Eröffnung des akademischen Jahres an der Europa-Universität Viadrina und am Collegium Polonicum

Schwerpunktthema: Rede

Słubice/Polen, , 18. Oktober 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 18. Oktober zur Eröffnung des akademischen Jahres an der Europa-Universität Viadrina und am Collegium Polonicum eine Rede gehalten: "Jeder neue Weg ist ja auch ein Wagnis. Nachdem wir viele Etappenziele erreicht haben, darf gern Dankbarkeit einkehren, aber bitte keine selbstzufriedene Trägheit, keine ängstliche Besitzstandswahrung. Auch im Jahr 2013 braucht Europa Mut und Bewegung, mit anderen Worten: Europa braucht Leidenschaft!"

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache bei der Eröffnung des Akademischen Jahres am Collegium Polonicum und an der Europa-Universität Viadrina

Ein kleines Vorwort: Jetzt spricht nicht der Präsident, sondern ein Ossi. So nennt man neudeutsch die Ostdeutschen. Die meisten Deutschen sind keine Ossis, sondern Wessis, weil die Mehrheit der Deutschen im Westen aufgewachsen ist. Aber, meine Damen und Herren Studentinnen und Studenten, Sie sind rund 20 Jahre alt, ein wenig darüber, und ich will Ihnen von einer Zeit erzählen, als Präsident Komorowski und ich – oder unsere Botschafter, Herr von Fritsch oder Herr Margański, – als wir in einer anderen Zeit lebten. Da gab es hier noch eine ziemlich dichte Grenze. Solche Einrichtungen wie das Collegium Polonicum gab es nicht. Aber es gab eine merkwürdige Rede bei uns in Ostdeutschland über unsere polnischen Nachbarn. Sie waren unser Brudervolk, wahlweise auch das sozialistische Brudervolk. Einige wenige ältere Ossis, die es hier gibt, erinnern sich vielleicht an diesen Sprachgebrauch.

Von diesem Brudervolk wurden wir allerdings phasenweise durch eine dichte Grenze getrennt. Als Solidarność aktiv wurde und viele Ostdeutsche sich umschauten: Was geht denn da los? Da war die Trennung zwischen Brudervolk und Brudervolk besonders intensiv. Man sprach auch gar nicht mehr von Brudervolk, sondern das waren dann "die Polen".

Und jetzt, als ich vorhin die Rede des Herrn Rektors hörte und Ihnen zuhörte, Herr Präsident, da dachte ich, mein Gott, Brudervolk: gibt es doch, geht doch. Und das finde ich so schön, wenn ich hierher komme und sehe so eine akademische Verbrüderung, sehe die vielen Netzwerke, die sich hier treffen. Da habe ich ein ganz kreatürliches, bürgerschaftliches, ostdeutsches Empfinden. Das war mein erster Gruß an Sie.

Aber der Präsident hat natürlich auch noch etwas zu sagen. Und das fängt jetzt ganz förmlich an: Dzień dobry! Guten Tag! – Ihnen hier in Słubice und Ihnen drüben auf der anderen Seite der Oder. Ich habe schon viele Brückenschläge erlebt zwischen Deutschland und Polen, und der Präsident und ich, wir waren auch schon gemeinsam als Brückenbauer tätig. Aber eine Rede mit Videokonferenzschaltung, das ist auch für mich eine Premiere – und eine extravagante: zwei Standorte, zwei Botschafter und gleich mehrere Präsidenten, die zu Beginn des Akademisches Jahres den Lehrenden und Lernenden ihre guten Wünsche übermitteln! Herzlichen Dank, dass ich mit Präsident Komorowski zusammen Teil dieser europäischen Ouvertüre sein darf.

Das eigentliche Stück, die tragende Melodie für dieses neue Jahr, werden Sie schreiben, liebe Studierende. Es liegt ganz bei Ihnen, ob dabei ein leises, eher unspektakuläres Werk entsteht oder ob intensive, lange nachhallende Töne in die Welt hinaus klingen. Ich glaube, Europa könnte ein starkes Konzert der Überzeugten sehr gut vertragen. Wir brauchen junge Menschen, die sagen: Diese Union, diese Gemeinschaft Europa, sie bedeutet mir etwas, deshalb bleibe ich nicht still, sondern bringe mich ein – auch wenn die Vielstimmigkeit manchmal äußerst mühsam, auch dissonant klingen kann.

