Theodor-Heuss-Gedächtnisvorlesung

Schwerpunktthema: Rede

12. Dezember 2013

Der Bundespräsident hat am 12. Dezember aus Anlass des 50. Todestages von Theodor Heuss eine Gedächtnisvorlesung an der Universität Stuttgart gehalten: "Ich bin überzeugt davon, dass die Bürgergesellschaft durch wachsendes Bürgerengagement, neue Organisationsformen und neue Technologien ein neues und frisches Gesicht bekommen kann und schon bekommen hat. Aus dieser Kraft der Bürger, die sich zusammengetan haben, kann und wird die repräsentative Demokratie schöpfen."

Bundespräsident Joachim Gauck hält an der Universität Stuttgart die Theodor-Heuss-Gedächtnisvorlesung 2013

"Über repräsentative Demokratie, Bürgersinn und die Notwendigkeit des Erinnerns"

Eine Gedächtnisvorlesung darf vieles sein: Erinnerung und Dank, Bühne für Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Als Bürger Gauck hätte ich vielleicht eine Freiheitsrede gehalten auf Theodor Heuss, den großen Liberalen. Nun aber komme ich zu Ihnen als Bundespräsident. Ich komme mit großer Freude und rede nicht einfach nur als Bürger Gauck, sondern als Amtsnachfolger jenes Mannes, der einmal sagte: "Ich gebe keine Richtlinien, ich gebe Atmosphäre."

Damit bin ich nicht ganz zufrieden, mit dieser Selbsteinschätzung. Ich verbuche sie unter schwäbischen Humor. Theodor Heuss war einer jener großen Politiker – das wissen wir doch alle – der der bundesdeutschen Demokratie den Weg gebahnt hat. Und nicht nur über die Demokratie hat er wichtige Dinge neu vermittelt. Er hat auch für eine Erinnerungskultur geworben, die sich später als etwas herausstellen sollte, das geistiger Besitz eines erneuerten Deutschlands wurde. Weil er für diese Erinnerungskultur ein Fundament gelegt hat, kann ich den Satz mit der Atmosphäre überhaupt nicht akzeptieren. Und wenn ich nachlese, wie er über die repräsentative Demokratie gesprochen hat, dann will ich ebenfalls nicht nur über Atmosphäre sprechen. Schließlich will ich über unsere Bürgergesellschaft nachdenken und darüber, was daraus geworden ist.

Bis zur Gründung der Bundesrepublik hatte Theodor Heuss seine Grundüberzeugungen entwickelt: Er stand zum deutschen Weststaat – anders als viele andere Deutsche damals. Den provisorischen Charakter zu unterstreichen, das hätte für ihn bedeutet, die Handlungsfähigkeit und Autorität dieses neuen Staates zu untergraben. Er befürwortete zudem eine starke Kompetenz des Bundes, denn er fürchtete die Übermacht der Länder. Er warb für eine und vertrat eine repräsentative Demokratie – und er hielt die plebiszitären Elemente angesichts der historischen Situation und angesichts der Größe Deutschlands durchaus für schädlich.

Manches hat sich durch die historische Entwicklung erübrigt. Deutschland ist wiedervereinigt. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern ist trotz mancher Debatten wohl geordnet: Im Westen wurde es erprobt, im Osten wurde es 1989 schon erwünscht und dann auch gern übernommen. Heuss' Haltung gegenüber der direkten Demokratie dürfte heute allerdings kontroverser sein als damals.

Heuss sah im parlamentarischen System "die Erziehungsschule der politischen Verantwortung". Dem Sozialdemokraten Walter Menzel, der zu den wenigen zählte, die Volksinitiative und Volksbegehren in das Grundgesetz aufnehmen wollten, entgegnete Heuss 1948: "Cave canem! Ich warne davor, mit dieser Geschichte die künftige Demokratie zu belasten." Das Volksbegehren drohe in der "großräumigen Demokratie" und in der "Zeit der Vermassung und Entwurzelung", so Heuss, eine Trophäe der Volksverführer zu werden.

