Festveranstaltung "150 Jahre Industrie- und Handelskammer Dortmund"

Schwerpunktthema: Rede

Dortmund, , 11. Juni 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 11. Juni anlässlich ihres 150. Jubiläums die Arbeit der Industrie- und Handelskammer Dortmund gewürdigt: "Wir freuen uns, wenn wir zusammenfinden in Erfahrungen, in denen wir spüren: Wir haben unsere Kräfte und unsere Phantasie nicht nur für uns allein, sondern auch für andere. Wir brauchen diese Haltung als beständige Basis, auf dem unser Gemeinwesen nur funktionieren kann."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede bei der Festveranstaltung "150 Jahre IHK Dortmund"

Ich bin gern hier bei Ihnen, weil ich hier immer Menschen getroffen habe, die nicht Angststrategien miteinander entwickelt haben, sondern Mut und Zuversicht.

Nun bin ich also hier, um mit Ihnen "150 Jahre Zukunft" zu feiern. Aber erlauben Sie mir, dass ich Sie zuvor einfach aus diesem Saal entführe, weil ich mir sonst irgendwie unpassend vorkomme. Das hängt mit den Erlebnissen der letzten Tage zusammen, als ich in den Flutgebieten war. Ich will diese festliche Rede und diese festliche Situation nicht so begehen, als würden wir uns immerfort nur freuen können und Erfolge feiern. Sondern ich will, dass wir einen Moment auch daran denken, dass wir in diesem Land der wirtschaftlichen Erfolge, der kulturellen Erfolge und des menschlichen Miteinanders auch an so eine Situation denken, wie sie in Mitteldeutschland, in Süddeutschland und jetzt zunehmend auch in Norddeutschland da ist.

Ich bin sehr dankbar, dass es auch die Kammern sind, die den betroffenen Unternehmen helfen, mit der Situation fertig zu werden. Es könnte sein, dass das, was wir in Mitteldeutschland und Süddeutschland erleben, sogar zu einer nationalen Herausforderung wird und dass Sie vielleicht auch aus der Entfernung heraus helfen können. Sie alle werden sowieso noch ihr Portemonnaie aufmachen und spenden, als Privatleute, vielleicht auch als Firmen.

Ich habe mit Begeisterung gesehen, wie die Menschen dort in den betroffenen Regionen nicht nur niedergedrückt sind durch Ohnmachtserfahrungen, sondern wie dieses Zusammenstehen ihr Gemüt auch aufhellt. Im gerne etwas tristen und problembeladenen Deutschland ist es immer interessant, wenn man auf eine große Gruppe von Menschen trifft, deren Augen leuchten. Und das erleben wir gerade dort in der Notsituation, wo Menschen plötzlich da sind, sich miteinander verabredet haben und helfen. Und plötzlich spüren sie etwas von der Kraft, die in uns allen steckt.

Und damit – beim Thema "Kraft" und "Zusammenstehen", bei der solidarischen Haltung, bei der Beantwortung der Frage "Wie gewinnen wir Übersicht?", "Wie können wir durch gemeinsame Anstrengungen Schwierigkeiten überwinden?" – bin ich ja nun auch hier bei Ihnen in diesem Land: mitten in seinem so besonders eindrucksvollen westfälischen Teil. Hier gilt die Tradition des Beieinanderstehens, die Tradition, nicht verzagt zu sein, aber ebenso, die Augen nicht vor Krisen zu verschließen. Wir freuen uns, wenn wir zusammenfinden in solchen Erfahrungen, in denen wir spüren: Wir haben unsere Kräfte und unsere Phantasie nicht nur für uns allein, sondern auch für andere. Wir brauchen diese Haltung als beständige Basis, auf der unser Gemeinwesen nur funktionieren kann.

Ich habe wirklich tiefen Grund, Ihnen allen heute ganz herzlich zum Geburtstag zu gratulieren. In den 80 Industrie- und Handelskammern werden die Netze geknüpft, die unsere großen und kleinen Unternehmen durch den Wandel der Zeiten hindurch getragen haben.

