Rede im Akropolis-Museum in Athen

Schwerpunktthema: Rede

Athen/Griechenland, , 6. März 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 6. März anlässlich seines Staatsbesuchs in der Hellenischen Republik eine Rede zum Thema "Europa: Erbe und Zukunft" gehalten: "Diese Krise hat Europa mit einer Wucht getroffen, die die Europäer zu Anstrengungen von historischem Ausmaß veranlasst hat. Wir zeigen trotz aller Debatten wechselseitig Solidarität in einer Art, die in der Geschichte Europas und überhaupt in den internationalen Beziehungen kein Vorbild kennt."

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede im Akropolis-Museum

"Europa: Erbe und Zukunft"

Efcharistó! Herzlichen Dank für die Einladung, an diesem so besonderen Ort sprechen zu dürfen.

Ich möchte den europäischen Gedanken mit diesem Ort zusammenbringen.

Wer hier, am Fuße der Akropolis, über Europa reden möchte, der kann gar nicht anders als mit der griechischen Antike zu beginnen – hier, wo die Demokratie ihren Ursprung nahm. Hier, an der Wiege von Kalokagathia, die die deutsche Klassik so maßgeblich beeinflusste. Hier, wo jene Zivilisation wurzelt, auf die wir uns in Europa heute wie selbstverständlich berufen.

Wie keine andere Kunst, wie keine andere Philosophie sind die Werke der griechischen Antike über Jahrtausende hinweg jung geblieben. Nirgends in Europa ein Schulabschluss ohne Pythagoras, kein geisteswissenschaftliches Studium ohne die Lektüre von Platon, Sokrates und Sophokles. Keine deutsche Literatur, keine Poesie ohne ihr griechisches Erbe. Was wäre Friedrich Hölderlin ohne die geistige Heimat, die Griechenland ihm bot? Was wäre unsere Architektur ohne hellenische Anleihen? In Berlin, in der Mitte, schauen Sie sich das Brandenburger Tor an mit seinen dorischen Säulen und seiner Attika – alles inspiriert von Ihrer Akropolis.

Das sind mehr als nur historische Zitate. Es sind Beweise einer fortdauernden Verbindung über Tausende von Kilometern und Tausende von Jahren. Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, bezeichnete seinen Staatsbesuch in Griechenland als Rückwanderung in die eigene geistige Heimat. Denn Griechenland lebt hier und überall in Europa – es lebt in uns allen. Und so stehe ich nun vor Ihnen und weiß: Die gemeinsame Kulturgeschichte ist ein starkes Band, das uns in Europa verbindet. Und dies hier ist ein guter Ort, um nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über Gegenwart und Zukunft zu sprechen.

Lassen Sie mich mit dem Meistzitierten beginnen, den gemeinsamen Werten. Sie spielen in den Europareden mit Recht eine große Rolle, scheinen manchen fast schon formelhaft und sind doch alles andere als selbstverständlich. Die aktuelle Politik erinnert uns allzu oft daran. Ich möchte es angesichts der aktuellen politischen Situation noch einmal bekräftigen: Unser Europa heute ist ohne die griechische Antike genauso wenig vorstellbar wie ohne das Christentum, das sich mit der Antike verband, oder ohne das Rechtsdenken, das – aus dem antiken Rom stammend – unser bürgerliches Recht bis in die Gegenwart beeinflusst.

Wir wissen es genau: Zwar wurden diese Werte im Laufe der europäischen Geschichte manchmal auf furchtbare Weise verzerrt und mit Füßen getreten. Während der Religionskriege in der frühen Neuzeit galt die Freiheit nur wenig. Oder: Der Kommunismus hat die Hoffnung der Menschen auf Gerechtigkeit missbraucht. Oder: Der Nationalismus hat ihre Gemeinschaftsgefühle korrumpiert. Aber trotz all dieser Irrwege wurden diese gemeinsamen Werte, von denen wir sprechen, immer wieder neu entdeckt und mit Leben erfüllt. Das zeigte sich gerade in dem Verhältnis unserer beiden Länder mit großer Deutlichkeit.

Griechenland, ich erinnere mich, war einer der ersten Staaten, die den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand zur Versöhnung reichten. Dabei hatte das Land – Ihr Land – ungeheuer unter der nationalsozialistischen Besatzung gelitten. Es musste Berlin einen Kredit gewähren und wurde wirtschaftlich ausgebeutet. Zehntausende wurden ermordet – darunter, wie überall in Europa, unzählige Juden. Und dennoch war es einer griechischen Einladung zu verdanken, dass der erste Staatsbesuch von Theodor Heuss, dem ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, 1956 hierher nach Athen führte.

