Gedenkstätte Hartmannsweilerkopf

Schwerpunktthema: Rede

Wattweiler/Frankreich, , 3. August 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 3. August in seiner Gedenkrede am Hartmannsweilerkopf an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erinnert: "Tage der Erinnerung wie diese sind wichtig. Erst in der Rückschau können wir ermessen, welch langen Weg wir in Europa gehen mussten, um dorthin zu kommen, wo wir heute stehen. Wir können, gerade im Kontrast zu 1914, sagen: Wir haben gelernt, in vielen schmerzhaften Lektionen, Gegensätzlichkeit in Vielgestaltigkeit zu überführen."

Bundespräsident Joachim Gauck hält bei der Gedenkveranstaltung zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges in der Gedenkstätte Hartmannsweilerkopf eine Rede

Wir gedenken heute, am 100. Jahrestag der Kriegserklärung des Deutschen Reichs an Frankreich, hier am Hartmannsweilerkopf einer der furchtbarsten und düstersten Zeiten unserer gemeinsamen Geschichte. Wir erinnern uns an diese Zeit an einem Ort, der wie wenige andere die Sinnlosigkeit und den Schrecken dieser Jahre symbolisiert. Wir gedenken der Gefallenen, der Vermissten und der Verwundeten auf beiden Seiten. Wir trauern um sie und ehren ihr Andenken. Sie sind nicht vergessen.

Es sind nur wenige Quadratkilometer, wenige Höhenmeter, auf denen sich hier zehntausende Soldaten, zehntausende Menschen gegenseitig belauert und belauscht, angegriffen und verjagt, erschossen und erstochen haben. Gar nicht zu reden von all den Verwundeten und Verkrüppelten – die meisten für ihr Leben gezeichnet. Einer, der am Hartmannsweilerkopf dabei war, schrieb im April 1915 an seine Lieben: … alles war so friedlich und schön und hier mussten die bösen Menschen zwieträchtig einander Tod und Verderben bereiten! – Ach, wie herrlich wird es sein, wenn in diesen blauen Bergen wieder Friede ist!!

Der Hartmannsweilerkopf war nichts anderes als ein Schlachthaus, ein mangeur d’hommes. Doch nicht der Berg hat die Menschen vernichtet und gefressen. Es waren die Menschen selber, die buchstäblich alle Mittel probiert und eingesetzt haben, um sich gegenseitig zu vernichten. Es ist eben allein der Mensch, der unmenschlich handeln kann.

Es fällt wirklich schwer, sich heute und hier auch nur annähernd vorzustellen, was in den Zeiten des Ersten Weltkrieges eine Hölle auf Erden geworden ist. Hier, in einer der schönsten Landschaften, die man sich vorstellen kann, hier, im alten Herzland Europas, hier hat Europa verraten, was seine Werte, seine Kultur, was seine Zivilisation ausmachte.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass wir im Tiefsten ratlos und fassungslos vor dem stehen, was uns die historische Erzählung als wirklich und tatsächlich geschehen schildert. Wir können es eigentlich nicht glauben, ja nicht einmal für möglich halten, mit welchem fanatischen Willen zur Vernichtung hier gekämpft wurde, aber auch mit welcher fanatischen Bereitschaft zum Selbstopfer.

Dieser Fanatismus war Ergebnis einer schrecklichen intellektuellen und moralischen Verblendung, wie wir heute sagen müssen. Alle, die damals hier und anderswo kämpften, sie glaubten, das Richtige zu tun. Alle glaubten, das gegenseitige Abschlachten sei gerechtfertigt. Der Krieg sei, auch in dieser modernen, industrialisierten Form, die einzige Möglichkeit, der guten, der nationalen Sache Geltung zu verschaffen. Alle glaubten, auf Seiten der wahren Kultur und Zivilisation zu stehen und diese eben gegen Feinde zu verteidigen – und alle gemeinsam wirkten so dabei mit, genau diese Kultur, diese Zivilisation zu zerstören. Das alte Europa, das eben noch, in der Belle Époque, eine so großartige und heute nur wehmütig zu bestaunende Blüte erlebt hatte, es versank in Barbarei – verführt von einem übersteigerten Nationalismus, der Elend und Verderben brachte.

Die Idee der Nation ist kostbar – wo wüsste man das besser als in Frankreich. Aber sie kann auch übersteigert und ins Extrem getrieben werden. Als solches Extrem hat sie uns Deutsche zweimal in einen Weltkrieg getrieben – und zweimal unsere beiden Völker gegeneinander aufgehetzt.

Ich kann nicht ohne Bewegung daran erinnern, was die Menschen im Elsass und in Lothringen erleben mussten. Viele der Schlachten und der Grabenkämpfe fanden hier über Jahre in dieser alten Region der Grenze, des Austausches und des Übergangs statt. Die Landschaft trägt bis heute die Narben. Die Elsässer und Lothringer fühlten sich als Spielball der historischen Wechselfälle. Das Leid, das gerade ihnen widerfahren ist, ernst zu nehmen, das gehört zu meinem, zu unserem Erinnern dazu.

Dass Frankreich und Deutschland einmal zwei selbstbewusste, zugleich einander freundliche Nachbarn sein würden: Das war lange Zeit nicht vorstellbar. Nachdem Deutschland im Ersten und im Zweiten Weltkrieg Frankreich überfallen hatte, können gerade wir Deutschen das Geschenk dieser Versöhnung nur staunend und dankbar annehmen. Und wir alle können nichts als immer wieder dankbar sein für das große Werk der Versöhnung, das von Vertretern jener Generation ins Werk gesetzt wurde, die sich nur kurz zuvor noch als Erbfeinde zu erkennen glaubten. Charles de Gaulle und Konrad Adenauer stehen symbolisch für die Freundschaft, die andere bedeutende Repräsentanten unserer Länder immer wieder bekräftigt haben und die heute zwischen Deutschland und Frankreich möglich ist.

