20. Bundeskongress des DGB

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 11. Mai 2014

Der Bundespräsident hat am 11. Mai zur Eröffnung des 20. ordentlichen Bundeskongresses des DGB eine Rede gehalten: "Freie Gewerkschaften sind ein wesentlicher Teil der Demokratie. Sie ermächtigen zur Teilhabe. Freie Gewerkschaften versetzen Arbeitnehmer in die Lage, ihre Interessen zu artikulieren, zu bündeln und erfolgreich einzufordern, sei es durch Verhandlungen oder auch durch Streik, vom Arbeitsschutz bis zum Tarifabschluss."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede bei der Eröffnung des Bundeskongresses 2014 des Deutschen Gewerkschaftsbundes in der Messe Berlin

Guten Morgen, hier im 20. Parlament der Arbeit und zunächst herzlichen Glückwunsch zu diesem runden Jubiläum. Hat jemand die Anträge gezählt, die seit der Gründung 1949 – eben von Ihnen erwähnt, Herr Sommer – von diesem Gremium formuliert worden sind? Oder die Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die Eingang in die Gesetzblätter fanden?

Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher: Es waren viele und sie haben das Leben sehr vieler Menschen in unserem Land ganz konkret verändert.

Kein Zweifel: Dieser Bundeskongress gibt Anlass zu einer dankbaren Rückschau. Aber er steht auch für eine Zäsur. Er fällt genau in das Jahr, in dem die Politik auf Kernanliegen deutscher Gewerkschaften eingeht und sie nun in Gesetze gießen will – darunter der flächendeckende Mindestlohn.

Außerdem findet dieser Kongress in einem Umfeld weiterer bedeutender Richtungsentscheidungen statt. Natürlich denke ich dabei an die Europawahl, aber ich denke auch an die bundesweiten Betriebsratswahlen und nicht zuletzt an den Führungswechsel bei Ihnen im DGB.

Lieber Herr Sommer, nun ist es so weit: Der Abschied rückt in greifbare Nähe. Ich möchte die vielfache Anerkennung, die Sie in diesen Tagen hören, gerne bekräftigen, für Sie persönlich, aber auch für viele, viele andere hier im Saal. In Zeiten von Umbruch, Aufbruch und Wandel ist es bekanntlich hilfreich, sich auf das Erreichte zu besinnen.

Danke, lieber Herr Sommer, für Ihre Hingabe und Ihre Hartnäckigkeit, für Ihre Weitsicht und auch für Ihre Kompromissbereitschaft, wenn sie nötig wurde – kurz: Danke dafür, dass Sie mit Ihrer guten Arbeit der guten Arbeit von Millionen Menschen in Deutschland zu Respekt und Anerkennung verholfen haben.

Das mit dem Ruhestand nehmen Sie nicht allzu wörtlich. Sie haben der Öffentlichkeit vorab verkündet, Sie würden den Mund halten, Sie hielten es nicht für fair, sich weiter einzumischen. Aber irgendwie, Herr Sommer, würde es uns doch fehlen, wenn Sie gar nichts mehr sagen. Das geht auch nicht.

Mein Dank gilt aber auch Ihnen sehr verehrte Delegierte, nämlich für die ungezählten Stunden, die Sie als Haupt- oder Ehrenamtliche tätig waren und die auch hier im Parlament der Arbeit geleistet wurden. Bitte tragen Sie meine große Wertschätzung hinaus in all die Mitgliedsgewerkschaften des DGB, und zwar auf alle Ebenen und zu allen aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, sei es im Betriebsrat in ihrem Unternehmen, als Projektleiterin in der Jugendarbeit, als Gewerkschaftsvertreter bei der Rentenversicherung oder etwa als Aufsichtsratsmitglied in einem globalen Konzern.

Gewerkschaftsarbeit hat – Sie wissen das besser als ich – viele Facetten und sie hat auch eine bewegte Vergangenheit, vor allem bei der demokratischen Emanzipation unseres Landes. Darauf möchte ich jetzt den Blick richten.

Wenn wir zurückblicken auf das Parlament der Arbeit, auf all die Jahrzehnte nach 1949, als die Mitbestimmung, die Tarifautonomie und die Sozialpartnerschaft verankert wurden, bekommen wir großen Respekt vor der Arbeit der Gewerkschaften im freien Deutschland.

