"Erinnerungskultur und Versöhnung in Deutschland" – Rede an der Universidad de los Andes

Schwerpunktthema: Rede

Bogotá/Kolumbien, , 10. Mai 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 10. Mai 2013 zum Thema "Erinnerungskultur und Versöhnung in Deutschland" an der Universidad de los Andes in Bogotá eine Rede gehalten: "Das Treffen heute stellt mich eigentlich vor eine viel zu große Herausforderung. Denn das Thema, das wir uns gesetzt haben, Erinnerungskultur und Aussöhnung, das berührt ja ganz existentielle Fragen der Menschheit und eines jeden Gemeinwesens: Wie kann Gerechtigkeit entstehen nach einer Epoche von Gewalt und Unrecht, nach schweren Verletzungen elementarer Menschenrechte? Wie können Täter zur Rechenschaft gezogen und Minder-Schuldige in die Gesellschaft integriert werden? Wie kann schließlich Opfern ihre Würde zurückgegeben werden, wie ihnen Anerkennung zuerkannt werden, wie kann ihnen Wiedergutmachung gewährt werden? Und schließlich: Wie kann Schuldigen, Verführten, Unbeteiligten und Opfern ein gemeinsamer Neuanfang in einer demokratischen Gesellschaft gelingen?"

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede an der Universidad de los Andes in Bogotá

Ich erzähle von einer fernen, fremden Welt. Ich tue das, weil mir diese Universität die Möglichkeit gegeben hat, weil unser Botschafter und die deutschen Stiftungen diese schöne Veranstaltung vorbereitet haben und ich tue das vor allem deshalb, weil mich Prozesse in Transformationsgesellschaften nachhaltig interessieren. Es gibt auf der ganzen Welt viele Transformationsgesellschaften mit je eigener Problematik. Nur wenige davon werden in dieser Rede vorkommen. Ich konzentriere mich auf das Phänomen der Wiedererrichtung einer demokratischen Gesellschaft in Deutschland, genauer im Osten Deutschlands, auf die Dinge, die ich daraus gelernt habe. Ausdrücklich will ich zu Beginn sagen, dass ich nicht hierher gekommen bin, um den Kolumbianern zu erzählen, was sie zu tun hätten, um den inneren Frieden zu gestalten. Das muss die Nation mit sich selber ausmachen. Aber es hilft natürlich, wenn sie dabei nicht nur die Nachbarvölker auf diesem Kontinent fragt: "Wie seid Ihr zurechtgekommen mit der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheit?", sondern auch den Blick nach Südafrika, nach Deutschland oder in die postkommunistischen Länder richtet.

Das Treffen heute stellt mich eigentlich vor eine viel zu große Herausforderung. Denn das Thema, das wir uns gesetzt haben, Erinnerungskultur und Aussöhnung, das berührt ja ganz existentielle Fragen der Menschheit und eines jeden Gemeinwesens:

Wie kann Gerechtigkeit entstehen nach einer Epoche von Gewalt und Unrecht, nach schweren Verletzungen elementarer Menschenrechte? Wie können Täter zur Rechenschaft gezogen und Minder-Schuldige in die Gesellschaft integriert werden?

Wie kann schließlich Opfern ihre Würde zurückgegeben werden, wie ihnen Anerkennung zuerkannt werden, wie kann ihnen Wiedergutmachung gewährt werden?

Und schließlich: Wie kann Schuldigen, Verführten, Unbeteiligten und Opfern ein gemeinsamer Neuanfang in einer demokratischen Gesellschaft gelingen?

Das Nachdenken über dieses Thema ist mir, wie Sie schon hören konnten, nicht unvertraut – aus zweifachem Grund. Ich muss einfach darauf eingehen, um Ihnen den Hintergrund Deutschlands zu erklären, der mich in diese spezielle Situation gebracht hat. Und da gehe ich etwas weiter zurück als manchem von Ihnen, liebe Studenten, vielleicht recht sein mag, so ungefähr ins Mittelalter – nämlich zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Generation meiner Eltern stand nach 1945 vor einer schwierigen Aufgabe. Sie sollte sich eigentlich den Verbrechen stellen, die zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur begangen wurden – Verbrechen innerhalb des eigenen Landes, vor allem aber gegenüber den Juden und dann gegenüber den anderen Völkern, die Deutsche im Krieg überfallen hatten.

Und dann musste sich meine Generation nach 1989 dem Unrecht stellen, das das kommunistische DDR-Regime, freilich in einer anderen Dimension als der Nationalsozialismus, gegenüber seinen Bürgern begangen hatte.

Sie haben schon gehört, dass ich zehn Jahre eine Behörde geleitet habe, die die Unterlagen der DDR-Geheimpolizei übernommen hatte, der sogenannten "Stasi". Der Sinn dieser Übernahme in eine unabhängige Behörde bestand darin, jedem Menschen, der Opfer von Ausspähung oder Schikane der Geheimpolizei geworden war, Zugang zu den Geheimakten zu geben. Zudem sollten die Forschung und die Medien Zugang zu den Informationen haben für die wissenschaftliche und publizistische Auswertung.

