Richterinnenwechsel am Bundesverfassungsgericht

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 2. Juni 2014

Der Bundespräsident hat am 2. Juni anlässlich des Richterinnenwechsels eine Rede gehalten: "Ihnen, den Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichtes, ist die Auslegung unseres Grundgesetzes anvertraut. Sie erfüllen diese Aufgabe, getragen von dem großen Vertrauen, das die Bevölkerung Ihnen entgegenbringt. Es ist gut, wenn wir alle, die wir an unterschiedlichen Stellen als Verfassungsorgane den Bund vertreten, den Dialog miteinander pflegen."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache anlässlich des Richterinnenwechsels am Bundesverfassungsgericht

Herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue, in der Mitte Berlins! Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere Begegnung bei meinem Antrittsbesuch bei Ihnen in Karlsruhe, an die überaus freundliche Aufnahme und unsere intensiven und guten Gespräche dort. Es war wichtig für mich, Sie ein wenig kennenzulernen über das hinaus, was man über Ihre Arbeit in den Medien liest. Und ich hoffe, wir können im Anschluss an diese Begegnung anknüpfen und ich freue mich darauf. Wir begegnen uns heute, zehn Tage, nachdem wir das 65. Jubiläum unseres Grundgesetzes begangen haben. Wir feierten das Jubiläum unserer Verfassung, die unser staatliches Handeln darauf verpflichtet, die unantastbare Würde des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und zu verteidigen. Dankbar bin ich dafür zu erleben, dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Grundgesetz achten und respektieren.

Ihnen, den Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichtes, ist die Auslegung unseres Grundgesetzes anvertraut. Sie erfüllen diese Aufgabe, getragen von dem großen Vertrauen, das die Bevölkerung Ihnen entgegenbringt. Es ist gut, wenn wir alle, die wir an unterschiedlichen Stellen als Verfassungsorgane den Bund vertreten, den Dialog miteinander pflegen. Dieser Dialog ist mir sehr wichtig und deshalb bin ich auch erfreut, Ihnen heute allen an diesem Tag zu begegnen.

In der Tat ist es ein besonderer Tag – der Tag Ihrer Entlassung, nach Ablauf Ihrer zwölfjährigen Amtszeit, liebe Frau Lübbe-Wolff, und die Ernennung Ihrer Nachfolgerin, liebe Frau König. Besonders ist der Tag aber auch für mich, denn es ist der erste Wechsel im Bundesverfassungsgericht, den ich als Bundespräsident begleiten darf.

Liebe Frau Lübbe-Wolff,

mit Ihrer Wahl zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2002 kam eine Frau mit abwechslungsreicher und beeindruckender Vita an das Gericht, aber durchaus auch so etwas wie eine Grenzgängerin. Ihre Vita ist selbst in der heutigen Zeit bemerkenswert – Ihr Lebensweg kann auch heute in vielem für junge Frauen und junge Männer ein Vorbild sein.

Schon Ihre Jugend war ungewöhnlich. Als älteste Tochter des Philosophen und Politikers Hermann Lübbe begleiteten Sie die Eltern früh, mit 14 Jahren, auf einen Hegel-Kongress in Prag – nicht auszuschließen, dass Sie schon damals Ihre Faszination für Hegel entwickelten. Ich kann mir das schwer vorstellen, wenn ich mich in das Alter mit 14, 15 zurückversetze, und deshalb bin ich voller Bewunderung, geradezu fast erstaunt. Sie haben einmal erzählt, dass Sie mit Hegel dem wichtigsten Philosophen begegnet sind – natürlich erst nach den beiden Philosophen in Ihrer Familie. Wie anregend – so stelle ich mir das vor – müssen die Gespräche und Debatten in einer solchen Familienatmosphäre gewesen sein! In gewisser Weise sind Sie – wie eine Ihrer Schwestern auch – in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten, denn bis heute befassen Sie sich intensiv mit rechtsphilosophischen Fragen.

Dass auch Frauen studieren und eine akademische Laufbahn einschlagen, war in Ihrem Elternhaus selbstverständlich – zu einer Zeit, da dies hierzulande leider noch nicht so war. Ungewöhnlich war es auch, wie früh Sie ein Studium aufnahmen – nämlich mit 16 Jahren. Anschließend, auch das war – zumal für junge Juristen zur damaligen Zeit – außergewöhnlich, absolvierten Sie an der Harvard University ein Magister-Legum-Studium. Mit 24 Jahren waren Sie dann bereits Volljuristin.