Europa braucht eine neue Generation von leidenschaftlichen Europäern!

Das wünsche ich mir im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass man Leidenschaft weder verordnen noch vererben kann. Menschen meines Alters haben eine Leidenschaft für Europa entwickelt, die untrennbar verbunden ist mit den Zeitläufen, in denen wir gelebt haben oder unsere Eltern. Herr Komorowski und ich, wir sind selber schon nicht mehr Kriegsteilnehmer. Aber wir sind noch sehr dicht dran an diesem Geschehen, und deshalb ist für Menschen unserer Generation Europa immer verbunden mit dem Gedanken des glücklichen Friedens. Wir können nicht anders, als diese innere Verbindung in uns immer wieder zu bezeugen. Die Dankbarkeit für Frieden und Freiheit wird für mich also immer an erster Stelle stehen. Das lässt sich auch durch keine aktuelle Nachricht aus Brüssel oder keine Problemanzeige verändern. Allerdings: Was für Präsident Komorowski und mich eine so große Rolle spielte und bis heute spielt – die Verletzungen in der Geschichte, dann die Versöhnung, die die Kriegs- und Nachkriegszeit prägte, die kommunistische Diktatur und die Sehnsucht nach Freiheit, der Kampf für Bürgerrechte und der politische Wille zum Wandel – all das kennen 18- oder 20-jährige nur aus den Geschichtsbüchern oder aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Und dabei erzählen die Eltern und Großeltern ja durchaus Unterschiedliches. So kenne ich das aus meiner Heimatstadt Rostock. Ganz abhängig davon, wo man in der früheren Gesellschaft agierte, oben oder unten, gab und gibt es ganz unterschiedliche Arten von Erzählungen, die Sie, die jungen Leute, dann bewerten müssen. Hören, bewerten und abfragen – es ist wichtig, dass Sie die Perspektiven diskutieren, die Ihnen begegnen.

"Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen" – Ich bin dankbar für diese Überschrift im Programm, die ich gerne aufnehmen werde. Meine erste Frage wird dann übrigens lauten: Wie weit genau wollen wir eigentlich in die europäische Vergangenheit zurückgehen, bis ins antike Griechenland etwa oder bis zum Wiener Kongress oder bis 1945 oder 1989/90? Auch das wäre ja, meine Damen und Herren aus den ersten Semestern, lange vor Ihrer Zeit. Sie wissen vielleicht, dass mir dieses jüngste Stück europäischer Geschichte, europäischer Veränderungsgeschichte, gefühlsmäßig besonders nah ist.

Anfang des Monats, am 3. Oktober, haben meine Landsleute zum 23. Mal den Tag der Deutschen Einheit begangen. Das ist unser Nationalfeiertag. Und bald werden wir in Deutschland, in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas 25 Jahre der Friedlichen Revolution feiern. Bei solchen Anlässen wird uns gegenwärtig: So vieles haben wir damals bewältigt, weil wir trotz aller Unwägbarkeiten entschlossen – ja: leidenschaftlich – auf Veränderung gesetzt haben! Weil wir Veränderung wollten! Wer hätte 1989 oder 1990 gedacht, dass Słubice und Frankfurt/Oder zwei Jahrzehnte später eng verbundene Nachbarn in einem neuen Europa sein würden? Dass es 2013 sogar bilinguale Kitas oder eine Bürgerinitiative für eine gemeinsame Straßenbahnlinie geben könnte? Wer hier in der Zwillingsstadt studiert, kann im Alltag eine Art europäische Feldstudie durchführen. Vor allem den Erstsemestern möchte ich ans Herz legen: Betrachten Sie die Oder-Region nicht nur als schönes Ausflugsziel, sondern als aufschlussreiches Studienobjekt! Das beginnt mit bilateralen Unternehmerinitiativen ganz in der Nähe und reicht gut 100 Kilometer stromabwärts, in Richtung Schwedt, wo gerade ein deutsch-polnisches Musical mit dem Titel "Romeo und Julia" und Liedern von Michael Jackson Premiere hatte. All das ist hier, in dieser Grenzregion, inzwischen Alltag, gemeinsamer Alltag. Und zu diesem Alltag gehört übrigens auch, dass junge polnische Familien aus Stettin nun in Vorpommern oder in der Uckermark Dörfer neu beleben, oder dass sich die Zahl der Übernachtungen polnischer Touristen in Brandenburg seit 2006 verdoppelt hat. Ich finde: Auch darin zeigt sich so etwas wie ein europäisches Lebensgefühl, das wir in akademischen Aufsätzen und politischen Reden ja so oft beschwören.