Aber wir blicken auch noch weiter zurück in eine historische Dimension. Die deutsche Gewerkschaftsgeschichte umfasst ja inzwischen mehr als 150 Jahre. Und was ist sie? Sie ist eine Chronik der Selbstbefreiung in Etappen. Am Anfang ging es um ganz Existenzielles, um das Recht darauf, Koalitionen und Vereine zu gründen, um die Absicherung etwa bei Unfall oder Krankheit, um nicht gleich in völlige Armut abzurutschen – kurz um etwas, was wir heute Teilhabe, Vorsorge, Fürsorge nennen.

Damals erschien manchem Zeitgenossen das Verhältnis von Arbeit und Kapital als systembedingter und nur durch eine Revolution zu überwindender Antagonismus. Die Gewerkschaften wuchsen dann aus Widerstand und Verbrüderung und sie kanalisierten Aufruhr in gemeinsame Aktionen. Sie bezogen ihre Kraft aus dem millionenfachen Aufbegehren gegen Ausbeutung, Diskriminierung und Rechtlosigkeit.

Das hatte natürlich Antworten zur Folge und die waren oftmals sehr rigoros. Bismarck ließ die Gewerkschaften verbieten, Hitler ließ sie gleich zerschlagen. Diese frühen Brüche kosteten Gewerkschaften nicht nur Einfluss, sondern oftmals auch Menschenleben.

Einige von Ihnen hier im Saal, so auch ich, haben später eine andere Zeit erlebt, in der ein sogenannter Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, kurz: FDGB, existierte, ein verlängerter Arm der Einheitspartei SED, der bekanntlich alles andere als frei war. Auch in dieser Phase hätte eine unabhängige Gewerkschaft eine potenzielle Bedrohung für das Regime dargestellt. Linientreue Kader wussten das immer zu verhindern. Sie hatten Angst vor der Kraft, die der Mut entfachen kann, Angst vor einer Solidarność, die die Verhältnisse ins Wanken bringt, ungeachtet der persönlichen Risiken für die Freiheit.

Wer sich die großen Opfer vor Augen führt, die überzeugte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in Zeiten der Repression bringen mussten, der wird erkennen: Wirtschaftsdemokratie, betriebliche und unternehmerische Mitbestimmung und der Interessenausgleich der Sozialpartner sind ein kostbares Gut. Unsere Kompromisskultur ist mühsam errungen und auch in den jüngsten Jahrzehnten immer wieder neu justiert worden. Diese historische Leistung möchte ich voranstellen, nicht allein deshalb, weil wir ein Jubiläum im Parlament der Arbeit begehen. Die Rolle der Gewerkschaften in der deutschen Geschichte offenbart für mich den Kern dessen, was ihren besonderen Wert ausmacht. Freie Gewerkschaften sind ein wesentlicher Teil der Demokratie. Sie ermächtigen zur Teilhabe. Freie Gewerkschaften versetzen Arbeitnehmer in die Lage, ihre Interessen zu artikulieren, zu bündeln und erfolgreich einzufordern, sei es durch Verhandlungen oder auch durch Streik, vom Arbeitsschutz bis zum Tarifabschluss. Freie Gewerkschaften und freie Gesellschaften sind für mich untrennbar miteinander verbunden.

Wo es freie Gewerkschaften gibt, gelingt oft sogar das, was lange unerreichbar erschien: die einseitige Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht einzugrenzen, verkrustete Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft aufzubrechen und Räume zu eröffnen für eine Kraft des Ausgleichs. In Deutschland haben wir dafür einen Namen: Soziale Marktwirtschaft.

Als ich die Soziale Marktwirtschaft endlich aus der Nähe kennenlernte, in den 1990er Jahren, begann gerade die Zeit, in der die Gewerkschaften vielstimmig totgesagt und totgeschrieben wurden. Von Dinosauriern war damals spöttisch die Rede, für die kein Platz mehr sei angesichts der dynamischen Wirtschaftsprozesse in der Globalisierung. Rationalisierung, Digitalisierung, Flexibilisierung – das waren die Stichworte. Gewerkschaftsarbeit und gewerkschaftliches Engagement galten irgendwie als altmodisch, als uncool. Das war damals.