"Es wäre mir unsinnig erschienen", erklärte er sieben Jahre später, "dem deutschen Volk in seinem soziologisch und seelisch so amorphen Zustand wieder eine Gesetzgebung herzustellen, die für jeden Demagogen, für jede demagogische Forderung einfach eine Lockung und eine Prämie anbietet." Heuss, der 1932 noch emphatisch die Direktwahl des Reichspräsidenten gefordert hatte, riet 1949 dann dringend von der Direktwahl eines Bundespräsidenten ab. Ja, da begegnet uns ein Misstrauen, das wir heute nicht teilen mögen, aber das wir verstehen können.

Bezeichnend sind die Umfragen aus den ersten Nachkriegsjahren, denen zufolge mehr als 55 Prozent der Westdeutschen die Ansicht vertraten, der Nationalsozialismus sei prinzipiell eine gute Idee gewesen, nur schlecht ausgeführt. Ja so ist das. Ich kenne ein ähnliches Bevölkerungsverhalten nach dem Ende der DDR. Ganz ähnliche Zahlen. Ich will die Systeme nicht gleichsetzen, aber gleichsetzen kann man durchaus die Langsamkeit von Mentalitätswandel. Mentalitätswandel braucht seine Zeit – und ich denke, Theodor Heuss hat sich dieses Bewusstsein nicht wissenschaftlich erarbeitet, er hatte das im Gefühl. Weil er mit seinen Landsleuten auch die Prägungen der Zeit, die nun vergangen war, gespürt hatte. Er war ein Zeitgenosse, er musste sich die Dinge nicht erarbeiten, die ihm intuitiv bewusst waren.

Plebiszite waren nach dem Krieg diskreditiert, weil ihre Instrumentalisierung durch den NS-Staat noch in allzu guter Erinnerung war. Die meisten von uns wissen das heute nicht mehr, die historisch Interessierten schon: Adolf Hitler hat die Bürger bei der Reichstagswahl 1933 zeitgleich über den Austritt aus dem Völkerbund abstimmen lassen. Und nur wenig später ließ er sich auch in einer Volksabstimmung die Zusammenlegung der Ämter von Reichskanzler und Reichspräsident bestätigen.

Angesichts solcher Umstände in der gerade zurückliegenden Zeit sollte dem Wahlvolk der frühen Bundesrepublik allein zugestanden werden, gegebenenfalls über die Neugliederung des Bundesgebiets zu entscheiden. Und so hatte auch Theodor Heuss nichts einzuwenden, dass hier eine Volksabstimmung stattgefunden hat, ob die Badener und die Württemberger 1951 tatsächlich einen neuen gemeinsamen Südweststaat haben sollten.

Heute ist die Sorge vor einer unaufgeklärten Volksseele geschwunden. Viele Bürgerinnen und Bürger sind politisch interessiert. Sie sind informiert, sie sind demokratisch gefestigt – und stehen nicht in Versuchung, sich eine autoritäre Regierung herbeizuwählen. Sie tun, was in einer Demokratie nötig ist: Sie mischen sich ein in die öffentlichen Angelegenheiten, in die "res publica". Sie wollen nicht nur betroffen, sondern sie wollen beteiligt sein.

Plebiszitäre Elemente sind in Deutschland weit verbreitet. Sie sind es in den Bundesländern, sie sind es auf lokaler Ebene. Sogar in den Parteien haben wir jüngst ein sehr attraktives Beispiel, wie die meisten finden, erlebt. Hier wurden gute Erfahrungen gemacht mit direkter Demokratie. Es lassen sich Sachfragen oft hautnah lösen, sie werden hautnah erlebt. Es bedeutet besonderes Engagement, bei einer Lösung mitzuwirken. So kann die Bevölkerung aktiviert werden. Oftmals wissen die Bürger vor Ort ja sehr genau, wo die Probleme liegen.