Wenn wir nur einmal hochrechnen würden, wie viele tausend Stunden ehrenamtlicher Mitarbeit in Präsidium und Vollversammlung, in Ausschüssen und Arbeitsgruppen, als Prüfer oder als ehrenamtlicher Richter allein durch Sie hier im Saal zusammenkommen – ich bin sicher, es käme eine imposante Zahl zustande. Diese Zahl steht in keiner Unternehmensbilanz. Aber sie ist ein Beleg für das Gefühl, Mitverantwortung zu tragen. Und dies ist es, was unser Land letztlich stark macht! Es sind nicht nur die technischen Innovationen, es sind auch die Haltungen, aus denen heraus solche Innovationsfähigkeit erwächst.

Ich gratuliere heute, das wissen Sie besser als ich, nicht der ältesten Industrie- und Handelskammer in Deutschland – selbst für den engeren Raum des Ruhrgebiets trifft das nicht zu, es gibt durchaus ältere. Dafür gratuliere ich aber einer IHK, die in besonderer Weise Veränderungen begleitet hat. Der Grund heißt "Strukturwandel". Man könnte ja fast sagen, er ist inzwischen Normalzustand der Region. Als offensichtlich wurde, dass die große Zeit der Ruhrkohle vorüber war, dass für die Stahlerzeugung härteste Zeiten anbrechen würden, dass sich sogar für Brauereien und viele andere Traditionsfirmen Schwierigkeiten häuften, da musste sich die Region komplett – oder sagen wir: weitgehend – neu erfinden.

Sicher: Es strahlt noch nicht alles so golden wie das große "U" auf der alten Brauerei der Dortmunder Union. Und ich will auch die Herausforderungen und Schwierigkeiten, die es immer gibt und die uns immer begleiten, nicht kleinreden: Arbeitslosigkeit wird uns noch eine Zeit begleiten, die Kosten der Energiewende belasten uns, ebenso der demografische Wandel. Mit alledem müssen wir umgehen und umgehen lernen, und zwar nicht nur hier in der Region, sondern im ganzen Land.

Aber wenn ich sehe, wie viele neue Unternehmungen seit den 80er Jahren hier entstanden sind, dann kann ich nur sagen: Das haben wir Ihnen zu verdanken, den Engagierten in der Industrie- und Handelskammer! Sie bündeln und vertreten wirtschaftliche Interessen, Sie bringen Vorschläge und Ideen ein, Sie beraten und unterstützen die Investoren und die Gründungswilligen, die manchmal auch sehr jung sind.

Vieles, was heute fest zu Dortmund und zu dieser Region als Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort gehört, haben nicht allein Politik und Verwaltung, sondern vor allem Sie und Ihre Vorgänger maßgeblich vorangetrieben: von der Anbindung Dortmunds ans Eisenbahnnetz, damals, in der Anfangszeit Ihrer Kammer, über die Gründung der Universität Dortmund bis hin zu den Technologiezentren. Sie werden sich noch vieles andere vornehmen und vorantreiben müssen, damit Ihre Region und die Wirtschaft hier innovativ und zukunftsfähig bleiben.

Was würden die Gründerväter der Industrie- und Handelskammer Dortmund sagen, zu Mikrosystemtechnik und Kreativwirtschaft statt Schwerindustrie und Bierbrauereien? Ich vermute, dass sie gar nicht so sehr fremdeln würden. Zum einen wird hier auch immer noch industriell produziert – zum Glück, denn inzwischen wissen wir auch, wie wertvoll eine industrielle Basis ist. Das ist nicht in allen Teilen Europas gesichertes Wissen. Aber wir in Deutschland und gerade hier in der Region, wir wissen es eben noch und halten das auch fest. Dies soll auch ein Produktionsstandort bleiben, wir wollen uns nicht nur auf Finanzwirtschaft oder Dienstleistungen ausrichten. Zum anderen bleiben viele der Themen, die die Gründer damals umtrieben, unverändert aktuell. Damit meine ich nicht nur die Frage, wie hoch die Gewerbesteuern sein dürfen, sondern vor allem die Frage, welche Ausbildung junge Menschen brauchen, um im wirtschaftlichen Wandel nicht nur Schritt zu halten, sondern auch den wirtschaftlichen Wandel mit voranzutreiben.