Nach der Promotion in Freiburg zum Thema Rechtsfolgen und Realfolgen schlugen Sie die wissenschaftliche Laufbahn ein: Sie habilitierten sich mit dem Thema Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, betreut von Dieter Grimm, von dem Sie einmal sagten, er sei für Sie der beste akademische Lehrer gewesen, den Sie sich hätten wünschen können. Bewunderungswürdig und vollkommen freilassend, so haben Sie das damals beschrieben. Anschließend wechselten Sie, überraschend nicht nur für viele Ihrer Fachkollegen, in die Verwaltung und wurden Leiterin des Umweltamtes der Stadt Bielefeld. Als ich das las, habe ich wieder eine tiefe Verbeugung gemacht und habe mich gefragt: Warum tut ein Mensch das? Die Verwaltung müsste in Deutschland mehr Respekt genießen, so haben Sie es einmal formuliert – eine Einschätzung, die Ihnen sicher ohne diese Erfahrung nicht möglich gewesen wäre. Umweltrechtler berichten, dass Sie in dieser Zeit sehr viele von der Praxis geprägte wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht haben – zahlreiche Rechtsprobleme haben Sie erstmalig am Referenzgebiet Umweltrecht aufgearbeitet. 139 selbstständige Schriften umfasst Ihr wissenschaftliches Publikationsverzeichnis.

Für wie brillant Ihre wissenschaftlichen Leistungen eingeschätzt werden, kann ich nur daran ermessen, dass Ihnen im Jahre 1999 der höchstdotierte deutsche Forschungspreis, der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, verliehen wurde.

Liebe Frau Lübbe-Wolff,

schon vor Ihrer Wahl im Jahr 2002 waren Sie bereits mehrfach als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht im Gespräch, waren wohl auch zweimal gefragt worden, ob Sie zur Verfügung stünden. Sie haben abgelehnt – ich nehme an, es gibt nicht viele Juristen, die ein solches Angebot ausschlagen würden. Und dann gleich zweimal! Sie merken, bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag gab es mehrmals für mich große Ansätze der Verwunderung oder Bewunderung. Es ist bezeichnend für Ihre Haltung, dass Ihnen Familie und die Erziehung Ihrer vier Kinder damals wichtiger waren als die berufliche Karriere. Aber schon das Nebeneinander Ihrer wissenschaftlichen Karriere und der familiären Verantwortung war und ist außergewöhnlich. Auf die Frage, wie es Ihnen persönlich gelungen sei, Familie und Beruf zu vereinbaren, haben Sie einmal geantwortet:

Mit einem Partner, dem man dieselbe Frage stellen könnte, mit sehr viel Arbeit, und mit sehr viel Glück. Gesunde Kinder, genug Geld für Mitbetreuung durch Dritte, und Berufe, die uns in der wichtigsten Familienzeit Sesshaftigkeit an einem Ort ermöglicht haben. Sie und Ihr Mann haben ein – so finde ich – beispielhaftes partnerschaftliches Modell gelebt, denn ich konnte erfahren, dass auch Ihr Mann ehrenhafte Rufe von anderen Fakultäten abgelehnt hat, genau wie Sie, aus familiären Gründen.

Sie haben eigenem Bekunden nach nie vom Amt einer Verfassungsrichterin geträumt, Ihnen sei der Wechsel nicht einmal leicht gefallen. Und doch haben Sie sich 2002 der neuen Herausforderung gestellt und wurden als Nachfolgerin von Frau Limbach gewählt.

Auch im Verfassungsgericht mussten Sie sich neue Gebiete erschließen: Sie waren zuständig für das Asylrecht, Maßnahmen im Vollzug von Untersuchungshaft, Strafhaft, Unterbringung und sonstigen Freiheitsentziehungen sowie das Staatsangehörigkeitsrecht. Das Vertriebenenrecht und Teile der streitigen Zivilgerichtsbarkeit lagen in Ihrem Dezernat, auch das Finanzverfassungs- und Haushaltsrecht sowie Organstreitigkeiten und öffentlich-rechtliche Streitigkeiten innerhalb eines Landes. Ich möchte nur eine Zahl nennen, um deutlich zu machen, wie viel Arbeit eine Richterin des Bundesverfassungsgerichts hat: Sie haben 4.120 Entscheidungen als Berichterstatterin vorbereitet, das ist für mich eine unvorstellbare Zahl. Dabei waren Sie in Ihrem Amt die unabhängige Richterin, die die Demokratie braucht, und Sie hatten immer den Mut, unbequem zu sein – jedenfalls, wenn Sie es für erforderlich erachteten – ganz Ihren eigenen Forderungen entsprechend. Nichts bezeugt das mehr als Ihre Sondervoten. Dieter Grimm hat Sie in seiner Würdigung anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises deshalb im Jahre 2012 eine große Dissenterin genannt. Er hat mit dieser Formulierung darauf angespielt, dass Sie eine Reihe kraftvoller Sondervoten zu Entscheidungen des Zweiten Senats abgehalten haben. Ich kann mir nicht ausmalen, wie das jetzt das Renommee innerhalb eines Hauses hebt, aber ich stelle mir das jedenfalls als einen kraftvollen, eigensinnigen Weg vor und freue mich darüber, dass es solche Persönlichkeiten gibt, die noch dazu hochrangig das Klima in unserer Bundesrepublik mitbestimmen können. Dass Sie darin oft mit präzisen und scharfsinnigen Argumenten mit der Mehrheitsmeinung im Senat ins Gericht gegangen sind, zeigt vielleicht der einleitende Satz aus Ihrem Sondervotum zu Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit der Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone im Jahre 2004. Ein Thema, das mich auch sehr stark beschäftigt. Zitat: Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält. So etwas muss einem einfallen!

