Ansprache des Bundespräsidenten beim zweiten Tag des Bürgerfestes 2013

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 31. August 2013

Der Bundespräsident hat am 31. August die Bürgerinnen und Bürger mit einer Ansprache auf dem Bürgerfest des Bundespräsidenten 2013 begrüßt: "Es gibt eine Einstellung, die für die nächsten Stunden besonders hilfreich sein kann: Offenheit für Neues, Offenheit in Geist und Gemüt. Unsere Bürgergesellschaft lebt zwar davon, dass wir Bewährtes schützen und erhalten, aber weiterentwickeln können wir uns als Gemeinschaft nur dann, wenn wir auch Neues zulassen und uns von überholten Denkmustern frei machen."

Bundespräsident Joachim Gauck begrüßt die Gäste auf dem Bürgerfest des Bundespräsidenten 2013

Herzlich willkommen Ihnen allen! Das sind zwei besonders schöne Tage, die Daniela Schadt und ich hier im Garten und im Park von Schloss Bellevue verbringen dürfen. Besonders schön, denn Sie haben uns beiden, Daniela Schadt und mir, schon einen Wunsch erfüllt: Sie sind unserer Einladung gefolgt, und darüber sind wir glücklich und danken Ihnen sehr! Wir haben uns auch alle ein bisschen bemüht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes und viele andere fleißige Helfer: Es sind fünf Kilometer Kabel verlegt, 12.000 Würstchen liegen oder lagen bereit und 20.000 Miniwindbeutel. Aber wie viele Gäste dann wirklich da sind, an so einem Tag der offenen Tür, das bleibt eine Überraschung – eine sehr schöne, wie wir finden. Denn das letzte Mal, als wir ein Bürgerfest der Ehrenamtlichen mit einem Bürgerfest der offenen Tür verbunden haben, waren wir überwältigt von der Begegnung mit so vielen Ehrenamtlichen und interessierten Menschen. Das hat uns glücklich gemacht, und das wird in diesem Jahr ganz gewiss genauso sein.

Im Mittelpunkt dieses Bürgerfestes stehen nämlich Sie, die Bürgerinnen und Bürger. Wir haben vor einiger Zeit überlegt, ob wir diesem Fest, das nun zum zweiten Mal unter der Rubrik Bürgerfest stattfindet, einen besonderen Titel geben sollten, ein Motto. Mein Gefühl war: Nein, das brauchen wir dieses Jahr nicht, die Ereignisse des Jahres 2013 sprechen für sich. Die Frage, was eine Bürgergesellschaft leisten kann und leisten soll, ist allgegenwärtig. Es gibt so viele Themen für dieses Treffen – zwischen Windbeutel und Würstchen werden uns die Überschriften sicher einfallen. Ich nenne mal ein paar Stichpunkte, Ereignisse des zurückliegenden Jahres. Ich denke zum Beispiel an die vielen Menschen, die als Fluthelfer aktiv geworden sind. Das gehörte zum Stärksten, was wir 2013 an Bürgersinn erlebt haben. Für uns auch noch ein besonderer Akzent: Ja, das machen wir für alle die Menschen, die damals aktiv waren! Eine Besonderheit der Hilfsbereitschaft, die es bei anderen Katastrophen auch schon gab, war diesmal, dass sich ohne jede Aufforderung einzelne Gruppen junger Leute übers Netz verabredet haben: Ich gehe dort und dort hin, ich will helfen – und spontan sind dann bei vielen Studenten und anderen jungen Menschen solche Bündnisse entstanden. Es gab gar keine Organisation, aber es war dann doch Hilfe, die von fachkundigen Ehrenamtlichen sehr schnell koordiniert wurde. Das war sehr eindrucksvoll, weil wir gespürt haben, dass es auch Menschen gibt, die gar nicht eingebunden waren in die traditionelle Form der ehrenamtlichen Arbeit, die aber das Gefühl haben: Mensch, wir gehören doch dazu. Das sind doch unsere Nachbarn oder unsere entfernten Mitbürger, die gerade Not leiden. Das war doch sehr interessant zu erleben in einer Gesellschaft, die oft als sehr egozentrisch und desinteressiert dargestellt wird.

