Themenbesuch in Münster: "Islam in Wissenschaft und Bildung"

Schwerpunktthema: Rede

Münster, , 28. November 2013

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 28. November bei seinem Besuch in Münster zum Thema "Islam in Wissenschaft und Bildung" am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) eine Ansprache gehalten: "Wir geben der Religion Raum, so wie es echte Religionsfreiheit erfordert. Unsere Gesellschaft gewinnt dadurch mehr Selbstverständlichkeit im Umgang mit muslimischer Glaubenspraxis. Und ich bin überzeugt: Diese größere Selbstverständlichkeit wirkt sich auf das Miteinander in unserem Land positiv aus."

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Ansprache in der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Rahmen des Thementages 'Islam in Wissenschaft und Bildung'

Als erstes beglückwünsche ich Sie natürlich: Sie haben ein neues Kapitel aufgeschlagen, ein wichtiges Kapitel deutscher Gegenwartsgeschichte – nicht nur islamischer Religionsgeschichte. Denn was hier geschieht, in Münster und auch an einigen anderen Orten in Deutschland, das ist aufregend in vielfacher Hinsicht. Es bedeutet Ankunft und Anerkennung, aber auch Zumutung und Zukunftsgestaltung.

Aber der Reihe nach: warum Ankunft? In unserem Land leben vier Millionen Muslime, knapp die Hälfte davon als deutsche Staatsbürger. Unsere gemeinsame Heimat der Verschiedenen ist Deutschland. In unseren Städten existieren mehr als 2.000 Gebetshäuser und Moscheen, die zum überwiegenden Teil in den vergangenen fünf Jahrzehnten entstanden sind. Und nun wird der Islam auch an unseren Universitäten eine akademische Disziplin unter anderen.

Dahinter steckt ein wechselseitiger Akt der Anerkennung: Unsere Gesellschaft wandelt sich, weil ihr immer mehr Muslime angehören – so wie sich der Islam seinerseits im Kontakt mit unserer Gesellschaft entwickelt. Das birgt Zumutungen für beide Seiten. Wir wären töricht, wenn wir das nicht erkennen würden. Das gehört einfach zu einem Leben, das sich fortentwickelt, dazu. Zwar versuchen einige Veränderungsunwillige, daraus Kapital zu schlagen. Aber die Mehrheit weiß: Gedeihlich zusammenleben, das können wir nur, wenn wir uns gegenseitig offen und respektvoll begegnen. Das Fundament dafür bilden unsere Grundrechte und Freiheiten, unsere Geschichte, und auch die Sprache.

Die Verankerung der islamischen Theologie an deutschen Universitäten ist auch ein Akt der Selbstverständigung, ohne die kein Verständnis wachsen kann. Wer weiß, was er ist, und wer weiß, was er weiß, der lässt auch leichter Fragen zu. Der Islam entfaltet sich in Deutschland längst nicht mehr allein in der sprichwörtlichen Moschee im Hinterhof, sondern auch in immer schöneren innerstädtischen Moscheen. Und nun begibt er sich hier in Münster und an anderen Orten in Deutschland in die Welt der akademischen Ausbildung und begegnet so den Regeln wissenschaftlicher Forschung. Wer diesen Weg geht, stellt sich der Gegenwart, und das heißt, er lässt sich auch kritisch befragen. Der Islam, wir wissen es alle, kennt die eine religiöse Autorität nicht. Er hat eine andere Religionskultur entwickelt, in der immer verschiedene Sichtweisen nebeneinander existieren, in der Auslegung ebenso wie in der Glaubenspraxis. Ich freue mich, dass nun auch in Deutschland Ausbildungszentren entstanden sind, in denen diese durchaus pluralistische Tradition in wissenschaftlicher Freiheit, ohne politischen oder gar fundamentalistischen Druck weiter entwickelt werden kann. Und ich freue mich, dass dieser Ansatz auf so viel Interesse stößt. Den hohen Anmeldezahlen nach zu schließen, sind viele Studenten offenkundig auf der Suche nach einem Islam, der – wie Mouhanad Khorchide es einmal formulierte – nicht im Widerspruch zu den deutschen Anteilen ihrer Identität steht.

Nicht zuletzt ist es aber auch ein ganz pragmatischer Akt von Zukunftsgestaltung, den wir in Münster und in Osnabrück, in Erlangen, Tübingen und auch in Frankfurt am Main erleben. Ja, wir wollen hier, in unserem Land, diejenigen ausbilden, die später an Schulen, Universitäten und auch Moscheen den Islam lehren sollen. Wir wollen Musliminnen und Muslimen in unserem Land Orientierung geben für Glaubensfragen in ihrem Alltag. Und wir wollen zugleich Impulse in die islamische Welt aussenden, die durchaus gespannt und interessiert zusieht, was hier in Deutschland existiert und entsteht. Ich freue mich über die Kontakte, die Sie bereits geknüpft haben.

Wir geben der Religion Raum, so wie es echte Religionsfreiheit erfordert. Unsere Gesellschaft gewinnt dadurch mehr Selbstverständlichkeit im Umgang mit muslimischer Glaubenspraxis. Und ich bin überzeugt: Diese größere Selbstverständlichkeit wirkt sich auf das Miteinander in unserem Land positiv aus.