Nun aber kreist die Debatte darum, ob auch der Bund mehr direkte Demokratie braucht. Fürsprecher finden sich in verschiedenen Parteien, sogar in den jüngsten Koalitionsverhandlungen spielte diese Frage eine Rolle – es wurde darüber beraten. Volksentscheide sollen ja eigentlich dazu da sein, die Politik das Laufen zu lehren. Basisdemokratie gilt als innovatives Element, als Jungbrunnen der Demokratie: Plebiszit als kreativer Impuls, der Bewegung in verkrustete Strukturen und Denkmuster bringt – und zwar in jenen vier langen Jahren, die es abzuwarten gilt, bevor die Bürger wieder einen Stimmzettel in die Urne werfen dürfen.

Ich selber habe in diesem bürgerbewegten Herbst 1989, der heute schon angesprochen worden ist, ganz intensiv empfunden – und manchmal auch geäußert –, dass Misstrauen gegenüber unserer Bevölkerung längst nicht mehr angezeigt sei. Und als in den vergangenen Jahren der Überdruss an der Politik zum Thema wurde, da erschien auch mir die Beteiligungsform der Volksabstimmung geradezu als Verheißung.

Mehr Einbeziehung, so hoffte ich mit den Anhängern plebiszitärer Elemente auf Bundesebene, bedeute auch gleichzeitig weniger Entfremdung zwischen Staat und Bürger. Und darum muss es uns ja immer wieder gehen. Untersuchungen belegten zudem für verschiedene Staaten, dass direkte Demokratie Bürger tatsächlich zufriedener macht – oft sogar die Verlierer von Abstimmungen. Es fällt offenbar leichter, sich in eine Niederlage zu fügen, wenn man selbst aktiver Teil der Kontroverse war, als sich einem Beschluss unterzuordnen, den andere getroffen haben. Dieser Satz ist freilich in Berlin formuliert worden und nicht in Stuttgart. Richten wir einen Blick in unsere Nachbarschaft. In der abstimmungsfreudigen Schweiz stieg die Zufriedenheit mit der Demokratie in jenen Kantonen noch an, in denen Referenden und Initiativen häufiger als andernorts eingesetzt wurden. So wird der Wunsch verständlich, über Volksentscheide quasi automatisch mehr Demokratie und stärkere Berücksichtigung des Volkswillens zu schaffen.

Nun lohnt es sich allerdings, zuvor die Frage zu stellen, ob es zutreffend ist, von mehr Volksentscheiden immer mehr Demokratie zu erwarten. Einer der großen historischen Lehrer der Gegenwart, der Historiker Heinrich August Winkler, hat einmal in einem kritischen Essay über diese Frage folgendes Szenario durchgespielt: Sollte beispielsweise ein Quorum von 20 Prozent der Wahlberechtigten für einen Volksentscheid ausreichen, dann würden am Ende bei einfacher Mehrheit gerade einmal zehn Prozent der stimmberechtigten Bürger den Ausschlag geben. So erhielten hochmotivierte und gut vernetzte Interessengruppen einen überproportionalen Einfluss auf die Politik. Die Mehrheit hätte sich einer Minderheit zu fügen.

Das ist die eine Gefahr von Plebisziten.

Es droht aber auch die umgekehrte Gefahr: die Missachtung der Minderheit durch die Mehrheit. Der Glaube, Volksentscheide begünstigten eine tolerante, demokratische Politik, erweist sich schon gelegentlich als Irrglaube. Im Europa des 21. Jahrhunderts werden Volksentscheide auch von populistischen und antiliberalen Gruppierungen angestrengt. So können Minderheiten leicht um ihre Rechte gebracht werden.

Nehmen wir ein Beispiel, wiederum aus Europa: In Kroatien stimmten zwei Drittel der Wähler kürzlich dafür, ausschließlich das traditionelle Ehemodell in der Verfassung festzuschreiben. Angespornt durch diesen Erfolg sollen nun auch die Rechte der nationalen Minderheiten per Referendum geklärt, wir könnten auch sagen: möglicherweise eingeschränkt werden. Der Schutz der Minderheitenrechte ist aber eines der vornehmsten Ziele einer repräsentativen Demokratie.