Was wir heute als Normalität erleben, war damals – 1989/90 – utopisch. Und trotzdem haben sich die Menschen beiderseits der Oder aufgemacht. Im Rückblick fällt es leicht, die vielen einzelnen Schritte in Richtung Europa nachzuzeichnen, am liebsten schön rational in einer Chronik. Allerdings vergessen wir zuweilen: Wer sich in neue Gefilde bewegt, hat immer auch ein gewisses Risiko im Gepäck. Jeder neue Weg ist ja auch ein Wagnis. Nachdem wir viele Etappenziele erreicht haben, darf gern Dankbarkeit einkehren, aber bitte keine selbstzufriedene Trägheit, keine ängstliche Besitzstandswahrung. Auch im Jahr 2013 braucht Europa Mut und Bewegung, mit anderen Worten: Europa braucht Leidenschaft!

Wie können wir sie neu entfachen? Ihre Generation, liebe Studierende, hat das Privileg, in eine politisch vergleichsweise entspannte Zeit hineinzuwachsen. Aber denken Sie deshalb bitte nicht, dass keine großen Gestaltungsaufgaben, keine Spannungen ganz neuer Art auf Sie warten. Die schwierige Situation etwa im Süden Europas und der demografische Wandel im Norden, das sind nur zwei von vielen Herausforderungen, vor denen wir in Europa stehen. Debattiert werden diese Themen natürlich, allerdings zumeist von einer interessierten Minderheit. Bislang fehlt die Kraft, solche Probleme mit dem nötigen Nachdruck auch zu lösen und nicht nur zu debattieren. Können uns die Erfahrungen der Vergangenheit dabei helfen? – durchaus. Was für Präsident Komorowski die Solidarność und was für mich die Demokratiebewegung im Herbst und Winter 1989 war, das lässt sich zwar nicht einfach auf die Gegenwart übertragen, aber die leidenschaftlichen Überzeugungen, die damals die Tagespolitik bestimmten, die brauchen wir auch heute. Europa mag ja inzwischen Alltag sein, für die junge Generation wie Sie sogar Selbstverständlichkeit. Trotzdem brauchen wir in diesem Alltag auch außergewöhnliche Anstrengungen. Europa muss uns diese Anstrengungen wert sein!

Wer – wie Sie – an einer Europa-Universität studiert, hat beste Voraussetzungen, um Außergewöhnliches zu leisten. Streben Sie nicht nur nach einer guten Abschlussnote oder nach einer gut bezahlten Stelle, streben Sie auch danach, Ihr Können eines Tages für Europa in Wert zu setzen. Die Imperative liegen auf der Hand. Man muss zum Beispiel nicht unbedingt Volkswirtschaftslehre studieren, um vorherzusehen, dass uns dringende ökonomische Fragen in Europa noch eine ganze Weile beschäftigen werden. Gerade deshalb stünde es der Europäischen Union gut zu Gesicht, wenn mehr Volkswirte, überhaupt mehr Akademiker darauf vorbereitet wären, die komplexen Fragen europäischer Politik aufzugreifen und dann in Straßburg oder in ihren Heimatparlamenten besonnene Entscheidungen zu treffen. Das gilt für unsere Finanzen genauso wie für die nicht in Geld auszudrückende Lebensqualität, die in Studiengängen wie Umweltschutz oder Raumwirtschaft im Mittelpunkt steht.

Oder angehende Juristen könnten bei einer Spezialisierung auf Europa Innovationen anbahnen – seien es nun institutionelle Reformen in Brüssel oder eine maßgeschneiderte Vor-Ort-Lösung für die Straßenbahn, die eines Tages über die Oder, also durch zwei Rechtssysteme fahren soll. Ganz abgesehen von solchen speziellen Weichenstellungen: Nahezu jeder Lebensbereich ist heute vom europäischen Recht durchdrungen. Und jeder weitere Integrationsschritt fordert Kreativität und Gestaltungswillen, um die damit verbundenen Rechtsfragen zu lösen. Dafür brauchen wir mehr Europa-Experten und mehr Europa-Entschlossene. Ich möchte möglichst viele von Ihnen ermutigen: Machen Sie Europa zu Ihrem Thema, zu Ihrer Leidenschaft!