Wettbewerbsdruck neuer Art stellte die Versprechen der Sozialpartnerschaft tatsächlich auf eine harte Probe. Nach der Euphorie der deutschen Einheit folgte für die meisten Gewerkschaften eine Talsohle der Ernüchterung. Mit den Mitgliedern schwanden auch Einnahmen. Bald stand der DGB vor der Frage: Wie weiter? Zum Milleniumswechsel zeigte sich die Mehrheit der Beobachter einig in dem Urteil: Die Ära der Massenorganisationen war vorbei. Ob es nun Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen waren, ihre Erosion galt als unaufhaltsam, weil mit dem Siegeszug der Individualisierung genau jene Voraussetzungen rar wurden, die traditionellen Institutionen einst geholfen hatten zu erstarken: gemeinsame Ideale, gemeinsame Ziele und kollektives Handeln. Solidarität schien ihren Ankerplatz in unserer Gesellschaft fast verloren zu haben.

Und nun der Blick auf heute. Es freut mich, dass Sie in den vergangenen Jahren wieder einen regen Zulauf, auch Mitgliederzuwachs, von jungen Menschen zu verzeichnen haben. Allerdings würde es zu kurz greifen, die Zukunft allein an solchen Zahlen festzumachen. Die Schlüsselbegriffe in der einschlägigen Gewerkschaftsliteratur heißen Transformation und Revitalisierung. Dem DGB wird Offenheit für den Wandel abverlangt, zugleich setzt er auf traditionelle Forderungen, wie schon die Überschrift dieses Kongresses zeigt: Arbeit – Solidarität – Gerechtigkeit. Das klingt vertraut.

Und es führt mich zu den wichtigsten Fragen nach der künftigen Entwicklung. Welchen Grundsätzen können und müssen Gewerkschaften verpflichtet bleiben? Wo wird ihr Selbstbild besonders herausgefordert? Wo werden Veränderungen vielleicht sogar unausweichlich sein, wenn die gesellschaftliche Bedeutung von Gewerkschaften erhalten bleiben soll?

Lassen Sie mich mit dem Grundsätzlichen beginnen, mit dem Markenkern. Da bin ich zuversichtlich. Gewerkschaften werden auch künftig eine bedeutende Rolle in der Sozialen Marktwirtschaft spielen, nicht weil Globalisierung, Rationalisierung, Digitalisierung oder Flexibilisierung weniger wirkmächtig sind, sondern weil wir lernen und lernen müssen, neu damit umzugehen. Natürlich leben und arbeiten wir heute individualistischer als früher. Aber wir wissen auch, dass die Übernahme von Verantwortung für das Große und Gemeinsame weiterhin nur gelingen kann, wenn wir Bündnisse schließen, seien sie auch von neuem Format. Nur mit Bündnissen lässt sich die Ohnmacht des Einzelnen verhindern.

Ein weiterer Grund für meine Zuversicht: Gerade Sie, die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, haben gezeigt, dass Sie die Interessen von Arbeitnehmern in Zeiten des Umbruchs verteidigen können. Sie haben Erfolge vorzuweisen. Sie haben dabei auch gesamtgesellschaftliche Verantwortung bewiesen und Lösungen zur Sicherung der Beschäftigung gefunden. Maßvolle Lohnabschlüsse sind eben von Zeit zu Zeit gesamtgesellschaftlich nützlich. Flexible betriebliche Vereinbarungen und Kurzarbeit, nicht nur im Krisenjahr 2008, sondern auch in den vielen Jahren davor und danach, sprechen eine eigene Sprache der Verantwortung über den Kernbereich dessen hinaus, was für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erlangen ist.

Es ist nicht immer leicht, allen Mitgliedern klarzumachen, dass Zugeständnisse langfristig für die gesamte Belegschaft, sogar für die Gesellschaft insgesamt von Vorteil sein können. Aber wir brauchen diese Form der Verantwortung weiterhin. Wenn wir uns unsere Gewerkschaften im europäischen Vergleich vor Augen führen, dann sehen wir, dass wir mit diesem Ansatz nicht erfolglos, sondern erfolgreich waren. Für diese Ergebnisse dürfen ruhig auch Dankbarkeit und Stolz entstehen. Indem diese Politik verfolgt wurde, dass man Partikularinteressen für seine Mitglieder vertritt, aber sie gleichwohl nicht überdehnt, haben wir bewiesen, dass wir beides sein können: verantwortungsbewusste Staatsbürger und tatkräftige Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter.