Noch einmal ein Blick auf die Schweiz: Sie wird bei uns häufig als Vorbild für eine Demokratie mit plebiszitären Elementen betrachtet. Tatsächlich gilt dort die direkte Demokratie als unantastbares Gut, geradezu als "Identitätsmerkmal" des Landes schlechthin. Ich selbst bin ein bekennender Freund der Schweiz, gerade wegen ihrer bis ins Jahr 1848 reichenden Tradition. Nur am Rande möchte ich deshalb ganz bescheiden erwähnen, dass in diesem so vorbildlichen Land der Demokratie erst seit 1971 Frauen wahlberechtigte Bürgerinnen sind. Das hindert mich nicht an meiner Sympathie. Ich freue mich nämlich darüber, jedes Mal in der Schweiz besonders oft auf den Citoyen zu treffen, auf den verantwortungsbewussten Staatsbürger.

Die Schweizer zeigen eine bewundernswerte demokratische Reife – und zwar, weil sie in der Regel verstehen, Sachentscheidungen in Plebisziten aus gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zu treffen. Gerade deshalb lohnt ein Blick auf kritische Elemente der Schweizer Debatte. Der Züricher Journalist Martin Senti stellt fest: Ursprünglich sei die direkte Demokratie in seinem Land ein "Korrektiv in den Händen von Minderheiten gegen übermächtige politische Eliten" gewesen. Seit einiger Zeit hingegen zeichneten sich Veränderungen der Initiatoren und ihrer Strategien ab. Volksentscheide würden nun auch zum Instrument von Vertretern des Parlaments, gar der Regierung. Was sie auf parlamentarischem Wege nicht durchsetzen könnten, oder in der Regierung nicht erreichen könnten, versuchten sie nun auf dem Wege des Plebiszits.

Verallgemeinernd ließe sich für die größere Bundesrepublik sagen: Plebiszite sind nicht immer von Vorteil. Die Arbeit des Parlaments kann sogar, vielleicht ungewollt, ausgehöhlt werden, die Volksvertretung kann in ihrer zentralen Rolle relativiert werden und im Extremfall wieder in einer sehr unguten Tradition als Schwatzbude diffamiert werden. Volksentscheide drohen zudem manchmal, Gräben in der Gesellschaft zu vertiefen statt zu überbrücken. Zu diesem Kapitel könnten Sie hier im Auditorium eine Menge mehr erzählen als ich. Und ein anderes, sehr gewichtiges Argument: Volksentscheide kennen nur ein "Ja" oder ein "Nein", keinen Kompromiss.

Der Ort des Kompromisses, aber auch der Ort der Differenzierung, ist das Parlament – und mag es auch keine Garantie dafür geben, so hat der Abgeordnete in der Regel einen Blick für das Ganze. Das Parlament vermag somit, unterschiedliche Interessen zum Gemeinwohl zu bündeln. Und schließlich: Es kann auch mal populistische Strömungen aushalten und abfedern.

Es gibt somit wahrlich gute Gründe, das Für und Wider von Volksentscheiden auf Bundesebene zunächst sorgsam gegeneinander abzuwägen.

Ich will jedes Missverständnis vermeiden: Ich wünsche mir aktive Bürger. Ich kann mir das Land nicht vorstellen, das sich nur auf seine Institutionen zu stützen vermag. Es ist mir ans Herz gewachsen, auch wegen dieser Fülle von Menschen, die sich aktivieren lassen, die in Vereinen und in Zusammenschlüssen aktiv sind. Und der deutsche Südwesten ist ein besonders schönes Beispiel für diese aktive Bürgerschaft. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich hierher komme. Sei es als Bürger oder als Präsident. Bürger, die sich einbringen, die die Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements voll ausschöpfen, das ist meine Sache. Und ich knüpfe hier gerne wieder an Theodor Heuss an: Die Demokratie als Institution wie als Lebensgesinnung, so sagte er, "stirbt an dem 'Ohne-Mich', sie lebt aus dem 'Mit-Mir'".

