Verleihung der Leo-Baeck-Medaille

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 14. Mai 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 14. Mai anlässlich der Verleihung der Leo-Baeck-Medaille in Berlin eine Rede gehalten: "Leo Baeck und Berlin, das gehörte einst zusammen, und es wächst posthum auch wieder zusammen, Stück für Stück. Heute Abend feiern wir nun aus ganz besonderem Anlass: Das Institut, das seinen Namen trägt, Ihr Institut, eröffnet ein Büro hier in Berlin."

Bundespräsident Joachim Gauck erhält die Leo-Baeck-Medaille vom Präsidenten des Leo-Baeck-Institutes, Rabbiner Ronald B. Sobel

Es ist mir eine Ehre, die Medaille hier in Berlin entgegenzunehmen. Aber es ist nicht nur eine Ehre, sondern es berührt mein Herz und nicht nur meinen Verstand. Wir treffen uns hier in der Stadt, in der Leo Baeck im Jahr 1912 Rabbiner wurde, in der er sich für die Wissenschaft und für die jüdische Gemeinde einsetzte, bis ihn deutsche Landsleute in der Zeit des Nationalsozialismus nach Theresienstadt verschleppten. Vor wenigen Tagen, während meines Staatsbesuchs in Tschechien, war ich dort in Theresienstadt. Als ich der Opfer gedachte, waren meine Gedanken auch bei Leo Baeck. Und in wenigen Tagen werde ich von hier aus nach Buchenwald fahren. Unsere deutsche Geschichte, ihre Verluste und ihre Abgründe, haben mein ganzes Erwachsenenleben begleitet, und sie begleiten mich intensiv auch in meiner Präsidentschaft. Wenn das so ist, dann sind schöne Tage und Ereignisse, die Zukunft eröffnen, etwas ganz Besonderes und etwas Schönes: Und dass die Leo-Baeck-Medaille heute zum ersten Mal nicht in New York, sondern hier in Berlin verliehen wird, ist etwas, das mich gerade vor diesem Hintergrund besonders berührt.

Man sagt das so: Ich danke Ihnen von Herzen. Aber ich will diesen Dank noch einmal Ihnen gegenüber unterstreichen, verehrter Rabbi. Als Sie mir vorhin ein vor der Nazizeit erschienenes Buch von Leo Baeck gaben – sein Hauptwerk in deutscher Sprache mit einer Signatur von ihm für einen Freund –, als Sie mir das einfach gaben und mir in die Augen schauten, da spürte ich, dass dieses von Herzen einfach noch mal eine andere Dimension bekommen hat als nur eine Form von Höflichkeit und Dankbarkeit.

Leo Baeck und Berlin, das gehörte einst zusammen, und es wächst posthum auch wieder zusammen, Stück für Stück. Heute Abend feiern wir nun aus ganz besonderem Anlass: Das Institut, das seinen Namen trägt, Ihr Institut, eröffnet ein Büro hier in Berlin. Das ist nicht nur eine kulturelle und wissenschaftliche Bereicherung, sondern auch ein wichtiges Symbol: Zeugnisse jenes jüdischen Lebens, das Deutschland und gerade auch Berlin einst so stark bereicherte, erhalten nun, nach vielen Jahren im Exil, wieder einen Ort in ihrer alten Heimat. Auch sie tragen nun dazu bei, dass hier wieder lebendig wird, was die Nationalsozialisten für alle Zeiten vernichten wollten.

Der Holocaust ist ein fester und unaufhebbarer Bestandteil des Erinnerns, und das wird auch in Zukunft so bleiben. Aber daneben wollen wir auch wieder die vielen anderen Facetten der deutsch-jüdischen Geschichte im kollektiven Gedächtnis der Nation verankern. Deshalb ist es so wichtig, dass es das Leo-Baeck-Institut gibt. Ein Institut, das Archiv, Forschungsstätte und Forum zugleich ist, das uns mit seiner großartigen Sammlung von Büchern und Biografien, Briefen und Fotos, Dokumenten und Kunstwerken vor Augen führt, wie stark deutsche Juden dieses Land geprägt haben – als Journalisten und Künstler, als Wissenschaftler, als Unternehmer oder als Politiker.

Mir ist gerade noch etwas eingefallen, das ich im Sinne von Leo Baeck hier vortragen möchte. Ich nehme mir einfach die Freiheit, dies hinzuzufügen. Ich habe eben gesagt, die Erinnerung an die Shoah wird immer Teil unseres deutschen kollektiven Gedächtnisses sein. Natürlich, wie kann es anders sein. Diese Vergangenheit wird nicht vergehen. Aber wenn wir hier von Zeichen der Ermutigung gesprochen haben und von der späten Erfüllung seines frühen Traumes, dann gehört eins dazu: Zu unserer deutschen kollektiven Identität darf inzwischen eine gute Erinnerung gehören, von der Leo Baeck zu seinen Lebzeiten noch nicht träumen dürfte. Seit dem Kriege hat sich im freien Deutschland jenes Gemeinwesen Schritt für Schritt entwickelt, das alle Demokraten, die jemals gewirkt und gekämpft haben, sich ersehnt hatten.

Ein Deutschland, in dem das Recht über der Macht steht. In dem die Macht dem Recht seine Rolle nicht neidet, in dem die Menschenrechte und Bürgerrechte jedem gehören. Ein Land, das dazu noch eine Instanz geschaffen hat, die jedem hilft, jedem beisteht, der befürchten muss, dass ihm seine verfassungsmäßigen Rechte genommen oder eingeschränkt werden. Ein Land, das es schafft, anders als viele andere Länder in der Welt, einen inneren Frieden dauerhaft herzustellen, in dem Unternehmer und Arbeitnehmer einen Modus gefunden haben, der auf Fortschritt und Gewinn und Wohlfahrt gerichtet ist. Ein Land, in dem trotz allem nichts vollendet ist, das sich aber fortwährend in einem Entwicklungsprozess befindet, über den wir alle uns nur freuen können, wenn wir nur die Kraft finden, unsere Wahrnehmung, dessen was ist, in Gang zu setzen und uns nicht binden lassen von den Ketten der Erinnerung, die uns an die Schuld unserer Väter und Vorväter binden. Wir wollen sie nie vergessen, aber wir haben uns den Geist der großen europäischen Melodie der Menschen- und Bürgerrechte, den Geist der Aufklärung zurückgeholt in dieses Land. Und das tun wir nun schon über Jahrzehnte. Und all diese Jahrzehnte mitzuerleben, das hätte ich Leo Baeck so sehr gewünscht.

Er hat dieses Deutschland nicht erlebt. Aber wir müssen neben die Erzählung unseres Scheiterns die Erzählung einer Auferstehung bringen. Eines Einstimmens in die große europäische Melodie der Humanität und der Menschenrechte. Und wir sind Teil dieser Melodie, dieses Land mit all seinen Menschen. Wie schön, dass wir uns das klarmachen können an einem solchen festlichen Abend.

Ich danke Ihnen.