Rede an der Karls-Universität

Schwerpunktthema: Rede

Prag/Tschechien, , 6. Mai 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 6. Mai während seines Staatsbesuchs in der Tschechischen Republik eine Rede an der Karls-Universität Prag gehalten: "In diesem Jahr können wir bereits ein Vierteljahrhundert in Freiheit und Unabhängigkeit feiern. Wir wissen diese Tatsache zu schätzen, gerade weil sie keineswegs selbstverständlich ist in Europa. Wir werden alles daran setzen, dieses mühsam erworbene Gut zu schützen."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede in der Karls-Universität Prag

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Ich bin froh, heute Ihr Gast zu sein.

Prag im Frühjahr – das wirkt immer beflügelnd. Und bei mir weckt es Gefühle und Erinnerungen an einen Besuch kurz nach der Samtenen Revolution. Wie betäubt lief ich durch die Straßen, die mich durch ihre Schönheit faszinierten, obwohl ihre Fassaden noch grau waren. Berauscht von dem Gefühl: Endlich steht uns, die wir hinter dem Eisernen Vorhang abgeschnitten waren, die ganze Welt, die ganze Zukunft offen. In diesem Jahr können wir bereits ein Vierteljahrhundert in Freiheit und Unabhängigkeit feiern. Wir wissen diese Tatsache zu schätzen, gerade weil sie keineswegs selbstverständlich ist in Europa. Wir werden alles daran setzen, dieses mühsam erworbene Gut zu schützen.

Die Karls-Universität, diese ehrwürdige Institution, die mir heute mit der Verleihung ihrer Goldenen Medaille eine große Ehre erweist, kann uns dabei mit ihrer Grundidee ein Wegweiser sein.

Sie steht, als erstes, für Europa.

Ihr Gründer, Karl IV., war das, was wir heute einen Europäer nennen würden. Er war gewählter römisch-deutscher Kaiser und zugleich König von Böhmen. Sein Vater stammte aus dem Geschlecht der Luxemburger, seine Mutter aus dem alten böhmischen Herrscherhaus der Přemysliden. Karl IV. studierte in Paris und sprach fünf Sprachen: Lateinisch, Deutsch, Tschechisch, Französisch und Italienisch.

Die Universität zog Studenten aus vier Regionen an, die damals Nationes hießen. So wirkten Böhmen, Sachsen, Bayern und Schlesier an der Universität gleichberechtigt und vereint in der Unterrichtssprache Latein. Vielleicht sollten wir uns heute in Europa manchmal daran erinnern, was alles schon möglich war.

Die Karls-Universität steht, zweitens, für Chancen und Bedrohungen der Wissenschaft. Als älteste Universität in Mitteleuropa verkörpert sie eine der weltprägenden europäischen Ideen: Die europäische Universität, von Paris und Prag, von Bologna und Köln und so vielen anderen Orten, steht für die Vermittlung von Wissen, für die Freiheit von Forschung und Lehre, kurz für die intellektuelle Aneignung der Welt in der selbstverwalteten Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Letzten Endes steht die Universität, nach der unüberholten Formulierung Immanuel Kants, für den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Aus jahrhundertealter Erfahrung wissen wir aber, dass Universitäten nicht nur Orte der inneren und äußeren Freiheit waren und sind, sondern auch Orte der Zerstörung der Geistesfreiheit, Orte der Gleichschaltung und Selbstzensur. Die Karls-Universität hat beides erlebt: die Befolgung des Ideals und den erzwungenen Verrat des Ideals. Zeiten des gemeinsamen Lehrens und Lernens folgten bald Zeiten der Trennung. Die konfessionelle Intoleranz zwischen Hussiten und Katholiken endete mit dem Auszug der deutschsprachigen Studenten – so kam es zur Gründung der Universität von Leipzig. Später, am Ende des 19. Jahrhunderts, führten nationale Spannungen zur Spaltung der bislang völkerverbindenden Universität in zwei konkurrierende tschechische und deutsche Lehranstalten. Ein Miteinander gab es danach nicht mehr - vielleicht noch ein Nebeneinander, aber oft nur noch ein feindseliges Gegeneinander.

Den traurigen Tiefpunkt erreichte die nationalistische und sogar rassistische Politik mit der Okkupation der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland. Die tschechische Karls-Universität wurde für drei Jahre geschlossen, 1.200 Studenten und Professoren wurden ins Konzentrationslager deportiert. Nach dem Ende des nationalsozialistischen Alptraums folgten Jahrzehnte der kommunistischen Gleichschaltung. So blieb die Universität immer auch ein Abbild der historischen Ereignisse, ein Pars pro Toto der großen Politik. Von ihrem strahlenden Beginn unter einem charismatischen Kaiser stieg sie hinab in die Abgründe totalitärer Systeme. Doch dank etlicher widerständiger Tschechen und Slowaken bildet sie heute erneut einen Ort des freien Diskurses.