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, in unserem Land Einfluss zu nehmen und eine lebendige Bürgergesellschaft zu schaffen. Wir beginnen mal mit der klassischen Option, wie sie Artikel 21 unseres Grundgesetzes vorsieht: Die Parteien, so heißt es dort, wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Es ist und bleibt eine sehr wichtige Form der Partizipation, in einer Partei für Ideen zu streiten. Und gewiss tun Parteien gut daran, Impulse von Nicht-Mitgliedern aufzunehmen. Auch die Gründung einer Partei steht ja jedem frei, wie wir verschiedentlich erlebt haben.

Es gibt nun aber noch viele andere Wege, unser Land zu verändern. Stellen Sie sich vor, wir würden mit Theodor Heuss einen Rundgang durch die politische Landschaft im heutigen Deutschland antreten. Natürlich wäre ihm dann vieles vertraut: Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Handwerkskammern, Vereine, er würde auch Streiks und Demonstrationen kennen. Aber dann kommt eine Menge an Neuem, das sich entwickelt hat, das er nicht kennen würde. Er wäre sicherlich überrascht über die vielen Bürgerinitiativen, die gegen Umweltverschmutzung oder Fremdenfeindlichkeit oder für andere Dinge streiten. Er müsste sich wohl erklären lassen, was eine NGO ist, eine Nichtregierungsorganisation. Er würde "Runden Tischen" begegnen, die in Konfliktfällen und bei Problemen versuchen, einen Lösungsweg zu entwickeln. Er würde in den Kommunen auf "sachverständige Bürger" treffen, die in den Ratssitzungen die Gewählten bei ihrer Arbeit unterstützen. Er würde auf Jugendparlamente treffen, er würde auf Schülervertretungen treffen, in den Universitäten auf die Möglichkeiten der universitären Mitbestimmung und Selbstverwaltung. Kurz: eine Fülle von Mitwirkung, die es zu seiner Zeit noch nicht gab, würde ihm beweisen, dass es eine aktive, sich fortwährend aktivierende Bürgergesellschaft gibt. Vollständig befremdet wäre er wahrscheinlich, würde er vor einem Laptop sitzen und dort sehen, wie der Einzelne sich mit Hilfe des Internets Gehör verschaffen und Verbündete gewinnen kann wie nie zuvor.

Längst geht es auch nicht mehr allein darum, etwas zu verhindern, wenn sich Bürger zusammentun. Längst wird konstruktiv mitgestaltet, in Eigeninitiative der Bürger und häufig in Kooperation mit den öffentlichen Verwaltungen – manchmal bis ins Detail, häufig sogar mittels Onlinedialogen: über Haushaltsplanung und Lärmschutz, über Kulturdenkmäler, über Hundegesetze. Die Durchlässigkeit zwischen Verwaltung und Bürgerschaft wächst. Einerseits bemühen sich Entscheidungsträger, ihre Vorhaben den Bürgern besser zu vermitteln, andererseits den Sachverstand der Bürger in ihre Entscheidungen mit einfließen zu lassen. Sollte sich trotz allem kein Konsens erzielen lassen, so lässt sich dann immer noch auf ein Mediationsverfahren zurückgreifen. Auch große gesellschaftliche und politische Themen werden nicht nur von Parteien und Verbänden in die Debatte gebracht. Wir erleben gerade, wie engagierte Bürger sich Plattformen schaffen und Bewegungen gründen, die so gewichtig werden können bei der Durchsetzung von politischen oder gesellschaftlichen Zielen, dass die Abgeordneten dem Thema neue und gesteigerte Aufmerksamkeit widmen.

