selbst Politik. Eine Politik, die mit der Mündigkeit der Akteure auf der Agora rechnet und die Bürger nicht als untertänig, desinteressiert und unverständig abtut.

Mehr Europa heißt für mich: mehr europäische Bürgergesellschaft. Ich freue mich daher, dass 2013 das Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger ist. Ich würde nicht in allen Einzelheiten so weit gehen wie die Autoren des „Manifests für eine Neugründung Europas“, aber ich hege große Sympathien für die Überschrift, die sie über ihr Manifest gestellt haben und unter der sich die Unterstützer sammeln. Sie lautet: „Frage nicht, was Europa für dich tun kann, frage vielmehr, was du für Europa tun kannst!“ Wir wissen alle, dass das eine Adaption eines noch berühmteren Satzes ist, aber diese Einstellung würde uns gewaltig voranbringen. Der Europäer Gauck hat – wenn er sich nun fragt, was er sich wünscht in dieser Situation – ein paar Antworten auf eine Liste geschrieben.

Erstens: Sei nicht gleichgültig! Brüssel mag weit weg sein, aber die Themen, die dort verhandelt und beschlossen werden, sie gehen jeden an. Es darf uns nicht egal sein, wie die EU auf Standards Einfluss nimmt, die dann bei uns im Kinderzimmer oder auf dem Esstisch wirksam werden. Es darf uns nicht egal sein, welche Maßstäbe wir anlegen an die Außen-, Sicherheits-, Umwelt- und Entwicklungspolitik, die eben auch in unserem Namen stattfindet. Es darf uns nicht egal sein, wie die EU mit Menschen umgeht, die aus politischen Gründen ihr Land verlassen müssen.

Zweitens: Sei nicht bequem! Die Europäische Union ist kompliziert, wahrlich, aber sie muss auch sehr Kompliziertes leisten.  Sie hat es verdient, dass ihre Bürgerinnen und Bürger Interesse zeigen und sich informieren. Sie hat es doch verdient, dass mehr als 43 Prozent der Wahlberechtigten an der Europawahl teilnehmen. Und sie hat es nicht verdient, dass Brüssel zum Sündenbock gemacht wird, besonders dort nicht, wo nationale Interessen oder nationales Versagen Fehlentwicklungen verursacht haben.

Drittens: Erkenne deine Gestaltungskraft! Ein besseres Europa entsteht nicht, wenn wir die Verantwortung dafür immer nur bei anderen sehen. Es gibt ja auch für uns so viele Möglichkeiten. Wer etwas anstoßen oder etwas verhindern will, der nutzt eine Europäische Bürgerinitiative. Wer etwas gründen oder bauen will, der kann einen Förderantrag stellen. Und wer Gutes tun und seine Nachbarn kennenlernen will, der bewirbt sich beim Europäischen Freiwilligendienst. Jede und jeder kann einen Grund finden für den Satz: Ja, ich will Europa! Wer kennt nun diesen Satz, diesen Wunsch besser als Sie hier, die Sie heute im Saal sitzen? Wer kennt ihn besser?

Mein Dank richtet sich heute an so viele, angefangen bei den Europabotschaftern hier im Saal und draußen über die Europaaktivisten in Bildung, Wissenschaft und Gesellschaft bis hin zu den besonders fantasievollen Betreuerinnen von bilingualen Kitas in den Euroregionen. Ich danke allen, die Europa auf tausendfache Weise wirtschaftlich, sozial und kulturell vernetzen. Wichtig ist mir auch der Dank an unsere deutschen Politikerinnen und Politiker, die ihre nationalen Aufgaben mit unseren europäischen Verpflichtungen verbunden haben. Besonders denke ich dabei an die, und besonders danke ich ihnen, die beim Begriff Solidarität nicht allein die Sorge um den Besitz der Besitzenden angetrieben hat.

Sehr geehrte Damen und Herren, gerade wir Deutschen wissen doch tief in unserem Herzen, dass da etwas ist, was uns mit Europa in ganz besonderer Weise verbindet. War es doch unser Land, von dem aus alles Europäische, alle universellen Werte zunichtegemacht werden sollten. War es doch unser Land, dem die westlichen Siegermächte trotzdem gleich nach dem Krieg Solidarität und Hilfe zuteilwerden ließen. Uns blieb damals erspart, was nach unserer Hybris leicht hätte folgen können: eine Existenz als verstoßener Fremdling außerhalb der Völkerfamilie.

Stattdessen wurden wir – was erst recht aus heutiger Sicht unerwartet und ganz wunderbar erscheint – wurden wir Eingeladene, Empfangene und Aufgenommene. Partner!

Wir kamen zu der beglückenden Erfahrung, dass wir uns selbst achten konnten und von anderen geachtet wurden, als wir „nicht über und nicht unter anderen Völkern“ sein wollten. So haben wir uns mit Europa verbunden, wir haben uns Europa geradezu versprochen.

Und heute erneuern wir dieses Versprechen.

Wir werden wohl innehalten vor einer Schwelle, werden neu nachdenken. Werden aber dann mit guten Ideen und guten Gründen Vertrauen erneuern, Verbindlichkeit stärken und werden weiter bauen, was wir gebaut haben – Europa.