Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 15. Juli 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 15. Juli anlässlich eines Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht eine Ansprache in Schloss Bellevue gehalten: "In diesen Amtswechseln scheint etwas auf, was uns auch alle freuen darf: die Stabilität und die Verlässlichkeit unserer Institutionen, die klug und vorausschauend konstruiert sind – unabhängig von der Besetzung durch bestimmte Personen."

Bundespräsident Joachim Gauck überreicht Ulrich Maidowski die Ernennungsurkunde und vereidigt ihn zum Bundesverfassungsrichter

Herzlich willkommen, erneut hier im Schloss Bellevue! Mir kommt es vor, als seien Sie alle erst gestern hier gewesen – aber es ist doch schon sechs Wochen her, dass wir Frau Lübbe-Wolff verabschiedet haben. Und heute treten Sie in den Ruhestand, verehrter Herr Gerhardt.

Mein erster Impuls war: Bedauern, dass schon wieder eine bedeutende Richterpersönlichkeit sich verabschiedet. Mein zweiter kam allerdings unmittelbar danach, und der war ganz nüchtern: So ist das nun einmal in einer funktionierenden Demokratie. Und ich denke, Sie, lieber Herr Gerhardt, haben ein sehr gutes Verhältnis zu dieser nüchternen Feststellung. In diesen Amtswechseln scheint etwas auf, was uns auch alle freuen darf: die Stabilität und die Verlässlichkeit unserer Institutionen, die klug und vorausschauend konstruiert sind – unabhängig von der Besetzung durch bestimmte Personen.

Ich freue mich, dass wir für diese Kontinuität inzwischen eine jahrzehntelange Bestätigung haben. Denn wie alle guten Dinge ist auch das Recht missbraucht und gebeugt worden. Davon kann unsere Nationalgeschichte ja eine Menge erzählen. Das Recht existiert nicht unabhängig von den unterschiedlichen Formen der Machtausübung der Mächtigen. Aber nun haben wir diese Kette von Erfahrungen einer Institutionssicherheit und einer Rechtssicherheit. Und mit einer solchen Erfahrung im Hintergrund können wir in dieser Weise über Abschiede reden. Ein solcher Wechsel macht uns dann auch bewusst, dass Dienen in einem öffentlichen Amt immer Dienen auf Zeit ist.

Und wenn ich das richtig deute, was ich über Sie gelesen habe, lieber Herr Gerhardt, dann haben Sie genauso Ihr Amt verstanden – als einen Dienst an unserem Staat, an unserer dem Recht verpflichteten Demokratie, ausgeübt mit der ganzen Kraft einer Persönlichkeit, Ihrer Persönlichkeit.

Kontinuität, Verlässlichkeit und Unabhängigkeit: Dies sind vielleicht die entscheidenden Eigenschaften, die unser Bundesverfassungsgericht auszeichnen. Und diese Eigenschaften sind es, die es zu einer Institution gemacht haben. Wir können uns ja unsere Demokratie überhaupt nicht mehr vorstellen, ohne unser, ohne Ihr Bundesverfassungsgericht. Und die Zustimmung, die diese Institution, Ihre Institution, in unserer Bevölkerung erhält, spricht eine eigene Wahrheit aus, die uns wichtig ist. Ich freue mich über die Anerkennung, die Ihnen zuteil wird.

Kontinuität, Verlässlichkeit und Unabhängigkeit: Diese Eigenschaften zeichnen auch Sie aus, lieber Herr Gerhardt. Hinzu treten Bescheidenheit und Zurückhaltung. So verwundert es auch nicht, dass Sie Ihre Verdienste nicht im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung erworben haben, sondern in vielen Jahren bei der Bayerischen Staatsregierung, als Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, am Bundesverwaltungsgericht und schließlich am Bundesverfassungsgericht, dem Sie ein Vierteljahrhundert zuvor bereits als wissenschaftlicher Mitarbeiter gedient hatten. Ich habe mir die Anzahl der Verfahren angeschaut, mit denen Sie befasst waren als Berichterstatter. Ich muss die Zahl lesen, ich glaube es nicht: 3.943 Entscheidungen! Die allermeisten davon – 3.816 – Verfassungsbeschwerden.

Die öffentlich beachteten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts machen ja nur einen Bruchteil der täglichen Arbeit aus, die Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen dort leisten. Eine Arbeit, die deswegen aber nicht weniger wichtig ist. Denn das Grundvertrauen in unsere Demokratie, in unsere Verfassung rührt gerade daher, dass jeder Bürger, jede Bürgerin das Verfassungsgericht anrufen und seine oder ihre Rechte auch gegen den Staat geltend machen darf. Und das bewegt natürlich gerade jemanden wie mich, der ich 50 Jahre meines Lebens fern von einer Institution und von einer Rechtsordnung leben musste, wie Sie Ihnen von Geburt an vertraut ist. Ich weiß, wie wertvoll so etwas ist.