Nun komme ich auf ein relativ neues Problem, das darin besteht, dass es mitunter auch zur Entsolidarisierung im Bereich derer kommen kann, die eigentlich zusammen stärker sind. Das geschieht gelegentlich in unseren Betrieben und Unternehmungen. Es kann dann zu einer Beschädigung unseres bewährten deutschen Modells kommen, indem einzelne Berufsgruppen ihre Schlüsselstellung missbrauchen, um Eigeninteressen gegen Gemeininteressen durchzusetzen. Das wird uns noch eine Zeit lang begleiten und ich sehe auch noch nicht völlig, wie der Konflikt gelöst werden kann.

Die Debatte um eine vernünftige Tarifordnung wird auch auf diesem DGB-Kongress geführt werden. Ich verfolge Ihre Diskussion mit großem Interesse, davon können Sie ausgehen. Über gesamtgesellschaftliche Verantwortung spreche ich übrigens nicht nur hier beim DGB. Diesen Schlüsselbegriff verwende ich in vielen meiner Reden – Sie werden ihn finden, wenn Sie nachlesen –, zum Beispiel im vergangenen Herbst bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände oder im Januar beim 60. Jubiläum des Walter-Eucken-Instituts in Freiburg oder jüngst beim Bankentag. Dort werde ich immer auch auftreten mit dem Verweis darauf, dass Verantwortung sich nicht nur darstellt bei der Förderung und Sicherung eines möglichst hohen Bilanzgewinns, sondern dass es darüber hinaus Verpflichtungen gibt, die zu unserer gesamten demokratischen Gesellschaft gehören. Wir brauchen einen erweiterten Verantwortungsbegriff, wenn wir unsere Demokratie zukunftsfähig machen wollen.

Vielleicht sollte ich erzählen, dass ich mit Besuchern aus dem Ausland – es sind ja oft Präsidenten im Schloss Bellevue zu Gast – oder auf Reisen mit Delegationen in fremde Länder oft über den Bereich Wirtschaft, aber auch über Gewerkschaften und über Soziale Marktwirtschaft rede. Denn ich finde, dass wir hier und im Norden Europas wunderbare Vorbilder für viele Regionen der Welt darstellen können, in denen noch Ausbeutung und bitterste Armut herrschen. Deshalb werde ich oft gefragt: Wie ist das überhaupt gelungen, wie seid ihr überhaupt auf diese Sozialpartnerschaft gekommen? Und warum finden sich in diesem deutschen Modell die Akteure in einer Weise zusammen, während es anderswo unversöhnliche Gegensätze gibt? Übrigens auch in Europa.

Natürlich muss man bei solchen Vergleichen nicht alles pauschalisieren. Das wäre vermessen. Zu unterschiedlich sind die kulturellen Kontexte und die strukturellen Unterschiede, in denen Gewerkschaftsarbeit in Europa und weltweit tatsächlich stattfindet. Gleichwohl versuche ich immer, die Stärken unseres Modells nachvollziehbar zu machen. Einer der wichtigsten Punkte in meinen Augen: Unser Modell ist eben nicht von oben verordnet, sondern es ist seinerzeit von unten gewachsen, und es ist Ergebnis eines langen und von der Basis getragenen Prozesses, Rückschläge inklusive. Dabei festigte sich die Einsicht: Blockade ist manchmal – eher selten – nötig, aber sie ist die Ultima Ratio. Denn Konfrontation als Dauerzustand wird meistens sehr teuer für alle Beteiligten, auch für die Gesellschaft.

Deutschland liegt also nicht zufällig am Ende internationaler Streikstatistiken. Kein Gewerkschafter hier im Raum muss sich deswegen schämen, denn wir können Ergebnisse für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande vorzeigen.

Allerdings: Wenn es um erreichte Erfolge für die arbeitenden Menschen geht, liegen die deutschen Gewerkschaften – das versuchte ich eben ganz deutlich auszudrücken – sehr weit vorn. Die meisten Menschen erleben, dass Kompromisse beiden Seiten gerecht werden. Das klingt einfach. Die Umsetzung im Alltag bringt aber hohe Ansprüche mit sich, wie wir alle wissen, und sehr stresshafte Verhandlungen. Da merken wir: Es gibt auch Streitformen, die erforderlich sind. Solange es uns gelingt, sie in einem demokratischen Kontext zu gestalten und mit einem konstruktiven Ergebnis zu beenden, so lange lasst uns ruhig streiten, wenn es nötig ist.

