Abendveranstaltung "1914 – 2014. Hundert europäische Jahre"

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 27. Juni 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 27. Juni zur Abendveranstaltung "1914 – 2014. Hundert europäische Jahre" in Schloss Bellevue eine Ansprache gehalten: "Es ist die Kunst, die die Erfahrungen des Einzelnen und der Einzelnen bewahrt. Es ist die Kunst, die uns vor Augen führen kann, was die große Geschichte, in diesem Fall der große Krieg, mit dem kleinen Leben der Leute anstellt und wie sie es anstellt. Es ist die Kunst, die uns in Erinnerung ruft, was das Wort existentiell in Kriegszeiten bedeutet: nacktes Überleben unter den Bedingungen umfassender, tödlicher Bedrohung."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede zur Theateraufführung 'Front' in Schloss Bellevue anlässlich der Gedenkveranstaltung '1914 – 2014. Hundert europäische Jahre'

Wir stehen vor dem dritten und letzten Abschnitt eines Tages, der in der europäischen Perspektive Erinnerung und Ausblick geben soll – im Gedenken an den Ersten Weltkrieg und die auf ihn folgenden 100 europäischen Jahre.

Wir haben am Vormittag von den verschiedenen europäischen Narrativen gehört, wir haben gesehen, wie unterschiedlich die Erzählungen vom Krieg in Europa sind – und wir haben gefragt, wie es vielleicht doch möglich sein könnte, zu einer gemeinsamen europäischen Erzählung zu kommen.

Wir haben am Nachmittag gefragt, welche politischen, und historischen Lehren Europa aus dem Krieg gezogen hat, welche nicht und welche es, gerade angesichts aktueller Entwicklungen, heute ziehen könnte und sollte.

Diese Fragestellungen zielen oft auf abstrakte und kollektive Subjekte, auf Völker, Volksgruppen, auf Staaten, es geht dann um Räume, Strukturen, Prozesse, Grenzen, um Bündnisse, Märkte und Systeme.

An der Wurzel des historischen Prozesses aber steht der Mensch, der einzelne Mensch. Der, der leidet oder sich freut, der sich zu Tode ängstigt oder erleichtert auflebt, der liebt oder hasst, der Mitleid empfindet oder erbarmungslos zuschlägt, der verletzt wird oder verletzt, der vergast wird oder vergast, der erschießt oder erschossen wird. Der stirbt oder überlebt. An der Front, in der Etappe oder in der Heimat.

Wir können diesen Tag des Gedenkens, der Erinnerung und des Ausblicks nicht beenden, ohne daran zu denken, was durch diesen Krieg millionenfach einzelnen Menschen angetan worden ist, ohne daran zu denken, dass es zumindest in Europa kaum ein Menschenleben gegeben hat, das nicht auf die eine oder andere Weise von diesem Krieg beeinflusst und geprägt, millionenfach auch jäh beendet worden ist.

Kein anderer Krieg in Europa hatte bis dahin solche Massen an Verletzten, Verstümmelten und Toten hinterlassen. In keinem anderen Krieg wurde bis dahin das Sterben und Töten geradezu industriell und massenhaft, also weitgehend anonym erfahren. Und doch hat jeder einzelne Soldat, jeder einzelne Zivilist, jedes Kind, jede Mutter, jeder Bruder und jeder Sohn, jede Freundin einen Namen, eine Biographie. Entsetzen und Schrecken des Krieges sind immer dann am tiefsten erfahrbar, wenn wir sie gespiegelt sehen im einzelnen Menschenleben, das sie verletzen, erniedrigen, versklaven, ausbeuten oder zerstören.

Es ist die Kunst, die die Erfahrungen des Einzelnen und der Einzelnen bewahrt. Es ist die Kunst, die uns vor Augen führen kann, was die große Geschichte, in diesem Fall der große Krieg, mit dem kleinen Leben der Leute anstellt und wie sie es anstellt. Es ist die Kunst, die uns in Erinnerung ruft, was das Wort existentiell in Kriegszeiten bedeutet: nacktes Überleben unter den Bedingungen umfassender, tödlicher Bedrohung.

Der Erste Weltkrieg war gerade in den Augen der Zeitgenossen ein Krieg gegen die Kultur und die Zivilisation insgesamt. In den Propagandafeldzügen wurde der Gegenseite vor allem der Angriff auf kulturelle Werte immer wieder zum Vorwurf gemacht. Gleich zu Beginn war der deutsche Zerstörungsangriff auf die altehrwürdige Bibliothek von Löwen ein Schock für alle zivilisierten Beobachter – und mehr noch die Rechtfertigung dieses barbarischen Aktes durch deutsche Künstler, durch deutsche Intellektuelle.

Es gehört zu den eigentlich unfassbaren Erscheinungen des Ersten wie auch des Zweiten Weltkrieges, dass die Kultur und Zivilisation, die doch ohne Zweifel Deutschland und seine europäischen Nachbarn geprägt hat, dass Bildung, Philosophie und Religion, von denen die Gesellschaften sich zutiefst durchdrungen wussten oder glaubten, diese Katastrophe und diesen Einfall von Barbarei nicht verhindern konnten. Ja, schlimmer noch: Dass die eigene Kultur und die eigene Religion oft genug noch zur Rechtfertigung des massenhaften Tötens herangezogen wurden.

Kultur, das haben wir vielleicht daraus gelernt, kann es nicht geben, ohne dem Einzelnen eine Stimme und eine Gestalt zu geben. So vielfältig, so reich und so verschwenderisch in ihrer Vielfalt Kultur ist: wenn sie selber human bleiben, also das menschliche Maß behalten soll, dann folgt sie nicht ideologischen Direktiven, dann hört sie immer auch auf die leise Stimme des einzelnen, leidenden Menschen. Dann klagt sie immer auch an, wenn der Einzelne bedroht ist, von welcher Macht auch immer.

Das Drama menschlicher Existenz, in welcher Form auch immer, findet seit Anfang des Abendlandes seine Gestalt im Theater.

Deswegen freue ich mich darüber, dass wir jetzt hier vor dem Schloss Bellevue einen außergewöhnlichen und in jeder Hinsicht zum heutigen Anlass passenden Theaterabend erleben können. Ich bin dankbar dafür, dass uns das Hamburger Thalia Theater seine gemeinsam mit dem Theater Gent konzipierte und realisierte Produktion Front in Ausschnitten vorstellt. Ich bedanke mich schon jetzt bei den Künstlerinnen und Künstlern, bei den Technikern und allen, die diesen Abend möglich machen. Besonders bedanke ich mich beim Intendanten des Thalia Theaters, Joachim Lux, der die künstlerische Leitung des Abends übernommen hat.

Ich will nichts von dem vorwegnehmen, was wir alle gleich gemeinsam erleben werden. Ich will nur sagen, dass ich es für symbolträchtig halte, dass das Partnertheater aus Gent kommt, also aus Flandern, jenem Stück Erde, in dem der Krieg besonders schlimm gewütet hat und über das es eines der berühmtesten Gedichte gibt, das der einzelnen Toten gedenkt. Der kanadische Leutnant John McCrae hatte es geschrieben, nachdem am Vortag sein Freund ums Leben gekommen war:

Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang. Liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir auf Flanderns Feldern.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.