Für diese Ahnenreihe unabhängiger, demokratisch gesinnter Studenten und Professoren zolle ich der Universität meinen tiefen Respekt. Diese unabhängigen Geister mussten sich nicht nur gegen diverse Fremdherrscher behaupten; noch schwieriger war es zuweilen, sich gegen intolerante Meinungen der eigenen Landsleute zu stellen – eine Rolle, die viel Mut erforderte, da die Einzelgänger riskierten, zu Nestbeschmutzern oder Landesverrätern abgestempelt zu werden

Da ist zum Beispiel Tomáš Masaryk, der ab 1882 an der Karls-Universität lehrte. Später sollte dieser mutige Mann der erste Staatspräsident der Tschechoslowakei werden.

Sehr viel Mut erforderte im 20. Jahrhundert der Widerstand gegen die Besatzungsmächte. Als die Studenten der Karls-Universität 1939 gegen die deutschen Okkupanten demonstrierten, wurde ihr Protest brutal niedergeschlagen. Auch Jan Palach war ein Student der Karls-Universität. Nachdem er sich Anfang 1969 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings auf dem Wenzelsplatz mit Benzin übergossen und verbrannt hatte, wurde sein Begräbnis eine Massendemonstration, und Palach eine Symbolfigur für eine freie Tschechoslowakei. Nicht wenige Lehrende und Lernende der Karls-Universität gehörten später zu den Unterzeichnern der Charta ’77. Ich bin dankbar und fühle mich geehrt, von genau dieser Universität heute ausgezeichnet zu werden.

Und noch etwas:

Die Karls-Universität steht auch für Prag selbst, für diese zauberhafte, geheimnisvolle und auf so viele verschiedene Traditionen bauende Stadt. Sicher: Paris ist Europa, London ist Europa, auch Rom und Berlin sind Europa. Aber ist Prag nicht auf ganz besondere Weise noch ein bisschen mehr Europa? Französisch-deutsche Gotik, italienische Renaissance, Habsburger Barock, stuckverzierter Jugendstil neben avantgardistischen Bauten des Kubismus und des Bauhaus-Stils: In Prag finden wir wie kaum irgendwo sonst jenes Europa, das untrennbar verbunden ist in seinen kulturellen Bestandteilen; jenes Europa, das lateinisch und griechisch ist, katholisch und hussitisch, jüdisch und evangelisch, tschechisch, deutsch und auch polnisch. Ein Europa, das in dieser Stadt aus allen Elementen Wunderbares, Einmaliges hervorgebracht hat.

All dies steht uns heute wieder vor Augen als Symbol eines offenen und vielfältigen Europa. Jene, die aus ideologischen Gründen ein in ihrem Sinn gleichgeschaltetes Europa schaffen wollten, haben Tod und Leid über die Menschen gebracht und das europäische Demokratieprojekt zeitweilig unterdrücken können. Aber die Menschen in Prag und Warschau, Berlin und Budapest haben sich ihre Rechte, ihre Kultur und ihre Freiheit zurückgeholt.

Heinrich Böll, der deutsche Literaturnobelpreisträger, selber einst Soldat in Hitlers Armee, war in Prag zu Besuch, als am 21. August 1968 Panzer jenen Prager Frühling zermalmten, der in der Tschechoslowakei, ja, in ganz Europa so viele Hoffnungen geweckt hatte. Er hat über diese Tage einen bewegenden und noch heute lesenswerten Bericht geschrieben, voller Wut auf die Unterdrücker und voller Bewunderung für die Prager Frauen und Männer mit ihrer Trauer, ihrem Stolz, ihrer List, ihrem Humor und ihrem Widerstandsgeist.

Er hat diesen Bericht überschrieben: Der Panzer zielte auf Kafka, und schreibt im Text: Vor Kafkas Geburtshaus stand ein Panzer, das Rohr auf die Kafka-Büste gerichtet. Hier wurden Symbol und Wirklichkeit kongruent.

Der Panzer zielte auf Kafka: Hier ist tatsächlich in einer einzigen sinnfälligen Szene zum Ausdruck gebracht, was uns gerade hier in Prag, gerade hier in Tschechien bewegt, wenn wir an die Geschichte der Menschen und ihrer Kulturen denken, die hier lebten und leben.

Franz Kafka steht für jene besondere Mischung der Kulturen, für jenes jüdisch-tschechisch-deutsche Leben, das gerade für Prag so charakteristisch war. Doch: Auflösung des tschechoslowakischen Staates, Unterdrückung des Tschechischen und Ausrottung des Jüdischen – so führten die nationalsozialistischen Verbrechen das Ende dieser einzigartigen kulturellen Symbiose im Herzen Europas herbei. Kafka erlebte dieses Drama nicht mehr, weil er schon 1924 starb, aber seine Schwester Ottla wurde 1943 von den Nazis ermordet, seine große Liebe Milena Jesenská kam 1944 im KZ Ravensbrück um.