Als wir im Jahre 1990 im Parlament der DDR – noch vor der Vereinigung – vor der Aufgabe standen, das Erbe der Revolution, nämlich die Stasi-Akten, zugänglich zu machen – Bürger hatten diese Akten während der revolutionären Wochen im Winter 89 gesichert –, da haben wir eine Erfahrung der westdeutschen Demokratie aufgegriffen: Wir wussten schon aus der Geschichte der westdeutschen Republik, dass Schweigen und Vertuschen und Verdrängen keine tragbare politische und auch menschliche Lösung bilden.

Wenn ich Sie also mitnehme in die deutsche Nachkriegsgeschichte, dann nicht deshalb, weil ich Sie alle zu Geschichtsstudenten machen will. Ich will Ihnen nur erläutern, dass mein Ansatz aus konkreten politischen und historischen Auseinandersetzungen mit einer Zeit in der Mitte des 20. Jahrhunderts resultiert. Wenn wir noch einmal den Blick auf Deutschland nach dem Krieg richten, dann hatten wir vier Besatzungszonen – die britische, französische und amerikanische im Westen und die sowjetische im Osten Deutschlands. In beiden Gebieten sollte so etwas wie ein Elitenwechsel stattfinden und zwar mit dem Mittel strafrechtlicher Verfolgung: So wurden führende Nazis vor Gericht gestellt und auch verurteilt, viele von ihnen auch hingerichtet. Das gab es in unterschiedlichen Formen in beiden Teilen Deutschlands. Aber neben der strafrechtlichen Aufarbeitung der Nazivergangenheit gab es ein anderes Element, das den Elitenwechsel begleiten und fördern sollte. Das war die sogenannte Entnazifizierung nach dem Krieg. Es wurden Kammern gebildet, Entnazifizierungskammern, und die Deutschen, die in der NSDAP, der Nazipartei waren, wurden in verschiedene Kategorien einsortiert: belastet, weniger belastet, Mitläufer – und, je nachdem, wie belastet sie waren, aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder aber sie konnten weiterarbeiten.

Im Osten Deutschlands herrschte eine kommunistische Partei, die SED. Und sie hat alleine etwa eine halbe Million Nazis aus der Verwaltung entfernt, auch aus führenden Stellen in der Industrie.

Sie nutzte allerdings ihre Entnazifizierung, um gleichzeitig politische Regimegegner, die gegen den Kommunismus und für die Demokratie waren, mit zu "entsorgen". Ein Großteil der politisch Verfolgten in Ostdeutschland nach dem Krieg war keineswegs deshalb verfolgt, weil sie vorher Nazis waren, sondern schlicht und einfach, weil sie Demokraten waren. Jetzt schauen wir wieder zurück in den Westen: Wir hatten dann sehr bald – mit Unterstützung der Westalliierten – demokratische Parteien und es gelang sehr schnell, eine stabile Demokratie und einen stabilen Rechtsstaat zu errichten.

Jetzt kommt eine interessante Etappe: Als der Rechtsstaat wieder begründet war, hat sich der erste deutsche Kanzler Konrad Adenauer Anfang der 1950er Jahre entschieden, diese Politik der Entnazifizierung zu beenden. Die ehemaligen Mitglieder der Nazi-Partei konnten nun zurückkehren und sie wurden ins öffentliche Leben reintegriert. Von den Nazi-Größen überlebte politisch keiner, die hatten nichts mehr zu sagen, doch die mittlere Ebene wurde durchgängig wieder im öffentlichen Dienst beschäftigt und die einst nationalsozialistischen Lehrer, Staatsanwälte, Richter, sie alle kehrten ins Berufsleben zurück. Es war sogar so, dass frühere NSDAP-Mitglieder Minister werden konnten oder Staatssekretäre. Die Gerichtsverfahren, die zu dieser frühen Zeit der Bundesrepublik auch liefen, waren problematisch. Sie wurden häufig verschleppt, es gab großzügige Freisprüche und Kriegsverbrecher wurden auch relativ schnell entlassen. So entstand dann bei vielen Menschen in der Republik der Eindruck, im Land existiere so etwas wie ein Gnadenerlass für ehemaligen Täter. Tatsächlich existierte eine ausgesprochene Amnestie nicht, aber ich beschreibe Ihnen das Lebensgefühl der damaligen Bürger.

Die Nachsicht gegenüber den Tätern, das Schweigen über die Verbrechen und die fehlende Empathie gegenüber den Opfern waren es dann, die die nächste Generation, die Nachgeborenen, in den 1960er Jahren nicht mehr ertrugen.

Sie hatten zum Beispiel die Prozesse verfolgt – beginnend mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess, dem Auschwitzprozess oder dem Verfahren gegen Eichmann in Israel – und hatten eine neue Sicht auf die deutsche Vergangenheit gewonnen.

Diese Generation griff nun offensiv die Themen von Schuld und Verantwortung auf, denen sich die Eltern mehrheitlich entzogen hatten. Und sie entwickelte eine tiefgehende Entfremdung gegenüber den Repräsentanten und Institutionen eines Staates, der doch eigentlich schon ein Rechtsstaat war. Wir sprechen jetzt über die sogenannte 68er-Bewegung, die von den Universitäten ausgehend das ganze System des Rechtsstaates in Frage stellte. Einige der Pressure Groups unter den Universitäten nannten das demokratische System aus Zorn über das, was ich Ihnen beschrieben habe, das „Schweinesystem“. Diese Dynamik hat dazu geführt, dass dann in ganz Deutschland so etwas wie ein innerer Umbruch erfolgte.