Also, wenn ich das alles betrachte, und wenn ich mir vorstelle, Theodor Heuss wäre mein Begleiter auf diesem Rundgang durch die Zivilgesellschaft, dann kann ich nur sagen: Ich bin überzeugt davon, dass die Bürgergesellschaft durch wachsendes Bürgerengagement, neue Organisationsformen und neue Technologien ein neues und frisches Gesicht bekommen kann und schon bekommen hat. Aus dieser Kraft der Bürger, die sich zusammengetan haben, kann und wird die repräsentative Demokratie schöpfen. Die Zeit der repräsentativen Demokratie ist nicht vorbei. Ich betrachte sie als einen Markenkern unserer freiheitlichen, offenen und lernfähigen Gesellschaft. Mehr Demokratie wagen heißt also nicht, die repräsentative Demokratie zu unterschätzen, zu verachten oder sie gar zu erledigen.

Ich bin beeindruckt und ich bin dankbar, was Theodor Heuss über das Amt des Bundespräsidenten gesagt hat und wie er es geformt hat in diesem jungen Staat. Er verfügte damals über kein Vorbild. Anfangs sah er sich als Präsident "in Ausbildung". Dann fand er – in Abgrenzung und teilweise in Reibung zum Kanzler Konrad Adenauer – seine Rolle jenseits des operativen tagespolitischen Geschäfts. Theodor Eschenburg hat es seinerzeit auf den Punkt gebracht: Wenn der Kanzler über potestas verfüge, über Macht also, dann verfüge der Präsident über auctoritas, über Ansehen und Autorität.

Theodor Heuss hat dies auf eine Weise getan, die für die Republik und für die Nachfolger beispielgebend wurde. Das ist wohl der Grund, warum er gerade in jüngster Zeit wiederentdeckt wird. Für ihn war Politik nie "schmutziges Geschäft", sondern sie war belebende Herausforderung, der er übrigens nicht ohne Humor begegnete. Mit Eifer, aber nie ohne Humor. Heuss blieb zudem bürgernah, indem er selbst im Amt nicht darauf verzichtete, wie er es nannte, "regulierte Taktlosigkeiten" auszustreuen. Auch blieb er seinen Lebensgewohnheiten treu. Er überzeugte unter anderem durch seinen zivilen, bürgerlichen Stil, durch seine Bildung, durch seinen immensen Fleiß und durch seine innere Gelassenheit, die ihn schützte vor politischer "Nervosität" und Panikmache. Als wir heute an seinem Grab auf dem Waldfriedhof standen, ist mir eingefallen: Diese Wellen von Alarmismus, die immer wieder durch unser Land ziehen – das wäre ganz gewiss nicht sein Ding gewesen. Seine innere Gelassenheit hätte ihn davor bewahrt, sich da einzubringen. Theodor Heuss pflegte den Kontakt mit Politikern und Intellektuellen ganz unterschiedlicher Provenienz – vom konservativ-nationalen bis hin zum linksintellektuellen Milieu und wirkte so auch beispielgebend für eine diskursive Demokratie: Differenz und Vielfalt, das können wir daraus entnehmen, empfand er nicht als Problem, er empfand es als Anregung.

Es gibt noch etwas, das mir beim Rückblick sehr wichtig ist. Wenn wir nach den Traditionslinien für unsere heutige Erinnerungskultur suchen, so werden wir sehr, sehr früh, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, auf Theodor Heuss stoßen. Nach 1945 wirkte er als Lehrer der Demokratie, als ein prinzipienfester, aber auch illusionsloser Aufklärer, der sich den Verbrechen und der Schuld der Deutschen stellte. Heuss wusste, dass "das deutsche Volk es sich leicht gemacht [hat], zu leicht gemacht in seiner Masse, sich in die Fesseln des Nationalsozialismus zu begeben". Auch Heuss selber war in seinem eigenen Urteil nicht ohne Fehl und Tadel geblieben. Zeitlebens verfolgte ihn seine Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933, als er sich dem Mehrheitsvotum der liberalen Fraktion unterwarf, obwohl er zunächst für Enthaltung plädiert hatte. Kurz vor seinem Tod noch schrieb er an Toni Stolper, seine engste Vertraute: "Ich wusste schon damals, dass ich dieses 'Ja' nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslöschen" konnte.