Ich fand es interessant, in einer Ihrer Publikationen zu lesen, dass Ihr erster hauptamtlicher Kammersyndicus, Ernst Bernhardi, schon 1901 den obligatorischen Schulbesuch von Lehrlingen einführte und Dortmund damit in der beruflichen Bildung eine Spitzenstellung verschaffte. Es würde ihn wohl freuen zu hören, dass wir inzwischen in vielen Ländern – nicht nur in Europa – wegen unserer dualen Ausbildung beneidet werden! Ich bin vor kurzem in zwei Ländern in Südamerika gewesen, habe dort auch deutsche Unternehmer getroffen, die sehr gut platziert sind im dortigen Markt. Die Unternehmungen und die Vertretungen, die es dort gibt, die kümmern sich um die Ausbreitung dieses Prinzips.

Wenn ich im Ausland mit Politikern über unsere mittelständische Wirtschaft spreche, über die Gründe, warum sie Deutschland vielfach bewundern, dann kommen wir in der Regel auch immer auf das duale Ausbildungssystem. Ich bin ziemlich sicher, dass das ein enormes Spitzenprodukt ist, das wir noch viel weiter exportieren sollten. Wir haben eben nicht nur die guten Produkte, deren Markennamen in der Welt bekannt sind, sondern auch diese Form der Ausbildung: das Ernstnehmen der Potentiale von jungen Menschen in einer nichtakademischen Ausbildung und die Tatsache, dass wir sie in ein Berufsleben führen, in dem sie Anerkennung erwarten dürfen – all das ist ein großer Schatz und wir wollen uns alle bemühen, ihn zu erhalten und zu entwickeln.

Es ist jedenfalls interessant, dass ich, der ich ja nun nicht aus der Wirtschaft komme, auch in Begeisterung verfalle und hauptsächlich dadurch, dass ich die Defizite in anderen Systemen gesehen habe. Es gibt durchaus erfolgreiche Unternehmen in den verschiedenen Gegenden der Welt. Aber diese Form von Mitverantwortung für die nächste Generation, die Ausbildung von Fachkräften – Voraussetzung von wunderbaren Produkten und deren Export – das ist schon eine Art Alleinstellungsmerkmal. Sicherlich haben das auch Österreich und andere Länder. Aber hier sind wir weit voran und das soll so bleiben.

Manchmal muss man gegen eine ganze Kultur der gesellschaftlichen Anerkennung ein Gegenmodell setzen. Es gibt Länder, auch in Europa, wo Anerkennung hauptsächlich der akademischen Ausbildung entgegengebracht wird. Unsere gute Tradition der Industriemeister, dieser gestandenen Handwerksmeister, unsere Kultur des Selbstbewusstseins in der Facharbeiterschaft, all das ist dort nicht so weit verbreitet. Jedenfalls gewinnt man damit nicht so ein gesellschaftliches Renommee, wie wir es kennen und wie es gerade in dieser Region gewachsen ist. Wir haben gut daran getan, diese Tradition weiter zu entwickeln. Und als wir sie ein wenig schleifen ließen, als in manchen unserer Unternehmungen die Ausbildung ein bisschen mit der linken Hand betrieben wurde, war das keine so ganz gute Phase für uns. Ich will hier in einer Festrede nicht an problematische Zeiten erinnern. Aber wir haben es ja nicht vermasselt, wir haben es gepackt. Und das ist eben einer der Gründe, warum ich gerne hierher gekommen bin.

Ich wünsche mir also, dass wir unsere guten Erfahrungen teilen mit denen, die sich dafür interessieren. Wir wollen es niemandem aufzwingen. Es könnte aber ein wichtiger Beitrag sein für die Überwindung der Jugendarbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas. Demnächst fahre ich nach Nordosteuropa, in die baltischen Staaten. Und ich bin ganz gespannt, was ich dort hören werde über den Strukturwandel. Alle diese Länder im Baltikum kommen aus dem Staatssozialismus. Die Wirtschaft musste sich neu strukturieren. Ich werde wieder von unserer Unternehmens- und Ausbildungskultur erzählen.

