70. Deutscher Juristentag

Schwerpunktthema: Rede

Hannover, , 16. September 2014

Der Bundespräsident hat am 16. September zur Eröffnung des 70. Deutschen Juristentages eine Rede gehalten: "Wir haben in Deutschland erlebt, dass Recht fragil ist, dass es missbraucht werden kann. Aber was haben wir danach erlebt? – eine hochimponierende Etappe deutscher Rechtsstaatlichkeit. Und wir sind miteinander froh und glücklich, dass dieser so gut gewachsene Rechtsstaat nicht in der Gefahr ist, ausgehöhlt zu werden, jedenfalls dann nicht, wenn wir die neuen Herausforderungen, seien sie technologischer oder kultureller Art, auch juristisch annehmen."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Rede bei der Eröffnung des 70. Deutschen Juristentages im Congress Centrum in Hannover

Die deutschen Juristen begehen ihren 70. Juristentag, und ich bin gerne zu Ihnen nach Hannover gekommen.

Das ist aber nicht der einzige Grund, warum ich gerne hierher gekommen bin. Ich habe relativ spät die Kostbarkeit der Rechtsordnung und die Bedeutung von Recht für alle Gemeinwesen erkannt. Warum, werde ich im Verlaufe dieses Vortrages erläutern. Dieser Rechtsstaat – eine Errungenschaft, die vielen Deutschen aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichen Zeiten vorenthalten wurde –, er ist ein so beeindruckendes Gebäude, dass viele Menschen ein ganzes Leben brauchen, um zu begreifen, wie wichtig und wie grundlegend er ist.

So wie Sie sind über anderthalb Jahrhunderte hinweg alle zwei Jahre Vertreterinnen und Vertreter der juristischen Berufsstände zusammengekommen, mit einer Unterbrechung während der NS-Herrschaft, als die rechtsstaatliche Entwicklung in Deutschland nicht durch einen Juristentag begleitet, kommentiert und vorangebracht werden konnte. Es war der Zustand devastierten Rechts.

Wir haben durch den Einführungsvortrag schon gehört, dass wir uns im Rechtsstaat nie im Zustand ewiger Gewissheit und passgerechter Normen befinden. Und wenn es dazu noch eines Beweises bedurft hätte, dann ist dieses Forum der beste.

Allzu leicht nehmen wir es als gegeben hin, dass Deutschland heute ein Rechtsstaat ist, in dem sich die Bürger frei und geschützt entfalten können. Und allzu leicht vergessen wir: Der Rechtsstaat ist eben keine Selbstverständlichkeit. Er muss ständig gepflegt und fortentwickelt werden. Und es ist gut, wenn diese Arbeit nicht allein Politikern, Parteien und Interessenverbänden überlassen wird. Gut, dass es den Deutschen Juristentag gibt.

Er war mit seinen Empfehlungen an die Politik seiner Zeit sehr oft voraus. Ich nenne beispielsweise das Jahr 1950. Da war ein Thema des Juristentages Europäische Rechtseinheit. Und heute setzt sich der Deutsche Juristentag mit großen neuen Herausforderungen auseinander, wie den Folgen der digitalen Revolution, und er debattiert darüber, dass in bestimmten Zuwanderermilieus kulturell-religiöse Vorstellungen ein anderes Rechtsverständnis prägen. Ich wünsche Ihnen fruchtbare und ertragreiche Diskussionen, nicht nur auf diesen Gebieten.

Als mich die Ständige Deputation des Deutschen Juristentages eingeladen hat, hier zu sprechen, bin ich der Einladung gerne gefolgt. Und ich habe mir gedacht, ich muss ein Thema meines Lebens und meiner Interessen mitbringen, das mich lange Jahre geprägt hat – jedenfalls die Jahre, die ich in Freiheit leben durfte –, nämlich die Aufarbeitung des Unrechts vergangener Diktaturen.

