Ausstellung "Karl der Große. Macht Kunst Schätze"

Schwerpunktthema: Rede

Aachen, , 19. Juni 2014

Der Bundespräsident hat am 19. Juni die Ausstellung "Karl der Große" mit einer Rede eröffnet: "Eines hat sich seit den Zeiten Karls des Großen nicht geändert: Zur wirklichen, lebendigen und prägenden Kultur einer Gegenwart wird nur, was uns selbstverständlicher, innerer Besitz geworden ist. Auch daran denken wir, wenn wir uns an die karolingischen Reformen erinnern."

Bundespräsident Joachim Gauck bei einem Rundgang durch die Ausstellung 'Karl der Grosse. Macht Kunst Schaetze' im Rathaus von Aachen

Vielleicht, so sagt man, war es letzten Endes tatsächlich vor allem das warme Wasser, in dem es sich so angenehm baden und schwimmen lässt, das Karl dazu gebracht hat, sich am liebsten hier in Aachen aufzuhalten und es zu einer prächtigen Pfalz auszugestalten: Wir werden das nie genau wissen.

Wie wir überhaupt wenig wissen, jedenfalls weniger als wir wissen möchten über einen Mann, der für Europa ganz besonders bedeutend war. Immerhin: Sein Todesdatum scheint einigermaßen sicher überliefert zu sein – und so gibt es eben in diesem Jahr ein rundes Jubiläum zu feiern. Und das tun wir zu recht hier in Aachen, im Herzen des alten Karolingerreiches, aber auch mitten im Herzen des alten Europas. Und ich bin froh und glücklich, mit ihnen zusammen feiern zu können.

Karls Leidenschaft für Schwimmen und Baden zeigt einen menschlichen und durchaus sympathischen Zug. Ansonsten aber sind sein Leben und seine Herrschaft ganz sicher nicht durch Wellness und angenehmen Zeitvertreib geprägt gewesen.

Im Gegenteil: Karl war ein Mann der Tat und des entschiedenen politischen Wirkens. Er war Heerführer und Kriegsherr, Richter und Herrscher, Reformer und Anreger. Die Einigung des weströmischen Reiches war ein gewaltiges Werk, das ihn auch in den folgenden Jahrhunderten zum bewunderten und verehrten Herrscher machte, vielleicht dem bedeutendsten des Mittelalters. Dass er Vater Europas genannt wurde, ist auch aus heutiger Sicht noch legitim.

Zum ersten Mal seit der Antike trug jemand den Titel des Römischen Kaisers. Karl hatte ihn sich durch seine Taten verdient, denen die Vision eines römischen Reiches, wenigstens seiner westlichen Hälfte, zugrunde gelegen haben dürfte. In einem immer noch erstaunlichen politischen und militärischen Kraftakt schuf er die Einigung jener europäischen Länder und Regionen, die auch Jahrhunderte später noch an der Wiege der Europäischen Union standen.

Dass er als Charlemagne ebenso Teil des französischen historischen Bewusstseins ist wie als Karl der Große Teil des deutschen – das zeigt einmal mehr die bleibende europäische Dimension seines politischen Wirkens.

Karl wusste auch, dass politische Einheit und militärische Stärke allein den Bestand eines solchen Reiches nicht würden sichern können. Deshalb galten seine Kraft und seine Energie auch der Kultur und der Bildung, wie auch dem Recht – wir nennen diese Trias Zivilisation.

Und das unternahm er in wahrlich schweren Zeiten. Keine Frage: Das Leben in Karls Epoche war hart und voller Entbehrungen. Die kargen Ackerflächen gaben meist nur wenig her, und das Leben war für die allermeisten Menschen immerfort bedroht von Hunger und Krankheit. Und dazu kam, dass der Krieg die Menschen so regelmäßig heimsuchte wie die Jahreszeiten wechselten.

Die Zivilisation und die Kultur der römischen Antike, die in den großen Städten lange geblüht hatte, aber auch in die Provinzen ausgestrahlt hatte, sie war fast vollständig verschwunden. Nur noch in Resten, etwa in den großen Klöstern, war sie als verblassende Erinnerung noch vorhanden. Die Welt, jedenfalls diese hier, war fast wieder gänzlich dörflich geworden.

Erst vor diesem Hintergrund kann man ermessen, was Karl der Große für sein Reich ins Werk gesetzt hat, was für ein gewaltiges, weitsichtiges und auch kraftraubendes Unterfangen jenes Projekt gewesen ist, was man kulturgeschichtlich abgeklärt, beinah harmlos die karolingische Renaissance nennt.

Bei dieser sogenannten renovatio imperii handelt es sich in Wahrheit um nichts weniger als eine politische und kulturelle Neugründung Europas, um etwas, von dem wir alle irgendwie im Grunde bis heute profitieren, was uns alle in Europa bis heute zutiefst prägt.