Westdeutschland erlebte in den 1960er Jahren einen inneren Umbruch. Es begann eine Suche nach Schuldigen, auch nach nationaler Schuld, und man könnte sagen, das Land erlebte von da ab bis Ende der 1980er eine Phase kollektiver Beschämung.

War nach dem Krieg noch Selbstmitleid wegen der eigenen Kriegsopfer, wegen der Vertriebenen aus den verlorenen Ostgebieten das vorherrschende Lebensgefühl gewesen, so wendete sich das Interesse nun und es entstand eher Empathie für die Opfer des Naziregimes, vor allem für die ermordeten sechs Millionen Juden. Schritt für Schritt kam es in Deutschland zu einem parteiübergreifenden Bekenntnis, das zuvor nur von Gruppen bewusster politischer Demokraten formuliert war: "Nie wieder!" Es wurde zu einer tiefen inneren Überzeugung der Masse der westdeutschen Bevölkerung.

Warum erzähle ich das? Weil wir 1990, als ich Abgeordneter war in diesem ersten freien Parlament, uns fragen mussten: Welche Form der Aufarbeitung hilft uns? Augen zu und durch? Betondeckel über die Schuld? Die Akten verschließen? Oder ist es etwas anderes? Und deshalb lohnt es sich, die Geschichte Deutschlands nach dem Krieg bis in die 1990er Jahre hinein zu betrachten, wenn man sich erklären will, wie das Prinzip Offenheit, Offenlegung und Wahrheit sich durchsetzte.

Verdrängen und Verschweigen, so haben wir uns fraktionsübergreifend in dem neuen Parlament gesagt, das kommt für uns in Ostdeutschland nicht in Frage. Die westdeutsche Nachkriegsgeschichte belegte es. Man konnte es machen nach dem Krieg. Aber es war weder moralisch noch politisch sinnvoll, denn Ende der 1960er und in den 1970er Jahren gab es schon eine sehr tiefe Spaltung innerhalb der westdeutschen Bevölkerung.

Jetzt muss ich Ihnen noch einmal beschreiben, warum wir ausgerechnet die Staatssicherheit in den Fokus unserer Aufarbeitung rückten. Das war vielleicht politisch nicht besonders klug, denn die Stasi war nicht Herrscherin im Land. Das war die kommunistische Partei, die SED. Aber unser Protest richtete sich während der revolutionären Wochen 1989 vor allem gegen die Geheimpolizei. Hier konnten wir ohne lange Ideologiedebatten Folgendes sagen: "Ihr nennt es Sozialismus, für uns ist es Repression und Stalinismus". Und die Existenz des Ministeriums für Staatssicherheit war für uns der beste Beleg für die zutiefst antihumane und antidemokratische Gesellschaft.

Deshalb haben wir überall im Land in revolutionären Aktionen die Gebäude der Staatssicherheit im Dezember 1989 besetzt und zwangen die Übergangsregierung, die Geheimpolizei völlig aufzulösen. Das Übergangskabinett Modrow wollte den Dienst nur wandeln. Zuletzt bediente man sich sogar des Begriffes, den der westdeutsche Staat für seinen Nachrichtendienst entwickelt hatte: "Verfassungsschutz". Dann hat die Bürgerbewegung aber gesagt: "Also, lieber Herr Modrow, so nicht! Mit diesen Leuten wollen wir unsere Verfassung, die wir uns erst basteln, nicht schützen lassen. Und mit diesen Akten auch schon gar nicht. Wir wollen die komplette Auflösung!" Und so entstand eine Institution noch vor den freien Wahlen, die die Aufgabe hatte, das gesamte Geheimdienstregime aufzulösen und zu vernichten und die Akten in sichere Verwahrung zu nehmen. Das war die Situation in dem freien Parlament.

In der herrschenden Partei, die wir eigentlich hätten angreifen müssen, waren über zwei Millionen Mitglieder von gut 16 Millionen DDR-Bürgern. Viele waren dort nur Mitglied, weil sie einfache Mitläufer waren, weil sie im Beruf etwas werden wollten. Sie hatten keine Machtpositionen.

