Festkonzert der Internationalen Bachakademie zum Abschied von Helmuth Rilling

Schwerpunktthema: Rede

Stuttgart, , 24. August 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 24. August beim Festkonzert der Internationalen Bachakademie in Stuttgart eine Rede gehalten: Darin würdigte er die Verdienste von Helmuth Rilling er: "Wir freuen uns über diesen Willen, mit Musik nicht nur zu begeistern, nicht nur tiefe Gefühle anzusprechen und zu erwecken, sondern auch ein wirkliches geistiges und geistliches Verständnis dessen zu vermitteln, was da gespielt und was da gesungen wird, was da verborgen ist und nur geahnt werden kann und trotzdem hörbar wird."

Ansprache des Bundespräsidenten beim Festkonzert der Internationalen Bachakademie Stuttgart

Wie schön, dass ich bei Ihnen sein kann – das war doch eben so etwas wie ein Erntedank.

Sie spüren an mir, dass ich teilhaben möchte und teilhaben kann an Ihrer Freude, an Ihrer Bewegung und an Ihrer Begeisterung. Und dabei war es so merkwürdig: Als ich zum ersten Mal – ich gestehe, ich bin kein eingeschworener Musikkenner und noch nicht einmal der Kirchenmusik war ich allzu sehr zugetan als junger Geistlicher – den Begriff "Gächinger Kantorei" hörte, dachte ich: Ja, mein Gott, wo mag denn das sein, was mag das bedeuten? Ist das so etwas Ähnliches wie – mir fielen dann alle möglichen Namen ein, später hörte ich auch, dass in der Nachbarschaft allerhand eigentümliche Stadtteilgemeinden existieren: Upfingen, Ohnastetten, Würtingen, Lonsingen, Bleichstetten. Gächingen gehörte in diese sonderbare Reihe. Das sollte sich dann später ändern. Gächinger Kantorei: Das gehörte irgendwann zum Besitzstand – das hört sich merkwürdig an –, zu den Bereichen, die man genau kannte. Man wusste genau, an welche Stelle im Plattenschrank man fassen musste, wenn die Seele nieder hing und man etwas brauchte zum Aufatmen, zum "wieder Leben", zum Krafttanken. Da war das ein Begriff geworden und da war auch der Name Helmuth Rilling natürlich schon ein Begriff – auch für einen, der nicht so sehr vertraut war mit der hohen und guten Musik.

Ich habe gelernt, dass hier dieses besondere Lebensgefühl, die Liebe zur Bachschen Musik, die Treue zum Glauben, der Bürgersinn und ein waches Empfinden dafür, dass wir nicht nur das sind, was wir materiell scheinen, dass all dies hier seine Heimat fand – und sich hier mit konkreten Namen verbunden hat.

Es ist wahrlich, ganz nebenbei, ein wunderbares Stück Württemberg, das ich heute mit Ihnen feiern kann. Es ist so viel mehr, aber es ist auch das. Es zeigt uns, wie schön es ist, in einem Land zu leben, wo es, was die Kultur und die Künste betrifft, nirgendwo Provinz gibt, sondern wo immerfort Leben ist und Leben entsteht, wo Altes neu interpretiert, neu entdeckt und damit neu ins Leben gerufen wird. Ein Land, wo Qualitätsprodukte entstehen, die wir ganz genau bemessen können in materiellem Wert. Aber plötzlich entsteht in einem Land, das weltweit bekannt ist für seine Qualitätsprodukte aus Stahl und Elektronik, ein Qualitätsprodukt, das Menschen in höchst unterschiedlichen Lebensbezügen und Lebensbereichen und kulturellen Dimensionen erreicht. Und da ist einer, der in seinem langen künstlerischen Leben viel dazu getan hat, dass das so geschehen konnte. Wir können also auch sagen, Helmuth Rilling ist ein Botschafter der deutschen Kultur wie nur wenige andere. Vielleicht ist es deshalb auch einfach schlicht angemessen, dass der Bundespräsident, von der Ostsee kommend, heute Abend unbedingt bei Ihnen sein wollte.

Stabübergabe, das hängt auch ein bisschen mit Abschied zusammen. Wir merken gerade, wenn uns etwas ans Herz geht und wenn das Wasser höher steigt in unserem Lebensgebäude, dass wir dann dicht beim Eigentlichen sind. Und deshalb ist dieses Gefühl der tiefen Dankbarkeit, das wir hier miteinander teilen, etwas, das wir Ihnen heute Abend wie einen Blumenstrauß schenken. Darum vorhin meine Bemerkung: Ist es nicht so etwas wie ein Erntedankfest?

Denn, lieber Helmuth Rilling, Sie sind doch wirklich einer, der geschenkt hat und schenkt, der teilnehmen, aber auch teilhaben lässt. Denn es ist ja eines, etwas mehr oder etwas weniger von der Musik zu verstehen, aber noch einmal etwas ganz anderes, die Leidenschaft und die Begabung zu haben, etwas davon weiterzugeben. Das kann nicht jeder. Künstler mögen manchmal nicht darüber sprechen, was eigentlich so tief in uns und so geheimnisvoll gewachsen ist, so dass jedes Wort manchmal mehr schadet als hilft.