Wir sollten uns diese Zusammenhänge noch einmal klar machen, ganz bewusst, wenn wir die wundervollen Exponate sehen, gleich und in den nächsten Wochen, die hier in Aachen versammelt sind und die dankenswerterweise aus so vielen Sammlungen zur Verfügung gestellt werden. Wir sollten uns diese Gedanken auch deshalb vor Augen führen, weil wir heute in einer Phase einer neuen Europaskepsis leben und der europäische Gedanke verteidigt werden will und muss. Und es gibt für mich vor allem eine Lehre zu ziehen aus den großen Kultur- und Bildungsanstrengungen, über die ich eben sprach, die auf Karl und seinen Hof zurückgehen.

Kultur und Bildung, das gilt doch immer, Kultur und Bildung muss man wollen. Man kann historische Erfahrungen nicht eins zu eins in die Gegenwart übertragen. Das ist auch nicht der Sinn des historischen Erinnerns. Aber vielleicht kann man doch sagen: Wenn so eine Kraftentfaltung wie damals die karolingische Reform, wenn die möglich war, dann gibt es eigentlich keine Ausreden mehr für mangelnde Anstrengungen in kultureller Erziehung und Bildung heute. So kann uns die Erinnerung an Karl den Großen durchaus auch für die Gegenwart etwas mitgeben und Mut machen.

Bei all dem bleibt freilich auch etwas anderes wahr, darüber wollen wir nicht hinwegschauen: dass uns Karl und möge es jetzt noch so viele Bilder abgedruckt geben oder in den anderen Medien anzuschauen geben, und dass uns seine Welt des frühen Mittelalters zutiefst fremd bleiben wird. Das kann gar nicht anders sein, soviel wir auch lesen mögen. Es muss uns einfach fremd bleiben, wie die Menschen jener Zeit gefühlt und gedacht, auch wie sie sich geängstigt haben, wie sie geliebt und geglaubt haben.

Es muss uns auch fremd bleiben, wie sie selbstverständlich Krieg oder Mord als Mittel der Politik oder auch nur der Bereinigung von Familienstreitigkeiten eingesetzt haben. Das muss und wird uns fremd bleiben. Und ebenso fremd bleibt es uns, dass die christliche Taufe häufig wie selbstverständlich der Eroberung durch Feuer und Schwert folgte.

Was aber bleibt, das ist die staunende Anerkennung eines großen politischen und kulturellen Werkes. Dabei denke ich etwa an die Durchsetzung einer einheitlichen Schrift. Ohne diese Errungenschaft wäre wohl kaum etwas aus der Antike überliefert worden.

Was Europa geistig und kulturell bis in die jüngste Gegenwart bestimmt und im Kern ausgemacht hat, ist die Verbindung der christlichen Überlieferung, des theologischen Denkens dieser Zeit mit antiker Philosophie und Kultur: Diese Kombination ist durch Karl den Großen und seinen Hof erreicht worden, vielleicht im letzten Moment, bevor sie endgültig vergessen und verloren gegangen wäre.

Wir können aus dieser Erinnerung auch eine Mahnung ableiten: Nichts kommt von allein, nichts ist selbstverständlicher Besitz. Das geistige und kulturelle Profil einer Epoche lebt von der Lebendigkeit und der Präsenz der kulturellen Überlieferungen genauso wie von den kreativen Anstrengungen und Fähigkeiten der jeweiligen Zeitgenossen. Ohne Anstrengung, ohne zielstrebige Bemühung, auch ohne Geduld und Disziplin ist Kultur nicht zu haben.

Die digitale Ära, die für uns nun schon seit einiger Zeit begonnen hat, bietet uns enorme neue Möglichkeiten – und wir alle wissen es und es ist breit diskutiert, nicht nur im Guten. Aber nie zuvor hatten Menschen Zugang zu so viel Wissen. Nie zuvor gab es für so viele Menschen so viele Möglichkeiten kultureller Partizipation. Das ist großartig und ein Triumph des menschlichen Erfindungsgeistes.

Die digitalen Möglichkeiten können aber auch die Illusion erzeugen, Bildung und Kultur wären das, was man sich mit einem Klick auf den Bildschirm einfach so holen kann. Das aber ist eben – eine Illusion. Eines hat sich seit den Zeiten Karls des Großen nicht geändert: Zur wirklichen, lebendigen und prägenden Kultur einer Gegenwart wird nur, was uns selbstverständlicher, innerer Besitz geworden ist.

Auch daran denken wir, wenn wir uns an die karolingischen Reformen erinnern. Und daran erinnern uns die schönen und kostbaren Exponate der Ausstellung, die wir nun eröffnen.