Obwohl er um die Verstrickung der Deutschen wusste, bekannte er sich zu dem Land, in das er hineingeboren war, zu dessen Geschichte und dessen Landschaft. Sie waren ihm vertraut und er fühlte eine besondere Verantwortung für dieses vertraute Land. Gleich nach dem Krieg begann er, seinen Landsleuten wieder einen politischen und einen moralischen Kompass an die Hand zu geben.

Nehmen wir Adenauer: Er gedachte in seiner ersten Regierungserklärung 1949 zwar der deutschen Opfer des Krieges – der Kriegsgefangenen, der Ausgebombten und der Vertriebenen. Ja, sie hatten Gedenken verdient. Aber an die Vertreibung und Ermordung jüdischer Deutscher, an den Mord an Juden in anderen Ländern Europas und an die Millionen Opfer des Naziregimes erinnerte er damals nicht. Theodor Heuss hatte bereits vier Jahre zuvor in seiner berührenden Rede "In Memoriam" in Stuttgart jene ins Gedächtnis gerufen, die Opfer von Terror, Zwangsarbeit und Mord durch das NS-Regime geworden waren – Opfer unter den Deutschen, aber auch Hunderttausende, ja Millionen Menschen, die Opfer der Deutschen geworden waren. Manche unter ihnen hatte er gekannt, nicht wenige waren seine Freunde gewesen. Er nannte Eugen Bolz, verhaftet nach dem missglückten Attentat auf Hitler, hingerichtet in Plötzensee. Er nannte Fritz Elsas, dessen Tochter mit seinem Sohn verheiratet war: erschossen im Konzentrationslager Sachsenhausen. Er nannte auch Otto Hirsch, einer der bekanntesten Vertreter der deutschen Juden, umgebracht im Konzentrationslager Mauthausen.

1949 prägte er in seiner Rede vor der "Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit" die eindringlichen Sätze, die nicht nur für seine Generation, sondern auch für die Nachkommenden Gültigkeit bewahrt haben: "Das scheußliche Unrecht, das sich am jüdischen Volk vollzogen hat, muss zur Sprache gebracht werden in dem Sinn: Sind wir, bin ich, bist du schuld, weil wir in Deutschland lebten, sind wir mitschuldig an dem teuflischen Verbrechen?" So fragte er. Und so antwortete er: Eine Kollektivschuld sehe ich nicht, "aber etwas wie eine Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben".

Theodor Heuss regte 1951 bei Adenauer eine Wiedergutmachung für die Juden an, sprach 1952 bei der Einweihung des Mahnmals im ehemaligen KZ Bergen-Belsen von der "Pedanterie des Mordens als schier automatischem Vorgang" und er sagte, was viele seiner Landsleute zum erregten Widerspruch trieb: "Wir haben von den Dingen gewusst."

Mochte Heuss Kollektivschuld auch ablehnen, so konnte und wollte er sich der Verfolgung persönlicher Verantwortung und Schuld nicht widersetzen, auch wenn er – wie wohl die meisten Deutschen – schnell in Widerspruch zu der bürokratischen Methode geriet, in der die Alliierten die Entnazifizierung durchführten. Schärfere Kritik formulierte er aber nur im persönlichen Kreis – er wollte keinen Beifall von der falschen Seite. Offen hingegen setzte er sich seit Kriegsende für die Opposition und den Widerstand ein. Es war doch nicht so, erklärte er an die Alliierten, dass es keinen Widerstand gegeben hätte. Die Widerständler würden vielmehr "mit ihrem Sterben über den Tod hinaus Deutschland einen politischen Dienst leisten, dass das andere Deutschland in seinen Blutzeugen sichtbar bleibe".

Das "andere Deutschland" sollte der neue Bezugspunkt für die Deutschen und für die Welt werden. Ganz selbstverständlich stand Theodor Heuss deshalb auch zur Tradition der Widerstandskämpfer des 20. Juli. Während sie der Mehrheit seiner Landsleute weiterhin als Landesverräter, Volksverräter oder gar Feiglinge galten, sprach er am zehnten Jahrestag des Attentats auf Hitler vom Recht auf Widerstand, das in einer Tyrannei zur Pflicht zum Widerstand werden könne.