Und doch haben Generationen von Menschen auch durch das Wort Wege in die Musik gefunden, die ihnen kundige Menschen geöffnet haben. Eigentlich ist es ja auch nicht das Verständnis, über das wir hier sprechen. Vielmehr ist es die tiefe, wunderbare und geheimnisvolle Magie einer Person, eines Menschen, in dem sich alles Glauben und Zweifeln, alles an Musikalität, an Hingabe ans Leben und an Freude verbindet, andere mitzunehmen auf Erkenntnis- und Erfahrungswegen, auf denen man selber gewachsen ist.

All dies zusammen und noch viel mehr Unaussprechbares, Magisches, Schönes, alles begegnet uns in solch einer Person, die andere einladen kann, so Zeugnis abzulegen von der Kunst, von den Themen dieser Kunst, den Themen des Glaubens, dass plötzlich Menschen, die weder mit Kunst noch mit Johann Sebastian Bach oder mit dem christlichen Glauben etwas anfangen können, plötzlich Ohren bekommen, die hören. Einer Person, die so etwas wie ein hörendes Herz erschafft: Das ist es denn wohl, was Sie, lieber Herr Rilling, vor so vielen anderen Künstlern und Dirigenten auszeichnet.

Man kann es auch schlicht pädagogische Leidenschaft nennen. Wir freuen uns über diesen Willen, mit Musik nicht nur zu begeistern, nicht nur tiefe Gefühle anzusprechen und zu erwecken, sondern auch ein wirkliches geistiges und geistliches Verständnis dessen zu vermitteln, was da gespielt und was da gesungen wird, was da verborgen ist und nur geahnt werden kann und trotzdem hörbar wird.

Sie haben, lieber Herr Rilling, in Ihrem Leben diese, Ihre Begabung, hier in dieser Internationalen Bachakademie Stuttgart eingebracht. Sie haben dieses Werk erfunden, Sie haben auch Bachakademien in anderen Teilen der Welt gegründet oder sie stattfinden lassen, in Amerika, in Japan und nicht zuletzt auch in vielen osteuropäischen Ländern.

Das geht mich besonders an, denn ich bin zwar Deutscher, aber komme aus Osteuropa. Zufälligerweise oder schicksalhafter Weise ist der Teil, in dem ich 50 Jahre lebte, Osteuropa gewesen. Und auch da wirkte Helmuth Rilling. Ich erinnere daran, dass er uns da hinter den Zäunen und Mauern nicht einfach allein lassen wollte, sondern dass er da sein wollte, mit helfender Hand, mit seinem Esprit, mit seinen Hinweisen, mit seiner Begabung, andere auch zu Lehrern und Vermittlern zu machen, wie er einer war.

Da sind viele substanzielle, auch freundschaftliche Kontakte entstanden in den östlichen Chören und Kantoreien – Kontakte, die oftmals trotz politischer Widerstände behauptet und erkämpft wurden.

Ich will ein Beispiel nennen: Im Vorfeld dieser Veranstaltung hat mir Hartwig Eschenburg aus Rostock, aus meiner Heimatstadt, von der St.-Johannes-Kantorei ausdrücklich geschrieben, wie wichtig es war, Helmuth Rilling dort zu haben, zur Unterstützung. Ich zitiere aus seinem Brief an mich: "Dass ein so wunderbarer Mensch und Musiker uns und vielen Menschen in anderen Ostländern zur Seite stand, erfüllt mich mit einer tiefen Dankbarkeit."

Lieber Herr Rilling, es bewegt mich sehr, diesen Dank hier und heute weiterzugeben! Ich will noch etwas hinzufügen aus dieser Zeit: Als Sie nach vielen Mühen mit der Gächinger Kantorei in meiner Heimatstadt singen durften, da war das nicht ganz so einfach. Die Kirchenmusik alleine schaffte das nicht, das musste dann über staatliche Stellen gehen und endlich musizierten Sie in der Heiligen-Geist-Kirche in der Mitte von Rostock. Ich konnte nicht da sein, ich war verhindert. Ich glaube, Sie haben die h-Moll-Messe musiziert damals.

Ich weiß nicht, ob Hartwig Eschenburg unter uns ist, der kann uns das vielleicht nachher bestätigen. Ich habe auf jeden Fall mehrere Rostocker Zeugen, wissen Sie, biedere, bodenständige Menschen, Mecklenburger eben, die nach dem Konzert behauptet haben, sie hätten nicht nur engelsgleiche Stimmen gehört, sondern sie hätten Engel durch den Chorraum fliegen sehen.

Sie wollten etwas von dieser besonderen Atmosphäre eines Klangkörpers zum Ausdruck bringen, der unbedingt da sein wollte, unter ganz bestimmten politischen Bedingungen. "Jesu, bleibet meine Freude" zu singen in der kommunistischen Diktatur ist doch etwas anderes als im christlichen Württemberg. Und das spüren Menschen, die in so unterschiedlichen Situationen leben. Dass Sie hingingen an viele Stellen im Osten und mit ihrer Begeisterung Menschen gestärkt haben, das werden die, die das erlebt haben, Ihnen niemals vergessen.

