Eröffnung des Bellevue Forums "Was hält Europa zusammen?"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 26. November 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 26. November das Bellevue Forum "Was hält Europa zusammen" mit einer Rede eröffnet: "Wir Europäer dürfen uns nicht entmutigen lassen. Wir alle, die Bürgerinnen und Bürger, nicht nur die Politiker, tragen Verantwortung dafür, das Verbindende zu stärken. Was ich mir wünsche, das sind Empathie und gegenseitiges Interesse. Nur so kann doch Vertrauen wachsen und nur so wird Solidarität möglich bleiben."

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede im Rahmen des Bellevue Forums 'Was hält Europa zusammen?"

Herzlich willkommen im Schloss Bellevue! Heute werden wir wieder Zeugen einer Verwandlung, wie wir sie hier öfter erleben. Dann ist das Schloss plötzlich ein Forum, ein Ort der offenen Diskussion, der Begegnung von Menschen, die sich etwas zu sagen haben. Sie dürfen sich das ruhig einmal vorstellen unter dem Begriff der Agora. Hier sieht es zwar etwas anders aus als auf einem Marktplatz, aber heute zählen bei unserer Begegnung weder Herkunft noch Hierarchie. Es geht um Argumente, um das bessere Argument. Wir wollen Meinungen austauschen und Ideen entwickeln. Und wir wollen voneinander lernen.

Das Nachdenken über Europa hat Tradition hier in diesem Haus. Ich habe im Winter dieses Jahres in diesem Raum angefangen mit einer Europarede, und wir haben dem Thema weiteren Raum gegeben, indem wir uns hier mit Studierenden getroffen haben, um über die Perspektiven Europas zu diskutieren.

Das Echo auf meine Rede und die Veranstaltung mit den jungen Leuten haben mich spüren lassen, dass die Europäische Union die Menschen nicht völlig kalt lässt. Viele haben ja das Gefühl, dass es in der Krise eine totale Abwendung von Europa als großem verbindendem Projekt gibt. Aber das ist nicht der Fall, auch wenn wir in einer schwierigen Phase sind. Ich freue mich im Übrigen, dass ich einige von den jungen Leuten nachher wiedertreffen werde. Da wird sich dann sicher manches angefangene Gespräch fortsetzen lassen.

Das Thema, das wir uns für heute vorgenommen haben, hat es nun allerdings in sich. Und es ist ebenso verzwickt wie relevant: Was hält uns zusammen in Europa? Aber was treibt uns auch auseinander? Gibt es schon so etwas wie ein Wir-Gefühl, eine Wir-Identität der Europäer? Auf welche normativen und kulturellen Fundamente können wir bauen, wenn wir Europa gemeinsam gestalten wollen? Welche Verantwortung trägt unser Land, trägt Deutschland in diesem Prozess?

Heute soll es um aktuellere und in der Krise neu aufgetauchte Probleme gehen. Denn eins ist ganz klar: Auf das eine umfassende Reformkonzept können sich die europäischen Länder nicht einigen. Das ist ganz offenkundig. Ebenso wenig gibt es die eine europäische Erzählung, auf die sich alle Europäer verständigen könnten. Dieses Element einer gemeinsamen, identitätsstiftenden Erzählung, dass für viele Völker bei der Bestimmung ihrer Identität so wichtig ist, das haben wir nicht für uns alle gemeinsam, zumindest noch nicht.

Die Europäische Union wird aus ganz verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, unterschiedlich von Generation zu Generation, unterschiedlich auch von Land zu Land. Von den Botschaftern, die heute Abend unsere Gäste sind, vertreten einige Länder, die von Anfang an dabei waren. Andere vertreten Länder, die spät dazugekommen sind, jetzt aber auch schon seit mehr als zehn Jahren dabei sind. Das ist ein Beispiel für diese unterschiedlichen Blickwinkel. Übrigens spielen auch persönliche Erfahrungen mit Begrenztheit und Entgrenzung eine große Rolle dabei, wie wir zu dem Projekt Europa stehen.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Europäische Währungsunion vor ihre größte Herausforderung gestellt. Das ist inzwischen eine Binsenwahrheit, aber wir sind nicht am Ende mit diesem Problem, wenn wir es benennen. Auch wenn es erste positive Nachrichten gibt aus einigen Krisenländern, wo sogar sehr harte Reformen umgesetzt oder teilweise umgesetzt werden, so müssen wir doch sagen: Die Krise ist nicht vorbei. Es wäre sogar fahrlässig, etwas anderes zu behaupten. Denn Banken, Staatsschulden und die Wettbewerbsfähigkeit der Eurozone werden die europäischen Regierungen und die Gesellschaften weiter beschäftigen.

Es ist also immer noch einiges zu leisten, auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene. Eigentlich brauchen wir einen neuen Aufbruch. Aber da es keine von allen Völkern akzeptierte Zielvorstellung gibt, stehen wir im Moment wie vor einer Schwelle, wir verharren. Wir brauchen, das sehen wir alle, neue Arbeitsplätze in Europa, wir brauchen nachhaltiges Wachstum, wir brauchen Fortschritte auf dem Weg zu einer dauerhaften ökonomischen Konvergenz in der Eurozone. Und wir stehen dabei vor dem schwierigen Problem, wie wir gemeinsame europäische Lösungen anstreben können, während der Wille zu weiterer europäischer Integration abnimmt, nicht nur bei den Regierenden, sondern hauptsächlich bei den Bevölkerungen. Eins ist klar: Ohne Bevölkerungen geht es nun mal nicht.