Wichtig ist, dass wir uns darum bemühen, Arbeitsmarktbarrieren abzubauen, die Arbeitsvermittlung zu reformieren und ganz dringend ein befähigendes berufliches Ausbildungswesen in allen Mitgliedstaaten der europäischen Union aufzubauen. Europa wird eben nur dann eine gute Zukunft haben, wenn Europas Jugend eine Chance bekommt.

Das ist auch ein ganz wesentlicher Beitrag für mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Wachstum. Denn ohne eine gute Ausbildung in den Betrieben gäbe es in Deutschland wohl auch kaum noch die soliden und innovativen mittelständischen Unternehmen, die mit ihren Produkten und mit ihrem manchmal ganz speziellen Segment Weltmarktführer sind. Einige solcher Unternehmen habe ich kennen gelernt bei meinen Antrittsbesuchen in allen 16 Ländern des Bundes. Und immer wieder war ich aufs Neue beeindruckt davon: über den großen Einsatz all der Kaufleute, Informatiker, Spezialisten in der Logistik, Kommunikation oder Sicherheit – um nur einige Bereiche zu nennen.

Wer aber analysiert und diagnostiziert den Bedarf der Industrie und des Gewerbes in den einzelnen Sparten? Wer entwickelt die Ausbildungsinhalte mit? Wer kümmert sich um ausreichende Ausbildungsplätze vor Ort und in den Betrieben und prüft später die Auszubildenden bis hin zu ihrem Abschluss? All diese Aufgaben werden in Deutschland in bewährter Art erledigt durch vielfach ehrenamtliches Engagement aus den Kammern heraus. In unserem Land sind es insgesamt eine viertel Million Kaufleute und Unternehmer, die sich als ehrenamtliche Prüfer junger Auszubildender in den Industrie- und Handelskammern einsetzen – das ist eine Dimension, die einfach zuversichtlich stimmen muss! Mich tut sie es jedenfalls.

Mit meinen Erfahrungen aus dem Osten kann ich eben besonders intensiv nachempfinden, dass es nicht nur ein ökonomischer Verlust ist, wenn man die Kultur der Mittelständler verliert und die Haltung der Verantwortlichkeit, sondern dass es letztlich auch ein kultureller Verlust ist, der uns alle schädigt. Aus diesen Erfahrungen heraus weiß ich besonders deutlich zu schätzen, was für einen kulturellen Schatz wir mit der beschriebenen Kultur der Mittelständler, der Freiwilligkeit, Ehrenamtlichkeit und der Verantwortlichkeit in den Kammern haben.

Ich kann als Bundespräsident nicht wie ein Fachpolitiker sprechen. Ich bin auch kein Experte für Wirtschafts- und Unternehmensfragen. Aber ich bin – und ich habe das eben begründet – ein Freund und ein Fürsprecher der Wirtschaft und eines freien Unternehmertums, das bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Dies gilt es immer wieder zu betonen, gerade wenn wieder einmal so ein antikapitalistischer Diskurs en vouge ist. Mir ist es wichtig, dass wir zu unseren Stärken stehen.

Wir haben erfahren, dass wir eine Unternehmenskultur entwickeln können, wenn wir nicht nur an das Gedeihen der eigenen Unternehmen denken, sondern auch an das gesamtgesellschaftliche Miteinander. In den rund dreieinhalb Millionen gewerblichen Unternehmen, die in den 80 Industrie- und Handelskammern organisiert sind, wird ein Großteil unseres Wohlstands geschaffen. Und was wären wir ohne Sie, die Sie im wahrsten Sinne etwas unternehmen, was wären wir eigentlich ohne Ihren Mut und ohne Ihre Initiative? Sie gründen, Sie investieren, Sie bilden aus, Sie geben Anderen Arbeit. Sie sind für mich ein ganz wichtiger, bestimmender Teil unserer freien Bürgergesellschaft!