Jetzt noch etwas anderes. Wir könnten natürlich nur Dinge aufzählen, auf die wir stolz sein können und das tue ich auch gerne bei solchen Anlässen. Sie werden hier auch viele Zelte finden und Begegnungsmöglichkeiten mit Menschen haben, deren pure Existenz Grund zur Freude ist.

Aber es gibt in unserer Gesellschaft auch Bereiche, in denen wir noch Aufholbedarf haben, da denke ich besonders an die Bildung. Und daran denke ich, weil ich gestern eine gewisse Anzahl von Lesepaten getroffen habe. Aber der Zustand gerade in unserem Bildungssystem ist so, dass wir noch mehr Aktivitäten entwickeln müssen, um möglichst viele Menschen, die aus bildungsfernen Schichten kommen, auch abzuholen und einzuladen, ihnen Aufstiegsmöglichkeiten zu geben. Das kann man mit Lesepatenschaften allein nicht, da müssen auch staatliche Instanzen Aktivitäten entwickeln, und es gibt auch eine breite Debatte darüber, wie wir im pädagogischen Bereich die Integration der Vielen und Mitwirkung möglichst Vieler erreichen können. Wir haben auf vielen Feldern übrigens beides: Anlass für Verbesserung und zugleich Grund für tausendfachen Dank an all diejenigen, die sich in unserem Land bürgerschaftlich engagieren. Aus dieser Mischung wollen wir auch heute etwas machen!

Wir: Damit meine ich in diesem Fall nicht nur Daniela Schadt und mich, sondern auch die zahlreichen Partner, die dieses Fest gemeinsam mit uns vorbereitet haben, die den Park mit Leben füllen und Ihnen, liebe Gäste, einen Tag schenken wollen, der im Gedächtnis bleibt und der Sie vielleicht auch zum Selbermachen oder zum Mitmachen anregt. All unseren Partnern, all denen, die uns helfen und zwar mit guten Ideen, mit der Präsentation dessen, was sie geleistet haben, aber auch mit finanzieller Unterstützung, all denen ein herzliches Dankeschön!

Wir haben versucht, so viele Themen wie möglich für Sie greifbar zu machen: Da ist das Ehrenamt in allen Formen, Engagement im Sport, in Kunst und Kultur, aber auch soziale Arbeit für und mit verschiedenen Altersgruppen, Projekte in der Nachbarschaft oder Projekte in der weiten Welt. Wer Experten oder frische Ideen sucht, wer die Adresse einer Freiwilligenagentur oder Ratschläge für ein Austauschjahr aus erster Hand bekommen möchte, der wird heute hier im Park Bellevue fündig. Das gilt auch für diejenigen, die den Wagemut der Sportpiraten kennen lernen wollen, oder die sich fragen, was man tun sollte, wenn man in einem Lausitzer Wald einem Wolf begegnet.

Es gibt eine Einstellung, die für die nächsten Stunden besonders hilfreich sein kann: Offenheit für Neues, Offenheit in Geist und Gemüt. Unsere Bürgergesellschaft lebt zwar davon, dass wir Bewährtes schützen und erhalten, aber weiterentwickeln können wir uns als Gemeinschaft nur dann, wenn wir auch Neues zulassen und uns von überholten Denkmustern frei machen.

Bürgersein braucht Bürgersinn! So einen Sinn kann man schlecht verordnen oder erzwingen, er muss in uns – und mit uns – wachsen. Deshalb freut es mich sehr, dass heute auch so viele junge Menschen unter uns zu Gast sind.