Wir müssen ökonomische und politische Sorgen also ernst nehmen. Wenn wir es nicht tun, gedeiht die Euro- und Europa-Skepsis umso intensiver. Schon jetzt sind in einigen Staaten antieuropäische Parteien entstanden, die unterschiedlich starken Zulauf haben. Auch nationalistische Ressentiments, von denen wir gedacht hatten, sie seien längst verschwunden, tauchen wieder aus den Abgründen der Geschichte auf.

Ich weiß, dass das, was ich hier so kurz andeute und skizziere, nur ein Ausschnitt eines Bildes ist. Während manche über das ferne "Raumschiff Brüssel" schimpfen und sich verärgert abwenden, engagieren sich andere für weitere Integrationsschritte, für ehrgeizige institutionelle Reformen, die beides ermöglichen sollen: Effektivität und demokratische Legitimität. So ist das heute in unserem Europa: Furcht und Ablehnung, Mut und Enthusiasmus existieren nebeneinander, oft auf engstem Raum.

Wir Europäer dürfen uns nicht entmutigen lassen. Wir alle, die Bürgerinnen und Bürger, nicht nur die Politiker, tragen Verantwortung dafür, das Verbindende zu stärken. Was ich mir wünsche, das sind Empathie und gegenseitiges Interesse. Nur so kann doch Vertrauen wachsen und nur so wird Solidarität möglich bleiben. Was ich mir wünsche ist, dass wir die kreative Energie, die sich aus unserer Vielfalt ergibt, entdecken und produktiv nutzen.

Wir Europäer sollen uns auch nicht verunsichern lassen. Allen Verwerfungen zum Trotz stehen wir doch auf dem festen Fundament einer gemeinsamen Geschichte. Unsere tiefen kulturellen Bindungen wirken als Ligaturen, wie Ralf Dahrendorf das einmal ausgedrückt hat. Menschen- und Bürgerrechte, sie sind nicht nur verbindlich, sie verbinden uns auch. Wirtschaftliche Beziehungen sind ebenso gewachsen wie private Freundschaften. Das gemeinsame Recht der Europäischen Union gibt uns zudem einen festen Rahmen. Hinzu kommt die gemeinsame Überzeugung, dass wir effektive politische Strukturen jenseits des Nationalstaates brauchen, um grenzüberschreitende Probleme lösen zu können.

Wenn wir hier über Europa diskutieren, dann ist das natürlich kein Selbstzweck. Im kommenden Jahr, wir wissen es alle, wird ein neues Europäisches Parlament gewählt, wichtige europapolitische Entscheidungen stehen also auf der Agenda. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich einmischen wollen und versuchen, Europa mitzugestalten, und zwar jeder auf seine Weise!

Und ich möchte Sie ausdrücklich ermutigen, die Verfahren und Institutionen der Europäischen Union weiterhin geduldig zu erklären und sich an der Diskussion über eventuell notwendige Korrekturen lebhaft zu beteiligen. Ich weiß, das ist anstrengend und mühsam und kontroversenträchtig. Aber es ist umso nötiger, je komplexer die politischen Strukturen werden. Und es lohnt, wenn wir unser Ziel erreichen wollen, das ich in meiner Rede im Februar so beschrieben habe: ein demokratisches Europa, das dem Bürger Ängste nimmt und ihm Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, kurzum: ein Raum, mit dem sich der Bürger identifizieren kann.

Diejenigen von uns, die beruflich mit Europa zu tun haben, etwa als Politiker, Journalisten, als Wissenschaftler oder Lehrer, sie stehen auch ein wenig in der Pflicht – und ich nehme mich da selbst überhaupt nicht aus: Wir alle haben für Europa zu werben und wir haben eine Menge an Aufklärungsarbeit zu leisten. Europa darf nicht zu einem Projekt der technokratischen Elite werden.

Nun zu heute Abend: Ich freue mich, dass wir fünf renommierte Intellektuelle zu Gast haben, die nicht nur kreativ sind, sondern ihre Überlegungen auch anschaulich und verständlich formulieren können. Sie kommen aus fünf ganz unterschiedlichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union: aus Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland und Italien. Wir haben hier also, wenn Sie so wollen, eine europäische Öffentlichkeit sui generis. Was diese fünf Wissenschaftler, Publizisten und politisch Engagierten vereint, ist ihre Leidenschaft, ihre Lust am Mitgestalten. Und fasziniert hat mich vor allem die Vielfalt ihrer Ideen.

Ivan Krastev hat sich zum Beispiel mit der Frage beschäftigt, was die Europäer aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion lernen können. Angelo Bolaffi plädiert, unter Verweis auf Antonio Gramsci, für eine hegemoniale Rolle Deutschlands, was auch immer das bedeutet. Loukas Tsoukalis fordert einen New Grand Bargain für Europa. Und Sylvie Goulard hat ein Buch mitverfasst, dessen Titel bewusst auf Alexis de Tocqueville anspielt: De la Démocratie en Europe. Und Daniela Schwarzer schließlich wünscht sich unter anderem eine handlungsfähige Wirtschaftsregierung für die Eurozone.

Unsere Moderatorin ist Frau Petra Pinzler. Ich bin sehr gespannt auf die Diskussion, und ich bin mir sicher, dass ich ganz viel von Ihnen lernen kann. Vielleicht geht das manch anderem hier im Saal auch so. Deshalb halte ich mich nun zurück, ich werde mich hinsetzen und zuhören. Der präsidiale Monolog ist beendet, das Bellevue Forum eröffnet!