Und deshalb haben wir dieses Element Ent-Kommunisierung in Analogie zu Ent-Nazifizierung nicht eingeführt. Das hat manche Menschen, manche Opfer irritiert. In Polen zum Beispiel, unserem Nachbarland, gab es eine lange Debatte, mindestens zehn Jahre noch: "Brauchen wir nicht eine Ent-Kommunisierung?" Aber uns wäre das wie ein neues Unrecht erschienen, weil es unverhältnismäßig gewesen wäre, alle Mitläufer, wie es zunächst etwa in Tschechien passierte, aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Und so konzentrierte sich eben die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit auf die Beschäftigung mit den offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Die führenden SED-Kader kamen sowieso nicht in Betracht für neue Führungsaufgaben. Aber wir haben die Heimtücke, die mit dem geheimen Einsatz gegen die Bevölkerung verbunden war, besonders gewertet und haben gedacht, wir brauchen keine Lehrer, Polizisten, Richter oder Professoren, die – wie früher in der Bundesrepublik nach dem Krieg – ihre privilegierte Position im untergegangenen System der Unterdrückung der Bevölkerung und dem Verrat verdankten. Die wollten wir nicht haben beim Aufbau der neuen demokratischen Gesellschaft. Es ging uns dabei nicht um Rachsucht, es ging auch nicht um Ausschluss der Belasteten aus der ganzen Gesellschaft. Wir wollten den ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit natürlich den Weg in Beschäftigung öffnen, aber bitte im privaten Sektor. In der Wirtschaft, aber nicht in den hervorgehobenen Positionen des öffentlichen Dienstes. Die Nachkommen der SED und viele Stasi-Häuptlinge haben dann ein großes Gezeter in der Bevölkerung entfacht, es gäbe so etwas wie "Hexenjagd". Dazu kann ich nur sagen: Recherche hilft!

Diejenigen, die tatsächlich aus dem öffentlichen Dienst entfernt wurden – die Stasi-Akten konnten zur Überprüfung der Personen, die im öffentlichen Dienst tätig waren, benutzt werden – das waren nicht besonders viele. Etwa 50 Prozent der ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiter der Spitze wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Die Hauptamtlichen freilich wurden generell nicht weiter beschäftigt, bis auf solche Personen, die zwar bei der Stasi registriert waren, die aber Wachschutzaufgaben hatten oder ähnliches, Krankenschwestern waren und die nicht am Terror gegen die Bevölkerung beteiligt waren. Die hat man notfalls auch übernommen oder teilweise.

Jetzt müssen wir dieses Element der Überprüfung als ein Element des Elitenwechsels würdigen, kommen aber zu einem anderen Element, das die Delegitimierung von Tätern und die Aufdeckung der Wahrheit zum Inhalt hat. Wir brauchten damals die Unterlagen der Staatssicherheit nicht nur, um den öffentlichen Dienst glaubwürdig zu gestalten, sondern auch, um den ganzen Umfang des repressiven Charakters des Systems zu enthüllen. Das war der Grund, warum Historiker und Medienvertreter Zugang zu den Akten bekamen. Somit konnten sie der Bevölkerung, daten- und faktengestützt, Sachverhalte und Personen darstellen, die das System gestaltet und getragen, die die Bevölkerung unterdrückt und schikaniert hatten.

Zusätzlich, als weiteres Element der Aktennutzung, galt es, die juristische Aufarbeitung zu fördern. Sinn des Stasi-Unterlagengesetzes war es, die juristische, historische und politische Aufarbeitung zu fördern. Wir haben die Elemente schon besprochen: diese politische Aufarbeitung, Elitenwechsel durch Überprüfung des öffentlichen Dienstes und auch Herausgabe der Akten für Forschung und Medien. Jetzt sollten wir noch einen Blick auf die juristische Unterstützung werfen – juristisch im doppelten Sinne. Einmal konnten Opfer des Regimes mit Hilfe von Akten viel besser die Tatsache belegen, dass sie Opfer waren. Wer hatte sie ins Gefängnis gebracht? Wer hatte sie bespitzelt? Warum waren sie unschuldig? Sie hatten also Recht, Wiedergutmachung und Rehabilitierung zu erlangen. Und dies ging natürlich mit den Akten viel besser, als ohne diese. Zum anderen waren in diesen Akten vielfach Sachverhalte nachzuvollziehen über Wahlfälschung, über Tötungen von Menschen bei Fluchtversuchen an der Grenze. Viele andere Strafverfahren wurden auf die Akten gestützt begonnen, später wurden sie durch Zeugenaussagen erhärtet oder eben auch nicht erhärtet. Dann liefen die Strafverfahren ins Leere.

Wir haben eben eine Begrifflichkeit gehört: juristische, politische und historische Aufarbeitung. Und ich möchte bei dieser Begrifflichkeit einen Moment verweilen, weil sie eigentlich für jede Gesellschaft in einem Transformationsprozess von herausragender Bedeutung ist. Klar kommen mit einer belasteten Vergangenheit, das können wir nur, wenn wir es nicht ausschließlich den Gerichten überlassen. Sie sind nützlich und hilfreich. Es geht auch nicht ohne sie. Aber sie wären völlig überfordert, wenn sie alleine die Erneuerung der Gesellschaft herstellen müssten. Ich beziehe mich jetzt in dem nächsten Abschnitt auf eine Erkenntnis, die der deutsche Philosoph Karl Jaspers bezüglich von Schuld im öffentlichen Raum 1946 nach dem Krieg dargelegt hat. Der bedeutende deutsche Philosoph hat in seinem Essay "Die Schuldfrage" damals davon gesprochen, dass es vier unterschiedliche Dimensionen von Schuld gibt. Einmal natürlich die strafrechtliche, die kriminelle Schuld. Dann die moralische Schuld. Klar! Und für einen glaubenden Menschen die metaphysische Schuld. Und schließlich gibt es so etwas wie politische Schuld, politische Verantwortung.