Ich selber habe am Donnerstag eine Begegnung mit jungen Leuten gehabt, als ich im Oberstufenzentrum in Berlin-Kreuzberg war und Schülerinnen und Schüler – alle über 18 Jahre alt – getroffen habe, und dort haben wir darüber diskutiert, ob es sich lohnt, zur Wahl zu gehen. Die meisten von denen hatten natürlich ihren Stoff aus dem Fach Sozialkunde parat, aber genauso deutlich haben mir einige auch gesagt, dass sie nicht sicher sind, ob und wie sie am 22. September ihr Wahlrecht wahrnehmen wollen. In solchen Augenblicken helfen abstrakte Vorträge über politische Teilhabe nicht so richtig weiter. Die Schüler haben mich dann zum Beispiel unter anderem auch um eine persönliche Antwort gebeten, obwohl – oder vielleicht gerade weil – ich mein Verhältnis zur Demokratie in einer Zeit gestaltet habe, als ich gar nicht in einer Demokratie lebte. Es war die Zeit, als es die DDR noch gab und die deutsche Teilung. Das kennen die jungen Leute nur aus dem Geschichtsbuch. Aber für mich ist das Lebenswirklichkeit gewesen, und so fragten sie mich – 500 junge Leute, die da in der Aula zusammensaßen – wie es mir denn erging, und ich musste auf die Zeit zurückkommen, die für mich politisch eine Zeit der unerfüllten Sehnsucht war – eine Zeit, als Millionen Deutsche mit Unfreiheit und Unrecht konfrontiert waren. Als ich in einem Land lebte, das sich zwar Republik nannte und als Demokratie bezeichnete, tatsächlich aber eine Diktatur war. Eine Zeit, die dann zu Ende ging durch die Menschen, die sich 1989 mutig zusammengeschlossen haben, ihrer Angst den Abschied gegeben und sich selber als Bürger definiert haben! Das hat uns dann dazu gebracht, dass wir an einem schönen Sonntag im März 1990 zum ersten Mal nach so langer Zeit dort im Osten freie, geheime und gleiche Wahlen hatten. Es war der Tag, an dem ich beschlossen habe: Ich werde nie wieder eine Wahl versäumen.

Eine solche Geschichte erzähle ich manchmal, und ich weiß dabei genau, dass, wenn ich die Geschichte erzähle, auch Menschen teilhaben können an meinen Gefühlen, doch gleichzeitig kann ich sie mit dem Publikum nicht teilen. Gerade mit den Jugendlichen nicht. Es ist so eine ganz andere Zeit, in der sie ihre Entscheidungen fällen müssen. So kann man schwer versuchen, die eigene Prägung einfach in andere Herzen und andere Hirne hinein zu kopieren. Das wird kaum gelingen. Aber indem wir über uns, unseren Weg in einer aktiven Bürgergesellschaft, unser Ja zur Freiheit und zur Demokratie sprechen, da vermögen wir doch Anstöße zu geben – ja, das können wir. Und wir können auch Beispiele geben, das können wir auch. Und wenn wir das nicht tun, dann verschenken wir etwas, was in unseren Möglichkeiten der Mitgestaltung liegt. Ich weiß, jede Generation muss ihren eigenen Weg finden, ihre eigenen Motive haben, ja zu sagen zu unserer freiheitlichen Demokratie. Wer heute jung ist, hat das große Glück, aber auch die große Aufgabe, jenseits der Grenzen von gestern zu leben. Unser Gespräch über Demokratie machte uns deutlich: Je öfter wir den Blick in die große weite Welt richten, desto deutlicher spüren wir, dass es unangemessen und kleinmütig ist, wenn wir uns in der deutschen Politikverdrossenheit einrichten.

Der Blick in die Ferne lehrt uns also einerseits, was eine Demokratie Gutes aus einem Land machen kann. Wir erleben dieses Gute, gleichzeitig aber lassen wir uns dadurch nicht den Blick vernebeln dafür, dass wir die Situation im eigenen Land nur dort wahrnehmen, wo sie gut ist. Unsere Demokratie bleibt vital und lernfähig, wenn wir erkennen, wo Veränderung notwendig ist. Wenn wir erkennen, wo Demokratie und Rechtsstaat nachjustiert werden müssen. Wenn wir auch offensichtliche Schwächen des demokratischen Systems erkennen und verbessern.