Ich habe vorhin vom Erklären gesprochen. Und obwohl ich weiß, dass in den Künsten das Erklären das Uneigentliche ist, habe ich davon gesprochen, dass es auch Türen öffnet. Ich habe selber erlebt, bei Kindern und vielen Jugendlichen aus meiner Jugendarbeit, wie wichtig es war, Menschen an die Hand zu nehmen und mit dem Wort auf eine Melodie, auf eine Tonfolge, auf eine Phrase zu verweisen, die vielleicht ohne Hilfe erst Jahrzehnte später oder überhaupt nicht verstanden worden wäre. Das haben Sie anderen Menschen beigebracht. Sie haben mit Ihrer Begeisterung andere eingeladen, Ihnen auf diesen Pfaden zu folgen.

In den vielen Stationen Ihrer Dozententätigkeit sind also immer wieder Schülerinnen und Schüler begeistert und angezogen worden von dieser Art, die Bachsche Musik nicht nur zu hören und zu bewundern, sondern zu leben.

So etwas schafft man eigentlich nur, wenn man in einer Sache wirklich lebt, wenn man wirklich vertraut ist mit ihr. Früher sagte man: wenn man für eine Sache brennt. Aber das klingt mir irgendwie nicht so angemessen für diesen Augenblick des Nachdenkens. Es bedeutet aber doch einfach: Ich will eigentlich mehr als das, was ich vermag.

Früher sprach man oft davon, dass Menschen eine Mission haben. Viele, die auf den unterschiedlichen Gebieten des Glaubens, der Künste oder der Wissenschaft eine Vision hatten, einen inneren Antrieb, haben zu Beginn ihres Tuns noch nicht gewusst, wozu sie einmal fähig sein werden, was sie erfinden, was ihnen gelingen wird. Dies zu erleben, mitzuerleben, das ist das, was uns alle an Ihrem Werk so erfreut, lieber Herr Rilling. Viele, viele Menschen haben das im Laufe des Lebens gespürt, viele verdanken Ihnen den Zugang zu Bach, zur Musik. Viele verdanken Ihnen den Zugang zu einer Dimension von Lebensfreude, die einfach unersetzbar ist.

Was wird uns nicht alles angeboten von der "Amüsierindustrie". Wie viel Geld wird da hinein gesteckt, Menschen durch Fun irgendwie fröhlicher zu machen. Meistens gelingt es nicht, weil zu der wirklichen Freude eine gewisse Tiefe gehört. Und wie erreichen wir die, wenn wir ewig an unserem Kern vorbei schauen? Ach, ich könnte noch so viel sagen. Aber Sie wissen ja, ich bin kein Musikfachmann. Ich will von all den Menschen sprechen, die, ob Musikfachfrau oder nicht, genau wissen, dass sie ein Herz haben und dass dieses Herz mitunter Impulse braucht, die es von woanders her nicht bekommt. Das ist das Besondere an den Künsten, das ist das Besondere auch am Glauben – dass uns etwas gegeben wird, das uns andere nicht zu geben vermögen. Ihr Lebensthema war und ist Johann Sebastian Bach. Und ich gehörte zu den Menschen, die gelernt haben, dass, soviel man ihn auch studiert und musiziert hat, man immer wieder Neues entdecken wird in seinem gewaltigen Werk.

Lieber Helmuth Rilling, es war also nicht aus Versehen, dass Sie der erste waren, der alle geistlichen Kantaten eingespielt hat und schließlich auch der erste, der das Gesamtwerk Bachs eingespielt hat. Man könnte fast sagen: Vielleicht sind Bach und Rilling irgendwie Zwillinge. Helmuth Rilling hat natürlich nie Zweifel daran gelassen, wer das eigentliche Genie ist und er weiß, dass jede Interpretation ein dienender Vorgang ist – Dienst am Werk und Dienst an uns, den Hörern.

Auch haben Sie Bach nie monopolisiert, Sie haben seine Werke nicht zu Belegexemplaren einer unfehlbaren Bach-Auffassung degradiert. "Ihr" Bach war immer so angelegt, dass er "unser" Bach werden konnte.

Heute nun ist Stabübergabe an Professor Rademann. Wir freuen uns, wir wünschen ihm alles Gute, wir in Berlin kennen ihn gut. Und wir wünschen ihm eine wunderbare, erfolgreiche Zeit.

Aber dieses musikalische Fest heute, das wir miteinander feiern, das würdigt ein außerordentlich intensives künstlerisches Leben. Wir würdigen eine künstlerische Existenz, deren Wirkung auf so viele noch gar nicht abgeschätzt werden kann.

Was wir aber sagen können, was wir immerzu und von Herzen sagen und was ich als privater Musikliebhaber und ganz bewusst als Bundespräsident im Namen unseres Landes sage, ist: Danke für alles, lieber Helmuth Rilling.