Mit großem Interesse habe ich darum im aktuellen Gründerreport des Deutschen Industrie- und Handelskammertages gelesen. Da gibt es Licht und Schatten: Die Zahl der Existenzgründungen ist in den letzten Jahren bedauerlicherweise weiter abgesunken. Allerdings hat das auch einen Hintergrund, der erfreulich ist: Die Arbeitslosenzahlen sind niedrig und damit sinkt wohl auch der Druck, sich aus Not heraus selbständig machen zu müssen. Erfreulich ist es zu lesen, dass immer mehr Frauen gründen. Und auch wenn der typische Existenzgründer, die typische Existenzgründerin jung ist – "jung", das heißt ja hierzulande "unter 50". Es gibt immer mehr Ältere, die risikofreudig genug sind und die Selbständigkeit noch wagen. Das finde ich großartig. Im Übrigen bedeutet "gründen" ja nicht nur "wagen", sondern auch, sich einen Standort suchen, sich also "beheimaten". Es hat mich darum gefreut zu lesen, dass jeder vierte Unternehmensgründer ausländischer Herkunft ist und sich auch auf diese Weise fest in Deutschland verankert.

Was können wir tun, um alles das zu stärken? Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag empfiehlt: Förderung für arbeitslose Existenzgründer und Anschubfinanzierung für Hightech-Start-Ups verbessern! Bürokratie für Existenzgründer vereinfachen! Wie oft ich diesen Satz wohl noch lesen werde. Aber auch zu nennen: Eltern mit besseren Kinderbetreuungsangeboten die Selbständigkeit erleichtern! Da muss man kein Experte sein, das liest sich alles gut und richtig. Und es ist beeindruckend, wie viele Hilfen und Förderprogramme, professionelle und kompetente Begleitung es gerade heute durch die Industrie- und Handelskammern gibt. Das ist wichtig, da sind Sie wieder bei Ihrer Kernkompetenz.

Dann gibt es aber auch etwas, was mich ein wenig nachdenklich stimmt, wenn wir in Deutschland über Arbeitsplätze sprechen: Die Verantwortung etwas voranzubringen, wird oft auf die "anderen" geschoben. Unternehmer und Konzerne sollen es richten oder aber Politiker und Parteien. Sie werden verantwortlich gemacht, wenn Arbeitsplätze verloren gehen, sie werden in Verantwortung genommen, Arbeitsplätze zu sichern. Das mag auch nicht ganz falsch sein, wenn es um Investitionsentscheidungen oder wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen geht. Aber schauen wir doch die Geschichte Ihres Kammerbezirks an: Was wäre er ohne mutige und weitblickende Gründer wie zum Beispiel den ersten Kammerpräsidenten, den schon erwähnten Wilhelm Overbeck? Ich brauche Sie nicht daran zu erinnern: Es ist als Einzelner möglich, nicht nur auf eine Karriere als abhängig Beschäftigter zu setzen, es ist auch möglich, eigene Pläne, eigene Projekte zu entwickeln, Unterstützung dafür zu suchen und sich in die Selbständigkeit aufzumachen. Auch das ist gelebte Freiheit. Sie braucht eine Kultur des Wagens, die sich nicht durch die Möglichkeit des Scheiterns behindern lässt.

Den Mut zum Gründen können wir auch in Momenten wie diesen sammeln, wenn wir an die Kräfte unserer Vorfahren erinnern – wie viele Brüche, wie viele Krisen haben sie überstanden! Das ist, wenn ein Mensch meines Alters diesen Satz spricht, immer verbunden mit ganz schrecklichen Bildern: mit Bildern von Trümmerlandschaften, in denen alles daniederlag, von entmutigten und ausgezehrten Menschen, von fehlenden Arbeitnehmern, von Verlust und Tragik. Es ist so leicht zu übersehen, dass wir all das gemeistert haben. Wir müssen uns beständig deutlich machen, dass wir es waren, die Krisen nicht nur irgendwie durchgestanden haben, sondern dass wir sie gemeistert haben. Die Gründungen der letzten 150 Jahre wären zusammengenommen Stoff genug für tausende von abenteuerlichen Geschichten von Leidenschaft und Ideenreichtum, von Biss und Verantwortungsgefühl, von Niedergang, aber auch von Neuerfindung. Momente der Erinnerung sind wichtig. Wir sagen uns in ihnen, was wir alles geschafft haben, um glauben zu können, was wir noch in Zukunft schaffen werden.