Ich habe gehört, dass auch der DGB häufig von Partnern aus anderen Teilen der Welt, insbesondere aus europäischen Staaten, gebeten wird, die Praxis des sozialpartnerschaftlichen Miteinanders zu erläutern, etwa unsere Form der betrieblichen Mitbestimmung. Unsere Erfahrungen stoßen offenbar auf Interesse und auf Wertschätzung, auch dort, wo sie noch nicht direkt übernommen werden. Ich glaube, der DGB kann den alten Niedergangsphantasien heute sehr viel Konkretes entgegensetzen.

Die Revitalisierung hatte natürlich ihren Preis. Die immensen Anstrengungen der organisatorischen Neuaufstellung der Gewerkschaften Anfang des Jahrtausends haben Sie weit besser in Erinnerung als ich, sicher auch die schmerzhaften Auseinandersetzungen um gesellschaftspolitische Neuerungen wie die Agenda 2010. Nun ist die Transformation der Märkte, ebenso die Anpassung nationaler Rahmenbedingungen bekanntlich weiterhin im Gange – Veränderungsbedarf, wohin man auch schaut. Etliche Themen werden Sie im Laufe dieses Kongresses aufgreifen, etwa den globalen Handel, die Ausgestaltung der Energiewende, den Umgang mit Flüchtlingen oder die Zukunft der Pflege. Diejenigen, die einst als Dinosaurier tituliert wurden, sind heute vitale Teilnehmer des politischen Diskurses und der Ausgestaltung.

Beim Arbeitgebertag habe ich gesagt: Arbeitgeber geben mehr als Arbeit, kein Zweifel. Heute sage ich hier analog: Gewerkschaften verhandeln mehr als Lohn. Besonders deutlich wird dies für mich bei Ihrem Antrag mit dem Titel Leitlinien für gute digitale Arbeit, der vielen Arbeitnehmern sicher aus dem Herzen spricht. Gibt es ein Recht auf Nichterreichbarkeit außerhalb derregulären Arbeitszeit? Was kann regulär angesichts der verschwimmenden Grenzen analoger und digitaler Arbeit eigentlich noch bedeuten? Wie muss der Arbeitsschutz daran angepasst werden – oder der Datenschutz? An solchen Diskussionen zeigt sich für mich, dass die deutschen Gewerkschaften verstehen, worum es in diesem Jahrtausend der Vielfalt, der Vernetzung und der Ambivalenz eigentlich geht.

Was bedeutet all das nun für den aktuellen Umbruch und Aufbruch, von dem ich eingangs sprach? Ich will Ihren Debatten im Einzelnen natürlich nicht vorgreifen, aber ich möchte drei aus meiner Sicht besonders signifikante Schwerpunkte der Veränderung aufgreifen, man könnte auch sagen: Kristallisationspunkte für ein künftiges Selbstbild.

Das erste Thema – es ist gerade schon angeklungen: Die Arbeitswelt ist nicht nur immer vielfältiger geworden, sondern auch schnelllebiger, wechselhafter, unübersichtlicher, Tendenz weiter steigend. Diese Entwicklung steht natürlich im Kontrast zum klassischen Bild des Gewerkschaftsmitglieds. Lange war das statistisch betrachtet ein Mann, vollbeschäftigt und mit guten Aussichten, von der Ausbildung bis zur Rente im gleichen Betrieb zu verbleiben. Heute stellt sich die Frage: Wie gelingt es Gewerkschaften, Arbeitnehmer mit höchst unterschiedlichen Erwerbsbiografien zu erreichen? Wessen Interessen wollen bzw. können sie vertreten? Ganz praktisch formuliert: Wie kann man dem gestandenen Facharbeiter, der per Abendstudium in das Management aufsteigt, aber zugleich auch der jungen Ingenieurin, dem Minijobber oder der Alleinerziehenden gerecht werden?

In Ihrem Antrag für eine Neue Ordnung der Arbeit haben Sie, verehrte Delegierte, eine Fülle dieser Aspekte aufgegriffen. Was darüber hinaus viele Betroffene umtreibt: Haben auch die Interessen der Menschen ohne Arbeitsplatz genügend Raum auf der Gewerkschaftsagenda? In Zeiten robuster Beschäftigungszahlen gerät dieser Punkt schnell in den Hintergrund. Irrelevant ist er dennoch natürlich nicht.