Die Kultur- und Sprachwissenschaftler würden jetzt bestimmt gern hören, dass auch ihnen viele Türen offen stehen, wenn Sie Arbeit suchen. Die realen Angebote auf dem Stellenmarkt für sie sind bekanntlich überschaubar, das muss man im Blick haben und das wollen wir auch nicht übersehen. Aber es wäre schlimm, würden sich alle davon abhalten lassen, diese Fächer zu studieren, liebe Jung-Europäer. Denn erstens lohnt es sich immer, das zu studieren, was einem liegt und was einem am Herzen liegt, und nicht das, was derzeit als gefragt gilt. Und zweitens findet man manche Türen nicht auf Anhieb, weil man sie sich selbst erst zimmern muss. Irgendwann kommt man dann auch durch! Ich glaube, wer hier im Collegium Polonicum oder an der Viadrina erfolgreich ist, wird nach der Theorie auch die Praxis bewältigen.

Sehr geehrte Damen und Herren Professoren und Fachkräfte, ich danke Ihnen allen sehr herzlich, Ihnen, die jedes Jahr aufs Neue die Studierenden auf ihrem Weg unterstützen und die mit ihrem Einsatz diesen sehr besonderen Wissenschaftsstandort zu dem gemacht haben, was er heute ist. Sie haben Stunden, Semester und Lebensjahre investiert, nicht zuletzt D-Mark, Złoty und Euro, die für eine Stiftungsuniversität und ihre Projekte ja besonders bedeutsam sind.

Mein großer Dank gilt außerdem der Universität von Poznań. Sie demonstrieren hier eine eindrucksvolle Partnerschaft. Vielleicht – ich kann mir das jedenfalls gut vorstellen – könnte diese Kooperation der Ausgangspunkt einer Deutsch-Polnischen Hochschule sein, die ähnlich funktioniert wie die vor einigen Jahren gegründete Deutsch-Französische Hochschule, als Verbund. Das mag für den einen oder anderen jetzt vielleicht etwas zu ambitioniert klingen, aber wir wollen es aussprechen, sehr ernsthaft und auch durchaus leidenschaftlich. Verehrte Herren Präsidenten – hier in Słubice und dort in Frankfurt/Oder – ich würde mich freuen, wenn die Gespräche über diese Idee immer intensiver werden würden.

Ich habe noch ein Gesprächsthema auf meiner Liste: Ich möchte unsere polnischen Partner gern fragen, was wir auf deutscher Seite bei der Alumni-Förderung besser machen könnten, vielleicht sogar besser machen sollten. In Polen wie in vielen anderen Ländern hält die mentale Verbindung zu der Universität, an der man studiert hat, oft weit über den Abschluss hinaus, man ist stolz auf seine akademische Herkunft und spricht gern darüber. Ich glaube, diese Art von Selbstbewusstsein würde auch der Viadrina und ihren Netzwerken gut tun. Wir brauchen mehr Alumni, die sagen: Ich verstehe mich ein Leben lang als ideeller Botschafter meiner Hochschule. Und wenn ich kann, dann gebe ich sogar einen materiellen Dank zurück.

Leidenschaft auf Dauer zu erhalten ist eine große Kunst. Ich wünsche dem Collegium Polonicum und der Viadrina für das neue Akademische Jahr, dass diese Kunst gelingt – in Europafragen genauso wie in eigener Sache. Die Ouvertüre heute scheint mir jedenfalls vielversprechend. Verehrte Lehrende, verehrte Lernende: Haben Sie auch künftig keine Scheu vor schwierigen Themen und notwendigen Debatten. Wagen Sie etwas in Ihrem Fach und in Ihrer Forschung! Und finden Sie dabei nicht nur Erkenntnis, sondern hoffentlich auch Erfüllung. Das wünsche ich Ihnen als Europäer und als freundschaftlich gesinnter Nachbar.