Gedenkveranstaltung 100 Jahre Erster Weltkrieg in Lüttich

Schwerpunktthema: Rede

Lüttich/Belgien, , 4. August 2014

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 4. August in seiner Gedenkrede in Lüttich an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erinnert: "Wir sind deshalb als Repräsentanten so vieler Länder heute nicht nur im Gedenken vereint, wir stehen hier auch als Zeugen des größten politischen, kulturellen und moralischen Erfolgs des alten Europa: Frieden und Versöhnung sind möglich. Aus einem Kontinent fortwährender Feindschaft und immer neuer Kriege ist ein Kontinent des Friedens geworden. Solche Zeugschaft sollte uns aber auch daran erinnern, dass wir gemeinsam eine Verantwortung haben für die Welt. Wir können nicht gleichgültig bleiben, wenn Menschenrechte missachtet werden, wenn Gewalt angedroht oder ausgeübt wird."

Bundespräsident Joachim Gauck hält bei der Gedenkveranstaltung zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges am Monument Interallié in Lüttich eine Rede

Ich danke Ihnen sehr für diese Einladung. Genauso danke ich allen Belgierinnen und Belgiern, die nach den beiden Kriegen, nach dem zweimaligen Überfall deutscher Truppen auf Ihr Land, nach den Gräueln, nach all dem Leid, nach all dem Elend, schon sehr bald nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand ausgestreckt haben zur Versöhnung. Es ist, nach allem was geschehen ist, alles andere als selbstverständlich, dass ich, ein deutscher Präsident, hier stehe und zu Ihnen spreche. Ich stehe hier also voller Dankbarkeit und Freude und diesen Dank sage ich auch im Namen aller meiner deutschen Landsleute. Wir gedenken heute des schrecklichen Großen Krieges, der zum Ersten der beiden Weltkriege wurde. Dieser Krieg begann in Westeuropa mit dem durch nichts zu rechtfertigenden Überfall Deutschlands auf das neutrale Belgien. Dieser Überfall folgte allein der militärischen Logik. Und so wurde schon am ersten Tag des Konflikts sichtbar, wie schnell Verträge wertlos und zivilisatorische Standards außer Kraft gesetzt waren.

Außerhalb Deutschlands war man entsetzt über die deutschen Truppen, vor allem über das Vorgehen gegen Zivilisten und über die Angriffe auf das kulturelle Erbe. Zum Symbol, das weithin Angst, Bestürzung und Zorn auslöste, wurde die Zerstörung der weltberühmten Bibliothek von Löwen. In Deutschland selber erklärten Intellektuelle und Kulturschaffende in einem noch bis heute beschämenden Appell die Verbrechen gegen Land und Leute, auch und gerade die Angriffe auf die Kultur, für gerechtfertigt, ja, notwendig. Was war nur aus der Gemeinschaft der Gelehrten und der Künstler geworden? Was aus der Zivilisation namens Europa?

Der Nationalismus hatte beinahe alle Herzen und Hirne verblendet. Weder kulturelle und zivilisatorische Standards, noch religiöser Glaube, noch die Vernunft waren stark genug für eine andere Orientierung der Gewissen. Im Gegenteil: Man glaubte sich sogar sittlich und religiös im Recht. Im Kampf der einen Kultur gegen die andere triumphierten Überlegenheitsgefühle und extremer nationaler Egoismus über die Empathie.

Das eklatante Versagen der Diplomatie, der unglückselige Schlieffenplan,

die Sehnsucht nach einer vermeintlich kräftigenden Reinigung einer zivilisationsmüden Epoche im Stahlbad des Krieges,

die irrige Vorstellung eines kurzen Waffengangs zur Klärung internationaler Streitfragen

und schließlich eine maßlose Propaganda, die eine bis dahin unerhörte Verteufelung des Feindes mit sich brachte:

All das stürzte Europa in einen Bruderkrieg, der schließlich auch weite Teile der Welt mit in Brand setzte.

Spätestens mit dem Überfall deutscher Truppen auf Belgien war, wie im antiken Mythos, die Büchse der Pandora geöffnet, aus der millionenfach Unglück, Elend, Verkrüppelung und Tod hervorgingen.

Gemeinsam mit Repräsentanten aus aller Welt gedenken wir der Gefallenen, der Verwundeten, der an Leib und Seele grausam Verstümmelten. Wir werden ihnen ein ehrendes Andenken bewahren. Wir sind dankbar dafür, dass wir hier in Europa nun schon so lange in Frieden miteinander leben können. Wir wissen: Das ist keine Selbstverständlichkeit. Gerade hier in Belgien, wo das verfasste Europa zuhause ist, ist der Ort, die europäische Einigung zu loben. Statt des Rechts des Stärkeren gilt in Europa heute die Stärke des Rechts. Die zivilisatorische Leistung, die darin liegt, dass kleinere und größere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union heute friedlich in Brüssel um gemeinsame Positionen ringen und sich auf gemeinsame Politik verständigen, sie ist nicht zu überschätzen.

Wir wissen all das aus unserer eigenen unheilvollen Geschichte. Wir wissen es aber auch, wenn wir uns den gegenwärtigen Zustand der Welt vor Augen führen. Kriege, terroristische Brutalität und Bürgerkriege an so vielen Orten. Millionen Menschen leiden unter Gewalt und Terror, Millionen sind auf der Flucht. Immer noch werden politische, völkische oder religiöse Überzeugungen instrumentalisiert, um als Rechtfertigung von Gewalt und Mord zu dienen. Immer noch verbreiten Extremismus und Fanatismus Angst und Schrecken. Und wieder wird in einer Region das Völkerrecht missachtet, in anderen Regionen der Welt das Kriegsrecht, oder unverhältnismäßige Gewalt wird in Konflikten eingesetzt.

Wir sind deshalb als Repräsentanten so vieler Länder heute nicht nur im Gedenken vereint, wir stehen hier auch als Zeugen des größten politischen, kulturellen und moralischen Erfolgs des alten Europa: Frieden und Versöhnung sind möglich. Aus einem Kontinent fortwährender Feindschaft und immer neuer Kriege ist ein Kontinent des Friedens geworden. Solche Zeugschaft sollte uns aber auch daran erinnern, dass wir gemeinsam eine Verantwortung haben für die Welt. Wir können nicht gleichgültig bleiben, wenn Menschenrechte missachtet werden, wenn Gewalt angedroht oder ausgeübt wird. Wir müssen aktiv eintreten für Freiheit und Recht, für Aufklärung, für Toleranz, für Gerechtigkeit und Humanität.

Es waren bittere, es waren schreckliche Lektionen, die uns die beiden großen Kriege bereitet haben. Zeigen wir nicht nur in den Worten der Erinnerung und des Gedenkens, sondern auch durch unser Handeln in Gegenwart und Zukunft, dass wir unsere Lektion wirklich gelernt haben.