Das Wichtige, wenn wir nun über diesen ganzen Bereich von Schuld sprechen, ist, dass für jede dieser unterschiedlichen Dimensionen von Schuld eine je eigene Instanz der Bearbeitung existieren muss. Und jetzt schauen wir uns das noch einmal an: Für die strafrechtlichen Teile von Schuld ist die Dimension das Gericht! Hier wird über schuldig und nicht schuldig entschieden. Hier wird Strafe zugemessen und so kommt es zu einem inneren Ausgleich, der Rechtsfrieden fördern soll. Was aber ist mit den anderen Dimensionen von Schuld? Die moralische Schuld, die hat der Einzelne mit seinem Gewissen, aber vor allem mit dem auszuhandeln, an dem er schuldig geworden ist. Schuldig werden wir gegenüber Personen. Wir können auch gegenüber etwas anderem schuldig werden, gegenüber dem Staat oder anderen Institutionen. Aber Schuld im moralischen Sinne bezieht sich in aller Regel auf Lasten, die auf unserer Seele liegen, weil wir einem anderen Rechte oder seine Würde oder das Leben genommen haben. Wo ist die Instanz der Bearbeitung dieser moralischen Schuld? Kann es das Gericht sein? Kann es ein Präsident sein? Natürlich nicht! Es ist der Kontakt dieser Menschen untereinander, die sich als Täter und Opfer gegenüberstehen. Was ist mit der metaphysischen Schuld? Für religiöse Menschen ist Schuld immer auch verbunden mit einem Versagen gegenüber Gott. Sie empfinden sich als Sünder, um einen theologischen Begriff zu benutzen. Also ist für diese Bearbeitung das göttliche Gegenüber die Instanz bzw. die Rituale von Schuldbearbeitung, die die Kirche oder die Religionsgemeinschaft anbietet. Es kann nicht so gehen, dass einer, der ein Mörder war, sich bekehrt in seinem Herzen, der zu Gott betet und um Vergebung bittet, zum Priester geht und beichtet, die heilige Kommunion empfängt und dann vielleicht das Gefühl hat: "So, jetzt ist es okay." So geht es nicht! Es gibt bei diesem Prozess der Schuldverarbeitung eben dann immer noch das Gesetz. Und da mag er inzwischen sein Gewissen ein bisschen bewegt haben, er mag sogar auch zu seinem Opfer gegangen sein und um Vergebung gebeten haben, es würde immer noch der Strafanspruch des Gerichtes bestehen. All das müssen wir uns bewusst machen, wenn wir an die schwierige Aufgabe gehen, miteinander zu erörtern, von welcher Schuld wir reden und welche Schuld wir wie bearbeiten wollen.

Selbst die nachkommenden Generationen verspüren oft noch eine spezielle Verantwortung für das, was die Vorgängergeneration gemacht hat. Wenn wir noch einmal an Karl Jaspers denken, der hat so etwas wie einen Begriff der kollektiven Mithaftung eingeführt. Da hat er all die Bevölkerungsgruppen gemeint, die einfach nur zugeschaut haben. Ich übersetze mir diese Begrifflichkeit von Karl Jaspers einfach mit dem Begriff "Verantwortung". Und diese Verantwortung ist es, die oftmals auch die nachkommenden Generationen noch verspüren. Sie sind nicht schuldig, weder moralisch noch strafrechtlich, aber sie empfinden so etwas wie Verantwortung dafür, die Verbrechen der Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und sie zu bearbeiten. Wir haben inzwischen etwas gelernt – und das beruht mehr auf Erkenntnissen der Psychologen als auf den Erkenntnissen der Politologen: Sowohl Schuld wie auch Unrecht brennen sich tief in das menschliche Gedächtnis ein und sie übertragen sich manchmal sogar unbewusst auf Kinder oder sogar Enkelkinder.

Wir können in keinem Konfliktherd darauf bauen, dass die Belastung durch Unrecht einfach dadurch vergeht, dass die Schuldigen, die es hervorgebracht haben, ausgestorben sind. Aber wir spüren, wie das Wissen über das Unrecht uns Nachkommen wachsamer macht gegenüber neuen Versuchungen.

In Deutschland können wir inzwischen auf eine Bevölkerung bauen, die den festen Willen hat, neuen nationalistischen, rassistischen, diktatorischen Bestrebungen Widerstand zu leisten – weil sie dieses Element der Verantwortung, das Wissen über die Schuld, die frühere Schuld und die sich daraus ergebende Verantwortung, weil sie sich das zu einer Art Leitlinie ihres politischen Bewusstseins gemacht hat.

Wir hatten in Deutschland das große Glück, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Entmachtung der Schuldigen betreiben zu können, ohne ein militärisches Eingreifen der Entmachteten fürchten zu müssen.

Das ist doch eine ziemlich wichtige Unterscheidung zu diesem Land. Im Unterschied zu Kolumbien war die Frage nach der Herstellung von Gerechtigkeit bei uns nie mit der Frage nach der Sicherung des Friedens, des inneren Friedens, verbunden.