Ein weiteres Mal setzte Griechenland Vertrauen in die Deutschen, als die Mauer fiel. Manche europäischen Nachbarstaaten befürchteten, dass das vereinte Deutschland wieder nach Dominanz in Europa streben werde. Nicht so die Griechen. Über alle innenpolitischen Differenzen hinweg gestanden sie dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht zu und hofften auf eine die Integration vorantreibende Europapolitik.

Wichtig ist mir, an dieser Stelle aber auch feststellen zu können: Deutschland hat den Griechen ebenfalls vertraut und dem Land geholfen, zur Demokratie zurückzukehren. Denken Sie an die Zeiten der Militärdiktatur. Damals stand die Bundesrepublik an der Seite der griechischen Opposition, gab Flüchtlingen ein zweites Zuhause, war mal Vermittler, mal Sprachrohr. Kostantinos Simitis, Teilnehmer am Widerstand gegen die Militärdiktatur und später Ministerpräsident eines demokratischen Griechenlands, fand in Westdeutschland ebenso politisches Asyl wie der heutige Präsident Karolos Papoulias, der damals in München und Köln Jura studierte.

Wenn wir heute an diese gemeinsamen Beziehungen erinnern, dann nicht, weil ich eine Geschichtsstunde geben möchte. Das möchte ich gewiss nicht. Im Gegenteil – es geht mir um die Gegenwart der Staaten in Europa. Sich das Werden dieser Gemeinschaften bewusst zu machen, kann allerdings helfen, unser Miteinander besser zu verstehen.

Schon lange bevor ich diese Reise antrat, war klar: Es wird ein Besuch in einem Land mitten im Umbruch – Hoffnungen und Härten aller Art eingeschlossen. Griechenland hat ein Reformprogramm begonnen, das mit immensen politischen Anstrengungen und mit schmerzhaften Einschnitten für weite Teile der Bevölkerung verbunden ist. In der Ferne lesen sich die Kommentare über diesen Prozess höchst unterschiedlich: von großer Skepsis angesichts von Zahlen und Defiziten bis hin zu einem bewussten Zweckoptimismus. Wenn man dann mit Menschen spricht, die den Umbruch hautnah miterleben, erkennt man auch die alltägliche und die existentielle Seite der Krise.

Und es bedrückt mich sehr, wenn ich hören muss, was so viele Griechinnen und Griechen aushalten und durchhalten im siebten Jahr der Krise. Wie diejenigen unter der Krise am stärksten leiden, die diese Krise ja keineswegs verursacht haben. Wie groß die Verarmung der bereits Arbeitslosen und wie groß die Ängste vor dem Verlust des Arbeitsplatzes bei noch Beschäftigten sind. Wie weit verbreitet die Sorgen sind, nicht mehr über das Geld verfügen zu können für die Bildung der Kinder, für das nötige Paar Schuhe, für das nächste Mittagessen, für die eigene Gesundheit. Und wie sehr Familien und persönliche Beziehungen unter diesem Druck leiden. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die deutsche Bevölkerung das auf gleiche Weise aushalten könnte. Ich kann mir das wirklich nur schwer vorstellen.

Um aus dem Tal heraus zu kommen, bringen viele Menschen Opfer, enorme Opfer. Und viele spüren, dass die Reformen hart sind, aber nötig. All denen, die das verstehen, möchte ich hier in Athen meinen Respekt zollen. Chaos und Anarchie haben sich auch in heiklen Phasen nicht ausgebreitet. Als Demokrat und als Europäer danke ich allen Ihren Landsleuten, die trotz dieser schwierigen und bedrückenden Umstände besonnen geblieben sind. Insbesondere danke ich denen, die im Meinungsstreit darauf hinweisen, dass die schmerzhaften Reformen nicht erfolgen, um den Forderungen Europas oder gar Deutschlands zu genügen, sondern um dem eigenen Land den Weg in eine bessere Zukunft zu bereiten.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich das Thema Krisenbewältigung überhaupt ansprechen soll und ob es nicht eine Anmaßung ist, als Gast überhaupt darauf einzugehen. Zwar kann ich durchaus Erfahrungen aus anderen Regionen Europas hierher mitbringen. Aber vor allem bin ich aus einem anderen Grund gekommen: Ich möchte Sie meiner Solidarität versichern. Einer Solidarität, die damit beginnt, die Situation des Gegenübers überhaupt erst einmal wahrzunehmen, um dann, wo gewünscht, Unterstützung anzubieten.