Der letzte Akt des Dramas folgte nach der Befreiung 1945, als auch die Deutschen ihre Heimat verlassen mussten, durch Flucht, Vertreibung, Zwangsaussiedlung, ethnische Säuberung, Odsun – wie immer Sie es nennen mögen – Schuldige und Unschuldige zugleich. Heute finden wir, trotz einer komplizierten Wahrheit, zu einem zunehmend differenzierten Geschichtsbild. Es stimmt mich optimistisch, dass gerade jüngere Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller und Künstler sich mit dieser noch immer emotional belasteten Geschichte auseinandersetzen. Es ehrt die Tschechische Republik, dass sie 2005 ihre Anerkennung gegenüber den sudetendeutschen Widerstandskämpfern und Verfolgten des Naziregimes zum Ausdruck brachte. Zu erinnern ist auch an die vielen oft namenlos gebliebenen Tschechinnen und Tschechen, die 1945, nach dem Krieg, ihren deutschen Mitbürgern Schutz boten.

Es ist gar keine Frage, dass die Geschichte der tschechisch-deutschen Beziehungen auch eine Geschichte des Leids ist. Manchmal erscheint es wie ein Wunder, dass wir unter der Last der Erinnerungen nicht schon längst erstickt sind. Manchmal erscheint es wie ein Wunder, dass es möglich war, uns überhaupt wieder in die Augen zu schauen, überhaupt wieder miteinander zu sprechen, überhaupt wieder den Mut zu finden, im Geiste von Verständigung und Versöhnung die Geschichte als eine gemeinsame fortzuschreiben. Wenn wir im Sinne von Václav Havel in der Wahrheit leben, finden wir Worte und Wege, die tatsächlich zur Versöhnung führen. Dank sei denen, die diesen schweren Weg vor uns bereits gegangen sind.

Die Erinnerung an die Kraft der Symbiose, an den Dialog, an die Kraft der gegenseitigen Durchdringung und Befruchtung von Kulturen und Lebensweisen, von Sprachen und Mentalitäten hat sich als dauerhafter erwiesen als die gewaltsame Durchsetzung einer Einheitskultur. Die auf Einsicht gründende Beharrlichkeit, die Unbeirrbarkeit der Gewissensüberzeugung haben sich als hartnäckiger erwiesen als Unterdrückung und Diktatur. Die Genauigkeit, ja, die Wahrheit einer durchdachten, sensiblen und einfühlsamen Sprache, nicht nur der dichterischen, haben sich als stärker erwiesen als Lüge und Propaganda.

Ich freue mich über die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von Tschechen und Deutschen. Es sind gerade die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrem Engagement etwas bewirken. Ich denke an den deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, die Austauschstudenten, die Schul- und Städtepartnerschaften, aber auch an Menschen und Initiativen, die die gemeinsame Tradition in Erinnerung rufen und in die Moderne übersetzen. Lenka Reinerová oder František Černý zum Beispiel, die zusammen mit Kurt Krolop das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren gründeten. Es gibt Menschen wie Pavel Kohout und heute Jitka Jílková, die das Prager Theaterfestival deutscher Sprache etabliert haben. Ihnen und vielen anderen gilt mein tiefer Dank.

All diese Menschen könnten nicht tun, was sie tun, hätte es nicht die Umwälzungen des Jahres 1989 gegeben, als der Frühling auch nach Prag zurückkehrte. 1989 konnten die Früchte geerntet werden, die, wenn Sie mir das paradoxe Bild gestatten, in einem jahrzehntelangen Winter reifen mussten. Tschechen und Deutsche, beide, hatten Erfahrungen gesammelt mit einem System, das, als sei es von Kafka beschrieben, gleichzeitig undurchschaubar, aber überall wirkungsvoll war, unpersönlich und erbarmungslos. Und Deutsche und Tschechen haben beide erfahren können, wie es ist, ein solches System zu besiegen.

Für mich und andere war und bleibt Václav Havel das große Vorbild: Unerschrocken, unbestechlich, selbst durch die Jahre im Gefängnis nicht gebrochen, führte er die Nation in die Demokratie und nach Europa.

So ist eine friedliche und gemeinsame Zukunft von Tschechen und Deutschen in einem gemeinsamen Europa tatsächlich möglich geworden. Und sie bleibt Realität, wenn die großen europäischen Werte von Individualität und Freiheit, von Gerechtigkeit und Vergebung, von Wahrhaftigkeit und Friedfertigkeit gemeinsam gelebt und immer wieder wirkmächtig werden.

Und gemeinsam fühlen wir in Europa eine Verpflichtung: nicht mehr zuzulassen, dass der Panzer auf Kafka zielt, dass Vielfalt zerstört wird, dass Gewalt über Geist triumphiert – nicht im Frühling, nicht im August. Zu keiner Zeit. Nirgendwo.