Staatsbesuch der Republik Estland

Schwerpunktthema: Rede

Tallinn/Estland, , 9. Juli 2013

Rede von Bundespräsident Joachim Gauck während seines Staatsbesuchs der Republik Estland bei einem Mittagessen gegeben von der Präsidentin des Parlaments, Ene Ergma:

Danke für Ihre herzliche Begrüßung! Ich bin sehr gern zu Ihnen gekommen, denn ich habe großen Respekt vor der Verantwortung, die Sie übernommen haben. Als gewählte Bürgerinnen und Bürger gestalten Sie die Geschicke Ihres Landes an entscheidender Stelle mit.

Ich bewundere übrigens sehr, wie verantwortungsvoll die estnischen Parlamentarier zu Europa stehen, wenn es darauf ankommt, und wie breit der Konsens ist, der sich in der Bevölkerung für diese Haltung bildet. Ich wünschte mir, dass die Erfahrungen, die Sie in der zurückliegenden Zeit gesammelt haben, Länder und Menschen in ganz Europa stärken und motivieren: etwa Ihre klare Orientierung an guten Zukunftschancen für alle Bürgerinnen und Bürger – mit Perspektiven für Aufstieg und Bildung, mit Freude an Innovationen und neuen Technologien, mit Mut zu Reformen und zu einer berechenbaren Finanz- und Wirtschaftspolitik, auch über Parteiinteressen und Wahlperioden hinweg.

Bundespräsident Joachim Gauck beim gemeinsamen Mittagessen mit der Parlamentspräsidentin Ene Ergma

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Rede von Bundespräsident Joachim Gauck während seines Staatsbesuchs der Republik Estland bei einem Mittagessen gegeben von der Präsidentin des Parlaments, Ene Ergma:

Danke für Ihre herzliche Begrüßung! Ich bin sehr gern zu Ihnen gekommen, denn ich habe großen Respekt vor der Verantwortung, die Sie übernommen haben. Als gewählte Bürgerinnen und Bürger gestalten Sie die Geschicke Ihres Landes an entscheidender Stelle mit.

Seit im September 1992 die ersten freien Wahlen nach der estnischen Unabhängigkeit stattfanden, wurden hier im Riigikogu zukunftsweisende und dabei auch bisweilen harte und unpopuläre Entscheidungen getroffen. Diese Entscheidungen, sie atmeten wohl nur in den seltensten Fällen die Euphorie der „singenden“ estnischen Revolution und der dann so freudig erlangten Unabhängigkeit. Zumeist waren es Entscheidungen, die getragen waren von gesunder Nüchternheit, vom Blick für das heute Machbare, für das, was durchzusetzen möglich war im mühsamen Prozess der demokratischen Willensbildung. Aber: Es waren Entscheidungen, die in einem frei gewählten Parlament eines freien und selbstbewussten estnischen Staates fielen. Der berechtigte Stolz auf diese selbst erkämpfte Freiheit und Souveränität ermutigte Sie – Abgeordnete wie Bürger –, zunächst unbequeme Entscheidungen zu treffen, um nach dem Ende des Kommunismus und der sowjetischen Herrschaft Ihr Land gemeinsam nach vorn zu bringen. Mit dieser Haltung war es Ihnen möglich, dahin zu gelangen, wo Sie hingehören: als eigenständiges Land in die Europäische Union. Welch wunderbarer Abschluss der singenden Revolution, welch schöner Erfolg Ihres Landes und welch ein Gewinn für die Völker Europas!

Ich bewundere übrigens sehr, wie verantwortungsvoll die estnischen Parlamentarier zu Europa stehen, wenn es darauf ankommt, und wie breit der Konsens ist, der sich in der Bevölkerung für diese Haltung bildet. Ich wünschte mir, dass die Erfahrungen, die Sie in der zurückliegenden Zeit gesammelt haben, Länder und Menschen in ganz Europa stärken und motivieren: etwa Ihre klare Orientierung an guten Zukunftschancen für alle Bürgerinnen und Bürger – mit Perspektiven für Aufstieg und Bildung, mit Freude an Innovationen und neuen Technologien, mit Mut zu Reformen und zu einer berechenbaren Finanz- und Wirtschaftspolitik, auch über Parteiinteressen und Wahlperioden hinweg.

Trotz dieser Anstrengungen und trotz sichtbarer Erfolge, etwa Ihrer beeindruckend geringen Verschuldung, begegnen Ihnen auch heute noch drängende Probleme. Ich denke etwa an die Jugendarbeitslosigkeit, die uns ja in vielen Ländern Europas Sorgen bereitet. Wenn Sie diese Probleme betrachten, wünsche ich mir, dass zugleich ein anderes Gefühl wächst: Auch schwierige Situationen lassen sich meistern, Anstrengung lohnt und auch das, was heute noch vor uns liegt, können wir beherzt anpacken. Kurz gesagt: Wir sind froh, Sie Seite an Seite mit unserem Land in der Europäischen Gemeinschaft zu wissen – weil wir damit die Lehre aus bitterster geschichtlichen Erfahrung ziehen und weil wir wissen: Gemeinsam können wir in Europa unsere Zukunft meistern.

Nicht nur unsere Länder im Allgemeinen, auch unsere beiden Parlamente im Besonderen sind eng miteinander verbunden. Schon 1991, im Jahr der Unabhängigkeit Estlands, entstand der Deutsch-Baltische Freundeskreis im Deutschen Bundestag. Dessen Gründer und lange auch Vorsitzender, Wolfgang von Stetten, hat über viele Jahre hinweg gemeinsam mit vielen anderen Parlamentariern aus Bundestag und Riigikogu den Weg Estlands zurück in den Kreis der europäischen Demokratien unterstützt. Ich freue mich sehr, bei dieser Gelegenheit den heutigen Vorsitzenden der deutsch-estnischen Partnergruppen im Bundestag und im Riigikogu, Christel Happach-Kasan und Urmas Klaas, ganz herzlich „Danke“ zu sagen. Auch wenn wir unsere demokratischen Institutionen lieben und loben sollten – die eigentlich Wichtigen sind die Menschen, die in ihnen wirken.

Verehrte Frau Präsidentin, Sie haben – wie ich und wie die meisten hier im Raum – den größten Teil Ihres Lebens ohne ein frei gewähltes Parlament gelebt. Ich bin mir sicher, wir teilen das Gefühl der Dankbarkeit, nach langen Irrwegen durch politische Wüsten des 20. Jahrhunderts endlich und unerwartet Heimat wiedergefunden zu haben – und das Glück der Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft zu erfahren. Es ist kein bequemes Glück, es verlangt Einsatz, Hartnäckigkeit und Leidenschaft. Aber es ist ein Glück, das uns dazu befähigt, unser Leben frei und solidarisch mit anderen zu gestalten. Ich wünsche Ihnen und uns allen die nötige Kraft und Zuversicht, dieses mühsame, schöne Glück anzunehmen!