Besonders belastet mich in diesem Zusammenhang die hohe Jugendarbeitslosigkeit: für die jungen Menschen selbst, aber auch für die Kommunen und nationalen Regierungen, die nicht nur in Griechenland dringend nach Lösungen suchen. Wer im Berufsleben nicht Fuß fasst, bleibt finanziell, oft auch gesellschaftlich, im Abseits. Die eigene Familiengründung wird aufgeschoben. Sehr viele werden nur noch aufgefangen durch die familiäre Solidarität, die es hier in so beeindruckender Weise gibt. Das Vertrauen in Staat und Marktwirtschaft schwindet, je länger die Perspektivlosigkeit andauert.

Uns alle verbindet die Einsicht: Europa kann und darf es sich nicht leisten, eine ganze Generation zur Passivität zu verdammen. Wenn die gemeinsame Kultur, die gemeinsamen Werte, Interessen und Ziele in Europa Zukunft haben sollen, so nur dann, wenn junge Menschen sich nicht im Stich gelassen fühlen. Lassen Sie uns alles daran setzen, dass die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit bald Ergebnisse zeigt. Wir sind gern bereit, unsere guten Erfahrungen mit dem Konzept der dualen Ausbildung, das sich in Deutschland und anderen Ländern in unserer Nachbarschaft bewährt hat, mit Griechenland und anderen zu teilen. Ich werde morgen einen Ausbildungsbetrieb des Hotelfachwesens hier in Athen besuchen, um zu sehen, dass solche Kooperationen möglich und sinnvoll sind und wie man sie voranbringen kann.

In Athen ersann Aristoteles einst das Zoon Politikon, den Menschen als soziales Wesen. Der Mensch – sagte er – sei ein auf Gemeinschaft ausgerichtetes Wesen. Der Mensch realisiere mit der Staatenbildung seine Suche nach Glück. Erst in einem Staat lasse sich eine Ordnung durchsetzen, die den Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit entspricht.

Nun ringen die Menschen seit Jahrhunderten darum, welche Ordnung das Allgemeinwohl am besten zu realisieren imstande ist. Wir in Europa sind zu Recht stolz auf die parlamentarische Demokratie und den Rechtsstaat, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg und dann noch einmal nach dem Zusammenbruch des Kommunismus durchgesetzt hat. Aber auch die Demokratie hat nicht einfache Antworten parat auf Krisensituationen, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben.

Ich glaube, das Wichtigste, das man einem Land in einer solchen Lage wie Griechenland wünschen kann, ist die Stärke, nicht in Depression oder Fatalismus zu verfallen. Regierung wie Bevölkerung haben schon einiges geschafft. Aber sie brauchen miteinander einen langen Atem, Entschlossenheit und Geduld. Es braucht Zeit, bis die positiven Auswirkungen von Reformen im Alltag ankommen, bis sich die Beschäftigungsperspektiven und die materielle Situation verbessern. Ich bin mir aber sicher: Der Weg führt zum Ziel, wenn Sie die eingeschlagene Richtung beibehalten.

Erlauben Sie mir, diese Zuversicht mit einer Transformationserfahrung zu begründen, die viele Menschen in den postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas nach 1990 gemacht haben. Erfahrungen lassen sich zwar nicht eins zu eins übertragen. Aber manche Maßnahmen und das Lebensgefühl, das mit großen Veränderungen in einer Gesellschaft einhergeht, sind in einigen Phasen doch sehr ähnlich.

Ich teile die Erinnerungen vieler Mittel- und Osteuropäer, die einst wie ich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lebten. Europa, das war für uns ein Glücksfall, aber der plötzliche Einstieg in den Binnenmarkt und in den Wettbewerb, das war auch mit Druck und Unsicherheit verbunden.

Ich erinnere mich noch gut an den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft – da gab es nicht nur Gewinner. Einigen erschien dann plötzlich der frühere Käfig im Rückblick fast wie eine Komfortzone. Diese Zeit war bitter. Sie bedeutete vielfach Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst, für viele auch Auswanderung – manchmal für immer, manchmal mit jahrelangen Trennungen von den Familien. Doch dann kam die befreiende Erfahrung, dass wir endlich nicht mehr abhängig waren von Obrigkeiten mit paternalistischem Gestus und ihrer fürsorglichen Lebenslenkung und dass die neue Freiheit tatsächlich neue Möglichkeiten für die eigene Existenz bereithielt. Es kamen die ersten – zunächst kleinen – Erfolge, es kam der Aufschwung – und unsere Länder wurden auch für einen Teil der Ausgewanderten wieder attraktiv. Viele kehrten zurück. Wenn ich heute in meiner Heimatstadt Rostock an der Ostsee, in Warschau oder Riga unterwegs bin, dann treffe ich immer wieder Menschen, die fast wortgenau das Gleiche erzählen können: Der Umbruch war hart, aber er war notwendig und er hat sich für die Mehrheit gelohnt. Er eröffnete eine neue Zukunft.