Hinzu kommt außerdem die Generationenfrage: Sind die Gewerkschaften darauf vorbereitet, die Lobby der Lebensälteren, einer deutlich wachsenden Gruppe, und die Anliegen der Jugend auszutarieren? Eine wirklich große Aufgabe, denn in jedem unserer Gremien wie in der ganzen Politik bildet meine Alterskohorte schnell die Mehrheit. Hier Solidarität zu beweisen, erfordert manchmal Mut und Engagement und Tatkraft und Entschlossenheit. Ich wünsche mir das gerade auf diesem Felde, wo wir unsere Gesellschaft in der Zukunft zu gestalten haben. Für mich ist das mehr als ein Seitenthema. Ich sehe den demografischen Wandel als zweiten Kristallisationspunkt für Veränderung. Man denkt, wenn man die Formel hat, hat man das Problem schon beseitigt. Aber denken wir nur an die kommenden Wahlen – wem wird man wohl mehr versprechen? Sie merken, wie sehr ich mir als Großvater und Urgroßvater Sorgen um die mache, die mir aus der jungen Generation nahe stehen, nicht nur als Urgroßvater, natürlich auch als Präsident.

Offen gesagt, in den vergangen Jahren habe ich landauf, landab erlebt, dass das ein Thema ist, das alle Menschen angeht, alle betrifft, ganz besonders die jungen. Ich finde, es wird nicht intensiv und entschieden genug debattiert. Ich habe aber das Gefühl, dass es sich lohnen würde, die Größe der Herausforderung durch den demografischen Wandel wahrzunehmen und die Suche nach Best Practice-Projekten zu intensivieren.

Die neue Balance, nach der wir suchen müssen, betrifft deutlich mehr als das diskutierte Rentenalter. Generationengerechtigkeit hat neben der materiellen auch eine soziale und eine moralische Komponente. Halten wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von morgen, jenen, die noch nicht geboren sind und für ihre eigenen Belange eintreten können, tatsächlich alle Chancen für eine gute Zukunft offen, oder leisten wir gar einer Entsolidarisierung der Generationen Vorschub?

Einmal mehr sollten wir uns bewusst machen: Wir brauchen nicht nur verantwortungsbewusste Eliten, sondern auch eine Gesellschaft von Bürgern, die über eine Legislaturperiode, ein Lebensalter über die eigene Betroffenheit weit, weit hinaus denken, Menschen, die sich wirklich zuständig fühlen für die Zukunft kommender Generationen.

Nun der dritte Punkt, den ich hier aufgreifen möchte. Er betrifft eine andere Art der Ausdehnung gewerkschaftlichen Handelns: die geografische Reichweite. Einen internationalen Wirkungsanspruch haben Ihre Vorgängerinnen und Vorgänger schon früh artikuliert. Aber eine so hohe Zahl international verknüpfter Produktionsketten oder einen vergleichbaren Grad an sonstiger weltweiter Vernetzung hat es bisher noch niemals gegeben. Der Wert der Arbeit und die Würde des Menschen sind im Zeitalter der Globalisierung mehr denn je über Grenzen hinweg zu verteidigen.

Nehmen wir die Europäische Union. Sie ist zur neuen Selbstverständlichkeit, zum gemeinsamen Arbeitsmarkt geworden. Millionen Menschen profitieren davon. Manches bereitet dabei allerdings Sorgen. Nicht nur die Stipendiaten aus Spanien oder die Ingenieure aus Polen kommen nach Deutschland, sondern auch europäische Bürgerinnen und Bürger aus teilweise prekären Verhältnissen, getragen von dem Wunsch, ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen, und bereit, dafür weit schlechtere Konditionen in Kauf zu nehmen, als sie üblicherweise in Deutschland ausgehandelt werden. Wir wissen, dass mit dieser Arbeitsmigration Grauzonen entstanden sind, nicht nur in Deutschland, und Fälle von Missbrauch.

Ich könnte jetzt eine Reihe von ungelösten Problemen ansprechen. Ich möchte jedoch lieber ein Beispiel auswählen, das in der schwierigen Debatte Mut macht: Die Arbeit auf deutschen Schlachthöfen ist inzwischen tatsächlich tariflich geregelt worden und das nicht zuletzt, weil unsere Gewerkschaften die unhaltbaren Zustände immer wieder thematisiert haben. Danke dafür!