Und als Bürger hat man nun jeden Tag die Wahl: an Verbesserungen mitzuwirken, durch Debattenbeiträge oder eigenes Tun, als Wählerin oder Wähler oder nur abseits zu stehen und nur zu konsumieren und zu meckern. Man kann zum Beispiel ausgiebig kritisieren, dass Politiker nicht richtig zuhören, dass Politiker falsch entscheiden, dass sie zu langsam oder überhaupt nicht ans Ziel kommen. Das alles ist manchmal angemessen, aber manchmal ist es auch wohlfeil, und oft ist es schlicht auch realitätsfern. Aber es ist immer möglich, dass wir uns einmischen, weil wir dieses wunderbare Element unserer demokratischen Meinungsfreiheit haben. Ich erinnere mich an Zeiten in Deutschland, und heute noch an Situationen in anderen Ländern, wo man für diese offene Debatte ins Gefängnis gekommen oder diskriminiert worden wäre.

Wer heute Alternativen fordert, kann auch das eigene Handeln zum Maßstab machen. Er kann einen Bürgerbrief schreiben, sie kann für den Gemeinderat kandidieren, er kann in einer Gewerkschaft aktiv werden, sie kann eine Bürgerinitiative gründen, oder wir alle – falls wir es für notwendig halten sollten – eine neue Partei. All das findet regelmäßig und ohne Verbot in unserem Land statt und ist genauso Ausdruck unserer Demokratie wie die Beteiligung an den Wahlen am 22. September.

Ich wurde in den letzten Wochen oft gefragt, warum ich eine hohe Wahlbeteiligung für wichtig halte: Ich möchte gerne einen Bundestag, der einen großen und breiten Rückhalt von den Bürgern dieses Landes durch hohe Wahlbeteiligung errungen hat. Unsere Abgeordneten brauchen ihren Rückhalt, und jeder Wahlberechtigte, jede Wahlberechtigte, die eine Stimme abgibt, bezieht Position. Wer nicht wählt, der lässt seine Position einfach offen und aus manchem Bürger wird so einer, der sich freiwillig zur politischen Ohnmacht verurteilt. Darin sehe ich keinen Sinn. Viele Menschen sagen, und das kann ich auch nachvollziehen, dass keine Partei sie völlig überzeugt. Sie könnten sich also nicht entscheiden. Ja so was kommt vor, das haben Sie alle schon gehört. Aber es gibt doch einen sehr einfachen Weg in dieser Situation: Wer nicht weiß, wer der Beste ist, der wählt eben das weniger Schlechte. Und in dem Moment ist man dabei. Man ist dabei als Akteur und nicht nur als Zuschauer.

Also, das ist ganz klar, dass ich nach diesen Worten einen Appell an Sie richte: Gehen Sie zur Wahl! In einer Bürgergesellschaft sollten Desinteresse und Wahlenthaltung die Ausnahme bleiben und nicht zur Regel werden. Sonst verliert selbst eine robuste Demokratie wie unsere ihre Leistungsfähigkeit.

Gestern habe ich den Ehrenamtlichen, die ich hier eingeladen hatte, zum Abschied noch ein neues Ehrenamt zugewiesen. Ich kann Sie dazu nicht verpflichten, aber ich kann Sie bitten, und das werde ich bei dieser Gelegenheit mit Ihnen auch machen. Ich weiß nicht, ob Sie jemand sind, der ehrenamtlich irgendwo tätig ist. Aber ein Ehrenamt sollten Sie sich bis zum 22. September überlegen: aus Ihrer Nachbarschaft, Ihrem Umfeld, von Ihrer Arbeitsstätte, eine Person mitzubringen, die mit Ihnen gemeinsam zur Wahl geht und auch wählt. Wäre das nicht was?

Ich habe zu Beginn von den Würstchen und Windbeuteln gesprochen, die hier auf Sie warten. Auf Sie warten auch Musik und interessante Themen. Aber diesen kleinen Auftrag, den möchte ich Ihnen eigentlich doch gerne mitgeben.

Wir hoffen jedenfalls, dass viele von Ihnen ein Stück Ermutigung mit nach Hause nehmen, weil Sie hier sehen:

Es lohnt sich, in diesem Land die eigene Stimme zu nutzen, die eigene Existenz einzubringen, nicht nur am Wahltag, aber eben auch am Wahltag. Es lohnt sich, Gestalter und nicht nur Konsument zu sein. Es lohnt sich, wenn Bürgersinn das Bürgersein beflügelt.

Herzlichen Dank!