Sie haben auf Ihre Familiengeschichte verwiesen, Herr Präsident. In meiner eigenen Familiengeschichte kann ich die dramatischen Veränderungen im Verhältnis zu Krieg und Frieden und zu den sogenannten Feinden beobachten. All meine männlichen Vorfahren waren ein- oder zweimal im Krieg. Ich selbst, meine Söhne und Enkel, wir kennen dieses Lebensgefühl nicht mehr. Alle meine Vorfahren lebten mit der Gewissheit: Es gibt geborene Feinde – bei meinen Söhnen und Enkeln nichts mehr davon. Als ich aufwuchs, gab es in unserem Haushalt noch die sogenannte patriotische Literatur, auch aus der Zeit des 1. Weltkriegs über deutsche Kriegshelden, die Seekriegsflotte, U-Boot-Helden oder die berühmten Jagdflieger. Schon mein ältester Sohn hat davon nichts mehr mitbekommen. Ich habe ihm diese Bücher selbstverständlich nicht in die Hand gedrückt. Neues Denken und neues Erinnern haben das alte Deutschland grundlegend verändert. Der Begriff Erbfeind wirkt heute im neuen Deutschland archaisch, geprägt in vormodernen Zeiten, als ein forcierter Nationalismus die Gemeinsamkeiten der europäischen Zivilisation nicht erkennen konnte.

Wir haben, hoffentlich endgültig, begriffen, dass die Nation als Heimat und als Bezugspunkt von Identität und Zugehörigkeit wichtig sein kann, ohne dass wir Überlegenheit über andere fühlen oder gar beweisen müssen.

Das gemeinsame Europa und die gemeinsamen europäischen Einrichtungen sind keine Laune der Geschichte. Sie sind vielmehr die Institution gewordene Lehre aus der Geschichte. Sie sind die Sicherung gegen Verirrung und Verführung. Zu den großen Aufgaben der Gegenwart wie der Zukunft wird es gehören, diesen tiefen und geradezu lebenswichtigen Sinn unserer gemeinsamen europäischen Institutionen, ja, unserer ganzen gemeinsamen europäischen Politik immer wieder deutlich werden zu lassen. Dabei wirkt die Zivilgesellschaft beständig mit. Ich bin dankbar für die langjährige Arbeit des Deutsch-Französischen Jugendwerks, dessen Vertreter heute unter uns sind.

Tage der Erinnerung wie diese sind wichtig. Erst in der Rückschau können wir ermessen, welch langen Weg wir in Europa gehen mussten, um dorthin zu kommen, wo wir heute stehen. Wir können, gerade im Kontrast zu 1914, sagen: Wir haben gelernt, in vielen schmerzhaften Lektionen, Gegensätzlichkeit in Vielgestaltigkeit zu überführen. Wir haben gelernt, das Antagonistische in Komplementäres zu verwandeln.

Deshalb wollen wir uns stets aufs Neue darauf verpflichten, den politischen Willen nicht zu verlieren, der aus alten Feinden Partner und Freunde machte. Wir wollen uns darauf verpflichten, am vielgestaltigen Europa festzuhalten und daran unermüdlich weiter zu arbeiten. Wir wollen uns auch darauf verpflichten, es uns nicht leicht zu machen und populistischen Strömungen nachzugeben, die wohlfeil mit antieuropäischen Parolen Stimmung machen.

Es stimmt ja: Europa ist ein schwieriges Projekt. Aber die Generationen vor uns hätten gerne die Schwierigkeiten von heute gehabt, jene Vorfahren, die in den Schlachtfeldern hier am Hartmannsweilerkopf, an der Marne oder vor Verdun gekämpft haben. Unsere Schwierigkeiten können wir gemeinsam bewältigen. Wir können an einem historischen Projekt arbeiten, in dem nicht mehr die einen Sieger und die anderen Verlierer sind, sondern alle miteinander gewinnen – nur miteinander. Das ist unser Bekenntnis am heutigen Tag.

Europa hat eine lange Geschichte, eine Geschichte, die aber hauptsächlich in den einzelnen Geschichten der Nationen und Völker, der Länder und Regionen erzählt wird. Wir haben es noch kaum gelernt, unsere europäische Geschichte auch als gemeinsame zu erzählen. Nicht nur unsere europäischen Sprachen sind verschieden, auch unsere Sicht auf uns selbst, auf den anderen und auf die Welt.

Deshalb freue ich mich, heute gemeinsam mit Präsident Hollande, hier am Hartmannsweilerkopf, den Grundstein einer gemeinsamen französisch-deutschen Gedenkstätte zu legen.

Wenn wir die Geduld aufbringen, uns mit den Sichtweisen und den Erzählperspektiven des anderen vertraut zu machen, dann lernen wir immer besser, miteinander solidarisch zu sein. Dazu kann die neue Gedenkstätte einen Beitrag leisten.

Das blutige 20. Jahrhundert soll uns nicht vergeblich mahnen. Lernen wir aber weiter voneinander und miteinander, kommen wir weiter miteinander ins Gespräch und entwickeln wir gemeinsam eine Kultur des Vertrauens, für eine Gegenwart und eine Zukunft des Friedens und der Freiheit – in ganz Europa.