Transformationsprozesse sind allerdings immer und überall auch begleitet von Ängsten und Misstrauen. In solchen Situationen können Schwarzmaler, Populisten und all jene, deren Phantasie nicht ausreicht, sich das bessere Morgen vorzustellen, unter Umständen relevante Teile der Öffentlichkeit für sich einnehmen. Ich weiß, dass es nicht wenige Griechen gibt, die sich ungerecht von Europa und von Deutschland behandelt fühlen. Aber wir sollten uns daran erinnern: Die Regeln für den Ausweg aus der Krise sind keine Willkür und erst recht kein Diktat von außenstehenden Akteuren. Sie führen vielmehr zurück zu der von uns gemeinsam beschlossenen Basis des Zusammenlebens. Sie erinnern uns alle an unsere Selbstverpflichtungen. Lassen wir daher nicht zu, dass wieder ein Freund-Feind-Denken geschürt wird. Lassen wir nicht zu, dass mit alten Aufrechnungen alter Groll neu angefacht wird. Wirklich zukunftsträchtig ist nur, wenn wir – auch mit deutscher finanzieller Unterstützung – Projekte entwickeln, die Gräben zuschütten und Brücken bauen.

Suchen wir nach Lösungen, die im Dialog gefunden werden. Lassen Sie uns an einem Strang ziehen, um den Weg aus der Talsohle zu gestalten. Dann kann es auch geschehen, dass Menschen als Chance erkennen, wovor sie lange zurückgeschreckt sind, weil alte Strukturen aufgebrochen wurden oder lieb gewonnene Privilegien fielen.

Europa hat in der Krise doch Stärke bewiesen. Diese Gemeinschaft ist zwar hochkomplex, aber sie ist eben auch belastbar. Wir haben nachjustiert und werden wohl auch weiter nachjustieren, von den Aufgaben her wie von den Institutionen. Europa, so haben wir es in den letzten Jahren gesehen, ist doch lern- und reformfähig.

Wenn also Kritik zu üben ist, so nicht pauschal an den europäischen Institutionen, sondern daran, dass wir alle unsere gemeinsamen Regeln und Institutionen nicht ernst genug nahmen und dass wir sie nicht ausreichend schnell entwickelten. Wir haben – zum Teil auch im Westen – ein Auge zugedrückt oder gleich ganz weggeschaut, wenn es politisch opportun erschien. Statt Scheinruhe und Scheinreichtum zu erzeugen, sollten wir aber darum ringen, neue, tragbare Lösungen zu finden.

Ohne Zweifel hat die Europäische Union in den vergangenen Jahren die schwerste Krise seit ihrer Gründung erlebt: eine Schulden- und Finanz-, eine Wirtschafts- und Wachstumskrise gleichzeitig. Auch als Führungs- und Vertrauenskrise mag man sie durchaus sehen. Ja, es war ein schwerwiegender Fehler, ungleich entwickelte Volkswirtschaften ohne ausreichende Gemeinsamkeit bei der Finanzpolitik in einem Währungsverbund zu vereinen. Ja, es gab eine unsinnige Tendenz, Brüssel auch über Dinge entscheiden zu lassen, die viel besser lokal, regional oder national entschieden worden wären. Ja, es gibt berechtigte Forderungen, dass in der Europäischen Union legitimer, demokratischer und effizienter vorgegangen wird.

Zugleich stimmt aber auch: Diese Krise hat Europa mit einer Wucht getroffen, die die Europäer zu Anstrengungen von historischem Ausmaß veranlasst hat. Wir zeigen trotz aller Debatten wechselseitig Solidarität in einer Art, die in der Geschichte Europas und in den internationalen Beziehungen kein Vorbild kennt. Wir Europäer haben in der Krise auch neue Institutionen geschaffen, um handlungsfähig zu bleiben, denken wir etwa an den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM. Und die deutsche Politik hat daran mitgewirkt, obwohl manche Politiker in den Jahren zuvor derartige Rettungsmechanismen rundheraus abgelehnt hatten.

Das Kernanliegen der EU erscheint mir nicht nur unbestritten, es erweist sich angesichts der Entwicklungen in der letzten Zeit sogar als immer berechtigter: Wir brauchen gemeinsame Institutionen und eine gemeinsame Politik, um das zu regeln, was die Nationalstaaten alleine nicht mehr sinnvoll allein regeln können. In Bezug etwa auf die globalisierte Wirtschaft oder den Klimaschutz wissen wir dies seit langem. In Bezug auf die Sicherheit, den Datenschutz, die Außen- oder Flüchtlingspolitik wird uns dies zunehmend und in aller Dringlichkeit bewusst.