Wir brauchen Menschen, die das Vielschichtige und die – im positiven Sinn verstandene – Ambiguität des Islam zeigen. Menschen, die Lust machen auf Begegnungen mit dem kulturellen und spirituellen Reichtum dieser Religion, die auch manch verschüttete Spur der europäischen Geistesgeschichte wieder freilegen. Und ich hoffe und bin zuversichtlich, dass solche Menschen auch hier aus Ihren Reihen kommen werden.

Wer die Arbeit des Zentrums für islamische Theologie seit seiner Gründung vor zwei Jahren verfolgt hat, der weiß: Es gab und es gibt Konflikte und viele offene Fragen – theologische und gesellschaftliche, rechtliche und politische. Ich muss sagen, ein Teil der Konflikte kommt mir bekannt vor aus der Kirchengeschichte. Aber das nur am Rande. Islamische Theologie ist ein noch junges Fach an deutschen Universitäten. Wir alle befinden uns in einer Experimentierphase. Und bei Experimenten – das weiß doch nun jeder – da ist nicht alles gleich und sofort gelungen. Es gibt zum Beispiel noch zu wenig Lehrmaterial, und natürlich gibt es zu wenig ausgebildete Fachkräfte, es gibt nicht zuletzt die bekannten organisationsrechtlichen Probleme in der Zusammenarbeit mit den islamischen Organisationen.

Bei aller erfreulichen Bewegung werden Sie solche Fragen nicht allein hier am Zentrum für islamische Theologie beantworten können. Aber Sie werden dazu beitragen, dass wir als Gesellschaft Antworten auf die noch offenen Fragen finden.

Wir werden gerade in dieser Phase Ruhe bewahren, eine entschlossene Ruhe, denn wir gestalten schöne, wunderbare, fortschrittliche Dinge für unsere Gesellschaft und für die glaubenden Menschen. Da werden wir uns nicht in eine aufgeregte Hysterie hineindebattieren, sondern wir bleiben ruhig, weil wir wichtige und gute und förderliche Schritte gehen.

Und wir machen uns dabei klar: In einer pluralistisch angelegten Welt und Gesellschaft sind Auseinandersetzungen etwas Normales. Sie gehören einfach dazu, sie sind uns in einer freiheitlichen und globalen Welt vertraut. Sie sind nicht gerade ein Lebenselixier, aber sie begleiten unser alltägliches Leben.

Ohne Auseinandersetzung – auch das haben wir in ganz vielen anderen Gebieten und Konfliktkonstellationen gelernt – gibt es keine wirkliche Entwicklung. Schauen Sie in die Geschichte Münsters: Wie ist hier einst gerungen worden, um Religionsfragen! Wir wissen um manche Auseinandersetzung im christlichen Raum zwischen akademischer Theologie und verfasster Kirche. Diese Kontroversen gehörten dann auch zu den Entwicklungen, die wir brauchten. Was lebt, entwickelt sich. Und glaubende Menschen sollten auch in einer lebendigen Welt der Entwicklungen leben.

Wenn wir uns in Münster treffen, dann wissen wir, dies ist ein Ort, an dem harte Auseinandersetzungen schließlich doch zu einem friedvollen Miteinander geführt haben. Das lehrt nicht nur, aber auch, der Westfälische Frieden, der von hier ausgegangen ist und 365 Jahre zurückliegt: ein europäisches Datum!

So ist es also für mich kein Zufall, dass ich Sie hier besuche. Und es ist für mich auch kein Zufall, dass Ihre Universität, dass Münster dieses Zentrum erhalten hat. Es ist wohl auch kein Zufall, dass Sie sich gerade hier in deutschlandweit einzigartiger Weise interdisziplinär mit dem Verhältnis von Religion und Politik befassen. Wenn wir uns klar machen, wie mühsam alles errungen wurde, was uns inzwischen so selbstverständlich erscheint, dann sind wir vielleicht bei den gegenwärtigen Problemen etwas weniger hochmütig und etwas weniger ungeduldig.

Manchmal frage ich mich: Was wird meinen Enkelkindern später einmal ganz selbstverständlich erscheinen? Worüber werden sie sich im Rückblick auf die heutige Zeit wundern? Und was ist für sie, die junge Generation, heute schon normal, was uns Älteren noch nicht recht in den Kopf will? Darum freue ich mich auch auf die Begegnungen, die ich im Laufe dieses Tages noch haben werde. Ich werde sehr aufmerksam zuhören. Ich freue mich schon auf die Begegnung mit Schülerinnen und Schülern, die ich hier in einer Münsteraner Schule haben werde, ich werde anschließend dorthin gehen. Dort gibt es eine Ausstellung zu sehen, die sich um Muslime in Deutschland dreht und die schön vieldeutig heißt: "Was glaubst du denn!?"

Eines glaube ich jedenfalls nicht – dass man Menschen allein nach ihrer Religion beurteilen darf. Identitäten – wir lernen es manchmal mit Freuden, manchmal mit Schmerzen – Identitäten sind eben auch vielschichtig. Ich bin – wie jeder von Ihnen – auch der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, bin das, was ich erlebt, geglaubt und verinnerlicht habe, und bin das, was ich aus meinem Leben machen konnte und machen kann. Ich glaube, dass wir als Unterschiedliche sehr gut zusammenleben können, wenn wir uns nicht von Ängsten und von Ressentiments leiten lassen, sondern von Respekt, Toleranz und Neugier. Und neugierig – das bin ich jetzt!