Beständigkeit und Verantwortung, Veränderungsbereitschaft und Mut – das sind auch die Ansprüche an Ihre eigene Institution, an die Kammern. Wie alle Institutionen müssen sie sich wandeln, müssen sich ihre Legitimation, auch ihre besondere Stellung, einschließlich ihrer besonderen quasi-hoheitlichen Aufgaben, immer wieder neu erarbeiten. Das geht am besten durch solide Arbeit, durch Transparenz, durch gute Ideen, mit denen Sie vor Ort Probleme lösen und Erfolge spürbar machen können: Zum Beispiel, gemeinsam mit der Arbeitsagentur und dem Jobcenter über das Radio zu versuchen, Arbeitssuchende und Arbeitsplätze zusammenzubringen – eine, wie ich finde, ziemlich pfiffige Idee hier aus Dortmund, für die man Reklame machen kann.

Unsere Tradition der Selbstverwaltung der Wirtschaft birgt das große Versprechen unternehmerischer Teilhabe an der Gestaltung der Wirtschaftsordnung. Sie ist eine historische Errungenschaft bürgerlichen Engagements und der Demokratisierung in unserem Land. Das sollten wir in heutiger hektischer Zeit nicht leichtfertig übersehen. Hier spricht natürlich immer auch der Ostdeutsche in mir, der erlebt hat, welche absurden und zerstörerischen Folgen es haben kann, wenn eine Staatsmacht behauptet, alles zentral lösen zu können.

Nicht zufällig haben auch die Nationalsozialisten gleich nach der Machtergreifung 1933 die Handelskammern gleichgeschaltet – und nicht zufällig hat später das SED-Regime die Kammern nach dem gescheiterten Aufstand der Arbeiter im Jahr 1953 zentralisiert und von ihrer Selbstverwaltung entmachtet.

Nehmen wir es also als ein gutes Zeichen heute für die Lebendigkeit unserer deutschen Demokratie, wenn die Positionen der Handelskammern zur Standort- und Wirtschaftspolitik so manchem Landes- oder Bundespolitiker bisweilen nicht so gefallen, gelegentlich vielleicht sogar missfallen. Und nehmen wir es auch als ein gutes Zeichen, wenn in den regionalen Industrie- und Handelskammern kontrovers und lebhaft diskutiert wird.

Verantwortung für die res publica zu übernehmen heißt, sich mit dem Unvollkommenen zu arrangieren und dabei die Energie und den Willen zu behalten, die man braucht, um die Verhältnisse tatsächlich verbessern zu wollen. Nicht meckern, sondern mitgestalten – da, wo immer man es kann. Darum möchte ich Sie bitten, bei all Ihren Mitgliedern dafür zu werben: Seid keine Zuschauer, sondern werdet Gestalter! Nehmt Euer aktives und passives Wahlrecht in den Gremien der Industrie- und Handelskammern noch weitaus zahlreicher wahr! Und auch da gibt es noch Luft nach oben, das wissen wir. Nutzt die Chance, Eure Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln und gemeinsame Interessen für den Standort auch gemeinsam zu vertreten!

Zum Schluss: Ich sehe in der Art und Weise, wie Sie in den Industrie- und Handelskammern Verantwortung übernehmen, die angemessene Art, Freiheit zu leben. In diesem Geiste werden Sie keine Zukunft zu fürchten haben, sondern dürfen sich freuen auf alle kommenden Jahre – und seien es 150 oder mehr. Und dazu wünsche ich Ihnen alles Gute! Glück auf!