Auch das ist uns geblieben als Vermächtnis von Theodor Heuss: die Einsicht, dass Staatsraison für einen bewussten und aufgeklärten Bürger kein Höchstwert sein kann. Die unbedingte Loyalität gegenüber einem Staat kann es nicht geben, wenn der Staat das Recht mit Füßen tritt, wenn er gar Freiheit und Leben derjenigen nimmt, die er doch schützen soll.

In den 1950er Jahren musste noch gegen die Mehrheit durchgesetzt werden, was ein Gebot der Humanität sein sollte: Schuld und Scham nicht zu verdrängen, sondern anzuerkennen. Viele sperrten sich damals noch gegen den Blick zurück, gegen eine innere Läuterung. Häufig muss ich daran denken, ab wann eigentlich die Namen der Widerständler als Straßennamen auftauchten? Bei der Benennung von Schulen oder gar bei der Benennung von Kasernen? Wenn wir das erforschen in unserer näheren Umgebung, dann werden wir oftmals erschrecken. Erst die folgenden Generationen haben sich der Vergangenheit gestellt. Sie haben das nicht erfunden mit der Benennung der Schuld. Die Spezialdiskurse der Opfer, der Widerständler und der Wissenschaftler existierten, aber die folgende Generation konnte dieses Wissen von Minderheiten durcharbeiten und in der Gesellschaft pushen – wir würden in der Sprache der Psychologie, der Psychotherapie sagen, sie haben begonnen, einen Prozess des Durcharbeitens von Schuld einzuleiten. Der Diskurs der Opfer, der Widerständler, der Diskurs der Minderheiten wurde so schließlich zu einer inneren Überzeugung von Mehrheiten. Er ist hinausgetragen worden an die Schulen, an die Universitäten, in die Öffentlichkeit. Und dann ist eingetreten, was Heuss als Voraussetzung sah, um – wie er es sagte – "den Namen unseres Volkes wieder zu reinigen".

Begeben wir uns jetzt mit Theodor Heuss noch einmal auf einen Rundgang, auf einen Spaziergang, eine Erkundungsfahrt, diesmal in Berlin. In der Gegend, wo ich wohnte, am Bayerischen Platz, sieht er an Laternenmasten Hinweistafeln befestigt, nicht besonders groß, die an die Entrechtung der Juden in der NS-Zeit erinnern. Wir gehen vorbei an Hauseingängen, vor denen Stolpersteine aus Bronze eingelassen worden sind, die an ermordete Einwohner erinnern. Vielleicht stoßen wir, wenn wir gerade jetzt dort vorbeigehen, auf Menschen, die anlässlich des 9. November auf den Knien liegen und diese Steine putzen. Wir stoßen in der Mitte Berlins auf ein Mahnmal, auf viele Mahnmale, die von der Schuld der Deutschen gegenüber den Juden, den Sinti und Roma und den Homosexuellen zeugen. Und wenn wir weitergehen, so begegnen wir im Reichstag einer Schulklasse, die gerade über Deutschlands freigewählte Parlamente debattiert. Und Theodor Heuss wird in diesem Moment erkennen, dass es – auch dank seines politischen Wirkens – gelungen ist, neben die Erinnerung an die Verbrechen die Erinnerung an die Freiheitstraditionen unseres Landes zu stellen.

So erinnern wir heute an das, was Theodor Heuss unserer Demokratie gegeben hat. Richtlinien waren es nicht, wohl aber Richtung. Und der wollen wir weiter folgen.

Es bleibt der Dank für sein Handeln, das die Bürger mit ihrem Staat anzufreunden verstand und es bleibt der Dank für eine Haltung, der Hass fremd war. Für Heuss war es der Mut zur Liebe. Er fragte: "Bedarf es dessen? Ja! Der Hass folgt der Trägheit des Herzens; er ist billig und bequem. Die Liebe ist immer ein Wagnis. Aber nur im Wagen werden wir gewinnen."