Was lehrt uns das? Es lehrt uns, nicht den Kopf hängen zu lassen. Veränderung ist machbar. Der Mechanismus ist seit 150 Jahren der gleiche. Veränderung gelingt, wenn Empörung in Aktion kanalisiert wird. Ich bin dem DGB für alle Projekte dankbar, die sich mit Fehlentwicklungen konstruktiv auseinandersetzen, sei es als Forschungsaufgabe oder als Aufklärungskampagne. Wenn es zum Beispiel gelingt, Grauzonen zu beschreiben und vor Risiken zu warnen, den Zuwanderern ihre Arbeitnehmerrechte zu erklären, ihnen den Rücken zu stärken und damit Ausbeutung zu verhindern, dann haben wir viele und gute gewerkschaftliche Arbeit geleistet.

Das DGB-Projekt Faire Mobilität verfolgt genau diesen Ansatz, bietet Beratung in verschiedenen Sprachen, inhaltlich zugeschnitten auf die einzelnen Herkunftsländer. So funktioniert Ermächtigung auf dem modernen Arbeitsmarkt: sehr differenziert, sehr individuell, zum Teil allerdings sehr aufwendig, aber – und das ist für mich die wichtigste Nachricht – eben auch passgenau und damit in sehr vielen Fällen wirksam.

Die internationale Arbeit unserer Gewerkschaften endet bekanntlich nicht an den EU-Außengrenzen, im Gegenteil: Gewerkschaften wirken inzwischen selber als Element der Globalisierung, sie sind Globalisierer. Immer dann nämlich, wenn Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat über Konzernstrategie mitentscheiden oder wenn Betriebsräte deutscher Unternehmen – ich habe sie vielfach im Ausland getroffen, in São Paulo und Bangalore – die Berufsausbildung und den Arbeitsschutz nach deutschem Modell voranbringen. Natürlich vor allem dann, wenn Sie, verehrte Delegierte, für das Existenzrecht freier Gewerkschaften und freier Gewerkschaftsarbeit in der ganzen Welt eintreten. Dieses weltweite Engagement gegen Repression habe ich schon oft gewürdigt. Und ich möchte es heute wieder tun, denn es ist auch weiterhin für viele Regionen unserer Welt bitter, bitter nötig.

Nächste Woche findet der Weltkongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes hier in Berlin statt. Ich wünsche dieser Veranstaltung, dass ihr Titel zur Realität wird: Building Workers‘ Power!

Ich weiß natürlich, drei Schwerpunktthemen der Veränderung und etliche Fragezeichen begründen noch keine Transformationsgeschichte. Aber wenn Sie meine Ausführungen mit Blick nach vorn interpretieren möchten: Sie sollten einen Dreiklang des Vertrauens hören, Vertrauen in die Zukunft des DGB! Ich glaube daran, dass bis zu dem Tag, an dem ein Bundespräsident oder eine Bundespräsidentin zum 30. Parlament der Arbeit eingeladen wird – es müsste rechnerisch im Jahr 2054 sein –, noch viele kluge Antworten hier im Parlament der Arbeit gefunden werden. Und dass die Daueraufgaben natürlich weiterhin ihren gebührenden Platz beim DGB-Kongress haben: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, das lebenslange Lernen, die physische und psychische Gesundheit der Arbeitnehmer trotz zunehmender Aufgabenverdichtung und hoffentlich auch der Humor, den wir heute zur Begrüßung erleben konnten.

Ein Lächeln kann oft sehr motivierend wirken. Aber in einem Jahr wichtiger Weichenstellungen, wie es Michael Sommer am 1. Mai beschrieb, brauchen wir mehr als ein schönes Lächeln – optimistische Wahlplakate alleine genügen nicht.

Ich bin den Verantwortlichen beim DGB dankbar dafür, dass sie dem Aufruf zur Europawahl einen großen Raum in ihrer Kommunikation geben, und ich danke allen, die dabei auf eine differenzierte Debatte setzen. Wer Europa zum Besseren verändern will, muss sich auch mit komplexen Fragen befassen, muss sich mit eigenen Positionen einbringen. Klagen allein genügt da nicht. Ob im Vorfeld der Europawahl oder bei den bundesweit schon angelaufenen Betriebsratswahlen – wir brauchen mehr Überzeugte, denen bewusst ist: Mitbestimmung kommt auch von Stimmen!

Mein letzter Satz und mein letztes Ausrufungszeichen gilt nun Ihnen, verehrte Delegierte im Parlament der Arbeit. Bitte bleiben Sie bei allem Wandel immer das, was Sie für Deutschland heute sind: Aktivposten der Demokratie, mutig, zukunftsorientiert und streitbar!