Und sowohl nach 1945 in Westdeutschland als auch nach 1990 in Ostdeutschland gab es keine Bedrohung der Demokratie, jedenfalls keine ernstzunehmende, durch radikale, extremistische oder gar militante Gruppen.

Wir konnten auf einen stabilen Rechtsstaat setzen, der von Anfang an so stark und so effizient war, dass die Beschlüsse der Regierung im ganzen Land durchgesetzt werden konnten. Wie sehr diese Umstände unsere Aufarbeitung begünstigt haben, ist mir in vollem Umfang erst bewusst geworden, als ich im Jahr 1998 nach Südafrika kam.

Anders als in der DDR war es in Südafrika fast ein halbes Jahrhundert lang zu nationalen Unruhen gegen das Apartheidsystem gekommen, gegen die das Regime ganz brutal vorging. Anders als in der DDR hatte sich in Südafrika die Umgestaltung vom Unrechtsstaat zur Demokratie über mehrere Jahre hingezogen und einige tausend Menschenleben gefordert.

Südafrika stand daher unter Druck, Gewalt in der Übergangssituation zu verhindern oder zu minimieren, das Bedürfnis der Unterdrückten nach Gerechtigkeit zu respektieren, gleichzeitig aber die Noch-Herrschenden vor Rache zu schützen.

Die Lösung hieß: Versöhnung statt Vergeltung. Amnestie gegen Wahrheit.

Um den inneren Frieden zu wahren und den Prozess des Nation Building zu fördern, machte Südafrika ganz bewusst Abstriche bei der Gerechtigkeit. Den Tätern wurde Straffreiheit zugesichert, wenn sie denn ihre Gräueltaten gestanden und ein möglichst vollständiges Bild der Verbrechen lieferten. Nur wer die Wahrheit verschwieg, sollte mit Strafverfolgung rechnen – was übrigens auch geschehen ist.

Ohne diese Amnestie, so erklärte es mir Bischof Desmond Tutu bei meinem Besuch damals in Südafrika, ohne diese Amnestie, wäre es in Südafrika zum Bürgerkrieg gekommen – so jedenfalls die Befürchtung derer, die dieses Element der Truth and Reconciliation Commission entwickelt hatten.

Ins Gefängnis konnten die Angehörigen der Opfer die Mörder ihrer Söhne, Töchter und Väter also nicht schicken, wohl aber konnten sie die Umstände von Repression, Folter und Mord erfahren – öffentlich, in großen, öffentlichen Veranstaltungen.

Das war ein Durchbruch und großer Fortschritt gegenüber der bisherigen Taktik, die Verbrechen einfach zu vertuschen, zu verleugnen und völlig zu verschweigen.

Immerhin stellten die öffentlichen Tribunale klar, wer verantwortlich war für die Verbrechen und sie gaben den Unterdrückten von einst ihre Würde zurück. Doch diese Lösung mutete den Angehörigen der Opfer auch viel zu. Das müssen wir uns ganz deutlich bewusst machen.

Sie mussten nämlich hinnehmen, dass Mörder als freie Menschen aus der Anhörung entlassen wurden, während sie selbst häufig in Armut auf dem Lande lebten, in Ohnmacht und so blieben sie zurück. Aber Wahrheit ohne juristische Strafe, das war der Kompromiss, der politisch damals möglich schien, ohne das Land in blutige Konflikte zu schicken. Bei uns in Deutschland war das anders. Unsere Politik konnte die Interessen der Opfer deutlich stärker hervorheben und in Gesetzesform kleiden als die Interessen der Täter. Ich sage Ihnen ein Beispiel: Nach dem Krieg waren die Interessen der Täter dadurch geschützt, dass ihre Persönlichkeitsrechte wichtiger waren als die Würde der Opfer. Die Opfer des Nazi-Regimes standen vor verschlossenen Archivtüren. In diesen Archiven lagen die belastenden Dokumente für die Täter, aber da gab es den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Täter. Und so gesehen hat es bei uns in Deutschland einen Perspektivenwechsel der Gesetzgebung gegeben, die die Interessen der Opfer in den Vordergrund rückte.

Wenn wir jetzt an diesen Kontinent denken, wenn wir jetzt die Situation von Ländern in Lateinamerika betrachten, dann erscheint es mir sinnvoll, dass sich an verschiedenen Orten die Länder am südafrikanischen Modell orientiert haben.

Hier in Kolumbien hat die Regierung den Tätern 2005 mit dem Gesetz Nr. 975 für Gerechtigkeit und Frieden zwar keine Amnestie versprochen, doch das Strafmaß selbst für schwere Verbrechen auf höchstens acht Jahre begrenzt. Als Gegenleistung, Sie wissen es besser als ich, sollen die Waffen abgeliefert werden und wahrheitsgemäße Geständnisse erfolgen.