Inzwischen ist es fast zu einem geflügelten Wort geworden, dass Solidarität und Solidität zusammengehören wie die beiden Seiten einer Medaille – oder einer Münze, um beim Thema Euro zu bleiben. Bei allen Schwierigkeiten, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, empfinde ich Dankbarkeit dafür, dass bei der Stabilisierung unserer gemeinsamen Währung wichtige Fortschritte gelungen sind. Ich kann mir nur schwer vorstellen, zu welchen Verwerfungen es in Griechenland, aber auch in der ganzen Europäischen Union gekommen wäre, hätten die Europäer nicht geholfen. Ich will es mir auch gar nicht vorstellen. Aber was ich mir durchaus vorstelle ist, dass ein reformbereites Griechenland auch dann europäische Solidarität erfährt, wenn der Gesundungsprozess länger dauert, als wir es alle erhoffen.

Bei dem Thema Solidarität hatte ich ursprünglich vor allem an die bilaterale und die europäische Solidarität gedacht. Je mehr Gespräche ich im Vorfeld geführt habe und je intensiver ich auf Griechen gehört habe, die das eigene Umfeld aus ihrer eigenen Lebenserfahrung kennen, desto klarer wurde mir jedoch: Auch die innerhalb Griechenlands geübte Solidarität ist für ein modernes Griechenland ein wichtiges Thema. Ich denke zum Beispiel an den jungen griechischen Unternehmer im Ausland, der einen Teil seiner Gewinne gerade jetzt in der Heimat investiert – für Griechenland.

Ich denke an den Beamten, der mit Ende 50 gedanklich noch einmal neu anfängt und sagt: Ich will beitragen zum Ende der Korruption und zum Aufbau einer effektiven Verwaltung – für Griechenland.

Ich denke auch an eine Gewerkschafterin, die ihre Blockademacht nicht ausreizt, sondern sich für Kompromisse öffnet – für Griechenland.

Und ich denke an all die Bürgerinnen und Bürger, die zwar genug eigene Sorgen haben, aber trotzdem ihren Bürgermeister fragen: Was können wir tun – für Griechenland?

Alle diese Menschen haben meine große Anerkennung. Denn die Kraft für einen Neubeginn wächst aus der Mitte der Gesellschaft. Griechenland braucht jetzt – vielleicht mehr denn je – ein starkes Gemeinwesen. Der Zusammenhalt, den ich für die Zukunft der Bürgergesellschaft vor Augen habe, lässt sich am ehesten mit einer griechischen Familie vergleichen: lebendig, hilfsbereit, auf ein gutes Miteinander eingeschworen. Viele andere Länder beneiden Sie um diese Tradition. Ich wünsche Ihnen, dass diese positiven Muster möglichst oft auf den größeren gesellschaftlichen Rahmen übertragbar werden, dass Griechinnen und Griechen sich mit eigenen Werten und Ideen in ihr Gemeinwesen einbringen. Dann wird auch ein neues Verhältnis zum Staat, zu seinen Institutionen und Repräsentanten entstehen.

Ja, so entsteht ein kraftvolles Bild vor meinen Augen: Die Grecovery, getragen und gestaltet von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes! Sie bemisst sich dann nicht nur an Wirtschaftsdaten, sondern zum Beispiel auch an der Anzahl der Vereine oder der Initiativen, die gegründet werden, an all den Projekten, mit denen Griechen für ihre Belange einstehen.

Unversehens sind wir mit diesen Gedanken wieder bei Aristoteles angekommen, bei seinem Menschenbild, dem Zoon Politikon.

Nur der Mensch, der sich im öffentlichen Raum für das Allgemeinwohl einsetzt, kann in der Welt von heute wirtschaftlichen Aufschwung, Sicherheit, Rechtssicherheit und einen demokratischen Staat erhalten. Ich treffe diese Feststellung hier in Griechenland und für Griechenland. Aber ich weiß: Sie gilt doch für ganz Europa. Ohne verantwortungsbereite Bürger, ohne die Bürgergesellschaften in den einzelnen europäischen Staaten haben prosperierende, solidarische Gemeinwesen keinen Bestand. Europa kann nur Zukunft haben, wenn wir es wollen. Und wir sollten es wollen, da es zu unser aller Nutzen ist: Ein Raum, der größere Chancen für Wohlstand und Frieden schafft als jeder Nationalstaat.