Solcher Art formulierte Kritik und intellektuelle Brillanz sind indes nur die eine Seite von Gertrude Lübbe-Wolff. Ihre Kolleginnen und Kollegen, Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennen und schätzen Sie auch von Ihrer anderen Seite. Sie schätzen Ihre Offenheit, Ihre Toleranz und natürlich Ihre Diskussionsfreude! Und selbst in mündlichen Verhandlungen bricht sich Ihr Humor und Frohsinn manchmal für alle sichtbar Bahn, etwa wenn kaum vermittel- und verstehbare Wahlberechnungsmethoden bei Ihnen zu einem Lachanfall führen.

Liebe Frau Lübbe-Wolff,

Sie treten nicht in den Ruhestand, Sie beenden lediglich Ihre Amtszeit als Verfassungsrichterin. Wir werden, da bin ich mir sicher, noch Gewichtiges von Ihnen hören und insbesondere lesen – Mutiges, Bewunderungswertes und Scharfsinniges. Ich freue mich darauf. Denn Sie haben einmal gesagt, die verbleibende Lebenszeit würde wahrscheinlich nicht zum Verfassen all der Bücher reichen, die Sie gerne noch schreiben möchten. Ich hoffe, Sie werden noch viele Bücher schreiben. Und ich wünsche Ihnen, dass daneben auch noch Zeit bleibt für Termine ganz anderer Natur, vielleicht Tennis spielen, mit Freunden wandern und – vor allem musizieren. Oder – bei Ihnen allerdings kaum vorstellbar – die Produktivkraft der Langeweile zu nutzen.

Unser Land verdankt Ihnen sehr viel. Dafür danke ich Ihnen heute sehr herzlich. Ich freue mich sehr, Ihnen für das Engagement und Ihre Leistungen heute das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen.

Ich gratuliere Ihnen herzlich.

Liebe Frau König!

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl am 21. Mai! Von heute ab gehören Sie dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts an – ein neuer beruflicher Lebensabschnitt beginnt, der Sie in den Südwesten unseres Landes führen wird – sozusagen von der See an ein Binnengewässer. Ich hoffe, Sie tragen das mit Fassung und mit Freude. Denn eine große Aufgabe wartet auf Sie. Ihren juristischen und wissenschaftlichen Lebensweg haben Sie bislang mehr im Norden – also an und mit der See – zurückgelegt.

Nach dem Studium und den beiden Juristischen Staatsexamen in Kiel waren Sie Richterin am Landgericht Hamburg. Zuvor hatten Sie ein Postgraduiertenstudium in Miami absolviert, um anschließend am Institut für Internationales Recht in Kiel zu promovieren. Die Richterlaufbahn gaben Sie zugunsten der Wissenschaft auf. 1998 habilitierten Sie sich mit einer Arbeit im Bereich des Internationalen Seerechts.

Von 2000 bis 2012 hatten Sie den Lehrstuhl für öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre, Völker- und Europarecht an der Bucerius Law School in Hamburg inne. Seit 2012 sind Sie deren Präsidentin.

Ich bin überzeugt, dass Ihr Sachverstand und Ihre richterliche Erfahrung eine Bereicherung für das Gericht sein werden.

Noch einmal herzlichen Glückwünsch, Gottes Segen für Ihr neues Amt. Und ich bin sicher: Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen werden Sie sehr gut aufnehmen und Sie werden sich schnell heimisch fühlen, auch wenn Sie die See in Karlsruhe sicherlich nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht vermissen werden. Alle guten Wünsche gehen mit Ihnen nach Karlsruhe.