Diese Kehrtwendung von militärischen Konfrontationen zwischen Militärs, Paramilitärs, kriminellen Banden und Guerillas hin zu einer politischen Lösung erscheint mir nun als verheißungsvoller Weg – nicht deshalb, weil er ein idealer Weg ist, sondern weil es ein Weg ist, der hier unter den konkreten Bedingungen gegangen werden kann. Deshalb müssen wir ihn begrüßen. Es ist in der Politik sehr wichtig, dass wir auch dann unsere Zuwendung geben müssen, wenn noch nicht ein Endziel erreicht ist, aber wenn das jetzt Mögliche ins Werk gesetzt wird. Kolumbien ist seitdem, und das haben Sie ja alle miterlebt, friedlicher geworden, die Sicherheitslage hat sich gebessert. Sie ist nicht so, wie sich das viele Bürgerinnen und Bürger hier wünschen, aber sie hat sich gebessert.

Nach fast 50 Jahren Gewalt, nach der Vertreibung von Millionen Menschen, nach der Ermordung von mehreren hunderttausend, nach der Entführung von fast zwanzigtausend, nach unzähligen Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen will Ihr Land Frieden. Umso mehr kommt es darauf an, die schwierige Balance zwischen Frieden und Gerechtigkeit jeweils neu zu prüfen.

Ich habe mir berichten lassen, dass sich bisher über 30.000 Personen demobilisieren ließen, dass 20.000 Morde gestanden wurden. Diese Entwicklung sollte nicht unterschätzt werden. Ich unterschätze sie jedenfalls nicht!

Es ist wichtig für die Angehörigen, Aufklärung zu erhalten über die Umstände von Misshandlung, gewaltsamer Entführung oder Ermordung ihrer Nächsten.

Es ist wichtig, dass die sterblichen Überreste der Geliebten zurückgegeben werden, dass sie zurückgeführt werden in die Heimat, um ihnen eine würdige letzte Ruhestätte zu geben.

Aber ich kann auch die Verbitterung der Angehörigen der Opfer und der Menschenrechtsaktivisten verstehen, da bisher nur wenige hundert Täter angeklagt wurden, bis zum Herbst 2012 nur 14 Personen verurteilt wurden und fast alle Schuldigen straffrei ausgingen.

Es gibt keinen dauerhaften inneren Frieden, wenn die Interessen der Opfer nicht annähernd gewahrt werden, wenn den Vertriebenen und Angehörigen von gewaltsam Verschleppten und Ermordeten nicht vorbehaltlos Anerkennung und materielle, wenigstens symbolische Wiedergutmachung zuteil wird.

Zugleich macht es aber auch Sinn, Täter, wenn sie der Gewalt abgeschworen haben, wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dabei sollten Täter allerdings nicht mehr soziale und monetäre Unterstützung erfahren als die Opfer.

Ich weiß, dass es in Kolumbien noch rechtsfreie Räume gibt, in denen Täter von einst oder kriminelle Banden andere einschüchtern oder gar ermorden können.

Ich weiß, dass die Staatsmacht manchmal noch zu schwach ist, um ein Gewaltmonopol zu errichten. Ihren Schritten zum Aufbau und zur Stabilisierung des Rechtsstaates und des inneren Friedens gilt meine uneingeschränkte Unterstützung. Allerdings dürfen wir uns auch keiner Täuschung hingeben: Ihr Land braucht eine neue Form des Nation Building. Das wird ein langer Prozess werden. Er ist genauso wichtig, wie das Nation Building einst, als die Nation sich konstituierte.

Solange die Instanzen des Rechts nicht unbeeinflusst arbeiten können und solange das Gewaltmonopol nicht in den Händen der gewählten und parlamentarisch kontrollierten Regierung ist, ist Demokratie immer nur bruchstückhaft vorhanden und immer bedroht.

Nirgendwo auf der Welt leben Gewerkschafter so gefährlich wie in Kolumbien. Fast die Hälfte aller Gewerkschafter, die 2011 in der Welt ermordet wurden, war in Kolumbien aktiv.

Auch Menschenrechtler, Journalisten, Sprecher von indigenen Gruppen und von Vertriebenen, die ihr Land zurückfordern, werden nach wie vor eingeschüchtert und bedroht, einige bezahlten für ihr Engagement mit dem Leben.

Kolumbien hat eine lange demokratische Tradition – einerseits. Andererseits muss es Abschied nehmen von der langen Gewöhnung, Konflikte durch Gewalt zu lösen. Gabriel García Márquez hat darauf hingewiesen.

Das heißt, dass Sie, die junge Generation, noch sehr nachhaltig die neue Demokratie festigen und verteidigen müssen. Aufgrund der Erfahrungen mit fast 70 Jahren Nachkriegsgeschichte in Deutschland kann ich bezeugen: Mentalitätswandel ist möglich. Aus dem aggressivsten Land Europas ist ein Land geworden, in dem Achtung vor den Mitmenschen herrscht.

Große Bedeutung kommt dabei einem Bündnis aller Bürger zu, die sich dem Denken der Aufklärung verpflichtet fühlen: an den Unis, in den Kirchen, in den Medien, bei den Künstlern – einem Bündnis von Konservativen, Liberalen, Linken, die die Wahrung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat als Zukunftsmodell von Gesellschaft propagieren.

Ich kann Sie hier an der Universität nur ermutigen: Rechnen Sie damit, dass Demokratie möglich ist, aber nur, wenn das Machtmonopol des demokratischen Staates gestärkt wird, wenn der Staat den Rechtsstaat zu seiner Maxime macht und wenn Sie hier an der Universität und überall in der Gesellschaft bereit sind, Bündnisse für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu schaffen.