Lieber Herr Gerhardt, wo immer Sie in den Blick der Öffentlichkeit kamen – aufgrund Ihrer Diskretion war das nun nicht sehr häufig der Fall – wurden Sie als Person wahrgenommen, deren großes Thema die Freiheit des Bürgers ist. Dies wurde besonders in einigen Ihrer Sondervoten deutlich, wenn es um die Abwägung von Freiheit und Sicherheit ging – ich denke etwa an Ihr Votum zur nachträglichen Sicherungsverwahrung. Mehrfach haben Sie in Ihrer Zeit als Verfassungsrichter, wenn es Ihrer Auffassung nach nicht anders ging, abweichende Meinungen formuliert – etwa bei den Klagen gegen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank im Zusammenhang mit der Eurorettung.

Sie haben als Berichterstatter Entscheidungen vorbereitet, die manchmal unbequem waren – für die Regierung, auch für unser Parlament, den deutschen Bundestag, auch für die eine oder andere Mehrheitsmeinung in der deutschen Bevölkerung. Für die politische und gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes waren die von Ihnen mitgeprägten Verfahren bedeutsam: in jüngster Zeit etwa die Ablehnung der Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht, im Asyl- und Ausländerrecht die Entscheidungen über das Bleiberecht von Ausländerkindern oder über das Dublin II-Verfahren. Und im Wahlrecht – diesem Rückgrat der Demokratie – wären weitere wichtige Entscheidungen zu nennen, etwa zur Wahlkreiseinteilung bei der Bundestagswahl oder zur Mandatszuteilung. Die Liste ist lang und hier keineswegs am Ende.

Dass unser Bundesverfassungsgericht ein so hohes Vertrauen bei den Menschen genießt, liegt auch daran, dass Persönlichkeiten dieses Gericht prägen: Menschen wie Sie, lieber Herr Gerhardt, wie Ihre Kolleginnen und Kollegen, alle mit unterschiedlichen Biografien, wohl auch mit unterschiedlichen Temperamenten, mit verschiedenen Erfahrungen und mit verschiedenen Vorverständnissen. Bei aller Unterschiedlichkeit eint Sie alle die Suche nach der richtigen verfassungsgemäßen Antwort auf die Fragen, die dem Gericht gestellt werden. Und jeder von Ihnen trägt mit seinen Erfahrungen dazu bei.

Sie, lieber Herr Gerhardt, verkörpern meinem Eindruck nach den Typus des Richters, der ausschließlich durch sein Urteil sprechen möchte. Menschen, die Sie kennen, charakterisieren Sie als geradlinig und eigenwillig, als einen hervorragenden Juristen, der scharfsinnig den Sachen auf den Grund geht und mit diesen richterlichen Eigenschaften den Senat und seine Rechtsprechung bereichert hat. Auf diese, Ihnen ganz eigene Art, haben Sie zum Erfolg des Gerichts beigetragen. Aus vollstem Herzen sage ich Ihnen heute: Dafür gebührt Ihnen der Dank unseres Vaterlandes!

Ich wünsche Ihnen, lieber, verehrter Herr Gerhardt, alles Gute für Ihren neuen Lebensabschnitt. Ab jetzt können Sie noch besser Ihre nicht-juristischen Interessen wahrnehmen – wie ich erfahren habe, vor allem Ihrem Faible für moderne Kunst können Sie sich widmen. Und alle, die in ein gewisses Alter kommen, stehen dann vor einer großen Aufgabe: zu begreifen, dass es ein Leben nach dem Beruf gibt. Ich bin sicher, dass Ihnen das gelingen wird, so wie Ihnen Ihr bisheriger beruflicher Lebensweg gelungen ist. Noch einmal: Ich danke Ihnen im Namen unseres Landes für alles, was Sie geleistet haben.

Und damit kommen wir zu Ihnen, verehrter Herr Maidowski. Sie gehören nun dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts an – herzlichen Glückwunsch zur Wahl und zum neuen beruflichen Lebensabschnitt.

Herausforderungen haben Sie schon vielfach gemeistert in Ihrem Leben. Geholfen hat Ihnen dabei sicherlich die kosmopolitische Erfahrung, die Sie schon als Kind und Jugendlicher prägte: Ich habe mir erlesen, mit der Familie wuchsen Sie erst in Tokio und dann in Kabul auf. Ihre Offenheit zeigte sich auch darin, dass Sie nach Ihrem Juristischen Studium noch ein Philosophiestudium anhängten. Und ich stelle mir vor, dass Sie für das neue Amt alle wichtigen Erfahrungen mitbringen, aus den Instanzen, die Sie durchlaufen haben: Richter am Verwaltungsgericht, am Oberverwaltungsgericht und schließlich am Bundesverwaltungsgericht.

Sie haben – sozusagen – den Rechtsweg erschöpft und kommen nunmehr zum Bundesverfassungsgericht. Da wartet noch etwas auf Sie, was Ihnen neu ist. Es ist ein Anfang. Und wir wissen ja von Herrmann Hesse, dass den Anfängen ein Zauber innewohnt. Ich hoffe, dass Ihnen bei aller Nervosität dieses Gefühl heute auch noch zuteil wird. Mit Ihren vielfältigen Blickrichtungen auf das Recht, auf die Welt und das Leben – so hoffe ich – werden Sie den zweiten Senat bereichern. Ich wünsche Ihnen, verehrter Herr Maidowski, alles Gute.