All jenen, die der Wahrheit trotz der schwierigen Umstände zum Durchbruch verhelfen, gilt mein uneingeschränkter Respekt. Ich bewundere sie dafür. Wie schwierig ist allein schon die Beweisführung, wer welches Unrecht getan hat. Nach wie vor sind viele Täter unbekannt, nach wie vor sind viele Verbrechen unbekannt. In Deutschland hatten die Täter umfangreiches Aktenmaterial hinterlassen, in beiden Diktaturen.

Wir konnten die Täter teilweise mit ihrem eigenen Material überführen. In Deutschland gab es darüber hinaus eine fraktionsübergreifende Bereitschaft zur Aufarbeitung. In einer Enquete-Kommission des Parlaments stellten Parlamentarier, Wissenschaftler und Zeitzeugen gemeinsam ein möglichst umfassendes Bild des Unrechtregimes zusammen: Das Geschichtsbild sollte nicht durch die Optik der Täter bestimmt werden. Es kommt auch darauf an, das Herrschaftswissen der Täter allen zugänglich zu machen. Deshalb ist es so wichtig, bereits vor und am Beginn eines Aufarbeitungsprozesses Material von Polizei, Militär und staatlichen Institutionen vor dem Verschwinden zu bewahren, es zu sichern. Von großem Wert für die Rekonstruktion der Unrechtsvergangenheit waren und sind für uns in Deutschland neben der Sicherung der Akten auch die Aussagen der Opfer.

Das trifft für die Überlebenden der Nazi-Diktatur genauso zu wie für die Häftlinge in DDR-Gefängnissen oder die Geschichten derer, die trotz Todesgefahr von Deutschland nach Deutschland flohen. Sie berichten in Schulklassen, übernehmen Führungen an den Orten ihrer Pein und geben Video-Interviews, um ihr Wissen als Zeitzeuge auch an die folgenden Generationen weiterzugeben.

Zwar hindert nicht selten Scham die Opfer, das ganze Ausmaß ihrer Ohnmacht und Demütigung zu bezeugen. Aber wenn sie Beratung annahmen oder sich in therapeutischen Prozessen befinden, lernten sie, sich durch Reden langsam von ihrer Last zu befreien.

Schließlich sei darauf verwiesen, dass sich auch Verantwortliche aus dem alten Regime fanden und finden, die das neue System mitgestalten und der Wahrheit dienen wollen, die zur Reue fähig sind und uns ihr Wissen zur Verfügung stellen – sei es vor einem Gericht, einer Aufarbeitungskommission oder einem Forschungsprojekt.

Das ist ihr aktiver Beitrag, mit dem sie selbst zu ihrer Resozialisierung beitragen und eine innere Aussöhnung der Gesellschaft voranbringen können. Wie weit und wie schnell die vielfältigen Bemühungen um Frieden und Gerechtigkeit allerdings tatsächlich zu einer Versöhnung zwischen Tätern und Opfern führen können, ist eine der schwierigsten Fragen im Prozess der Aufarbeitung. Ich vermag darauf keine letzte Antwort zu geben.

Zunächst einmal erscheint es mir äußerst problematisch, im öffentlichen Raum den Begriff Versöhnung zu benutzen.

Denn Versöhnung bezeichnet einen Prozess, in dem eine Person auf Genugtuung, auf Rache verzichtet, weil sein Gegenüber Unrecht in einer Weise bereut, die es ihm erlaubt, generös zu sein. In diesen Momenten geschieht Vergebung. So wie im religiösen Bereich der Vergebung Gottes die Reue des Sünders vorausgeht.

Diesen Prozess von Schuldeingeständnis und Vergebung kann der Staat aber nicht befehlen. Das ist ein Geschehen allein zwischen zwei Menschen. Aber was kann der Staat tun?

Sehr positive Erfahrungen wurden in verschiedenen Krisengebieten gemacht, in denen sich ehemalige Täter und Opfer bzw. ihre Nachkommen ihre Lebensgeschichten erzählen – so wie es auch in Kolumbien bei Begegnungen zwischen geständigen Demobilisierten und Opfern teilweise geschieht oder in Ruanda, wo neben den ordentlichen Gerichtsverfahren auch außergerichtliche Formen der Übereinkunft zwischen Opfern und Tätern bestehen. Diese ganz besondere Art der Verbindungen wird allerdings immer nur eine sehr kleine Gruppe betreffen.

Ansonsten ist schon viel erreicht, wenn der Staat nach langen Phasen der Gewalt eine friedliche Koexistenz gewährleisten kann. Das Opfer muss die Sicherheit haben, dass es nicht zum Schweigen gebracht werden soll. Und der Täter muss die Sicherheit haben, dass er nicht das Ziel von Racheakten und Selbstjustiz wird.

Der Staat muss also einen öffentlichen Raum garantieren, in dem beide Konfliktparteien wissen: Ich muss keine Gewalt von meinem Gegenüber befürchten. Aber die Wahrheit muss leben können.

Das wäre nach 50 Jahren Gewalt schon sehr viel!