Ich habe mich, als ich vorhin auf meinem Platz in der ersten Reihe saß und diesem wunderbaren Oktett lauschen konnte, an eine Situation vor ein paar Tagen erinnert, als das Bundessozialgericht in Kassel sein 60. Jubiläum feierte. Da waren auch Bläser, auch starke Typen, und sie hatten nichts weniger auf dem Programm als das Halleluja von Händel. Und ich wusste nicht genau, wem das gilt – dem Präsidenten des Gerichts, all den Juristen, die zu Gast waren, oder mir als ehemaligem Pfarrer? Ich konnte es mir nicht richtig zusammenreimen. Doch dann geriet so etwas wie ein Blitz in mein Gehirn und in mein Gemüt, und ich habe das so gedeutet, dass es eigentlich ein Halleluja dafür ist, dass wir uns in einer Landschaft des ungebeugten Rechts befinden, des nicht kompletten, aber des ungebeugten Rechts. Und das ist wohl eines jeden Lobpreises würdig.

Ich werde in meinem Vortrag die Hintergründe andeuten, die mich so sprechen lassen. Ich weiß, dass das für manchen zu euphorisch klingt. Genauso wie es manchem zu euphorisch klingt, wenn ich mit Pathos über Freiheit spreche. Aber es gibt in Europa genügend Menschen, die, weil sie sie verloren hatten, die Güter des Rechts und den Wert der Freiheit in einer besonderen Weise schätzen. Und deshalb sprechen sie auch in einer besonderen Weise darüber. Und deshalb möchte ich Ihnen, den verschiedenen juristischen Berufsständen, die sich hier versammelt haben, eine Huldigung anbieten. Ich bin kein Künstler, sonst würde ich es so machen wie das Oktett vorhin und würde Ihre Herzen rühren mit meiner Huldigung. Sie müssen nun mit einer kargen Rede vorlieb nehmen.

Freilich, es ist die Rede eines gebrannten Kindes. In diesen Jahren erinnern wir uns daran, dass vor 25 Jahren der magische Herbst und Winter 1989 stattfand. Als im Osten Deutschlands mehr und mehr Menschen ihre Angst überwanden und schließlich die Herrschenden entmachteten, bahnten sie nicht nur der Freiheit und der Demokratie den Weg, sondern auch der Herrschaft des Rechts. Und hier steht einer vor Ihnen, der selbst ein Stück rechtsstaatlich gefasster Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anstoßen und auch ein wenig gestalten konnte.

Wie gut ist die Aufarbeitung der Taten des SED-Regimes gelungen? Sind Gerechtigkeit und Rechtsfrieden eingekehrt? Wer glaubt, solche Fragen würden heute niemanden mehr interessieren, der höre: In Brandenburg hat sich gerade erst eine Enquete-Kommission vier Jahre lang ausführlich mit diesem Thema befasst.

Auch die Fragen nach der juristischen Aufarbeitung der ungleich größeren Schuld der Deutschen an den nationalsozialistischen Verbrechen sind – und zwar mit gutem Grund – bis heute nicht verstummt. Noch immer gibt es Ermittlungsverfahren, vereinzelt auch Prozesse. Aber vor allem fragen Opfer und ihre Angehörigen noch immer, warum die einstigen Peiniger, von denen manche heute noch leben, nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind.

Das ist nicht allein ein deutsches Thema. In vielen Ländern müssen Menschen mit dem zerstörerischen Erbe von Gewalt und Unrecht umgehen, und nicht wenige schauen dabei auf unser Land, auch auf unsere doppelte Erfahrung mit der Bearbeitung von Schuld.

Lohnend erscheint mir das Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen der juristischen Auseinandersetzung mit diktatorischem Unrecht noch aus einem weiteren Grund. Diese Auseinandersetzung wirft doch grundsätzliche Fragen auf. Nämlich: Was kann Recht? Was dürfen wir vom Recht erwarten und was nicht? Und was hat Recht mit Gerechtigkeit zu tun? Und was haben wir zu tun, damit Recht können kann, was es können soll? Wenn wir unseren Rechtsstaat schützen wollen, müssen wir uns solchen Fragen stellen.

Wohl alle von Ihnen hier im Saal kennen den berühmten Satz, den Bärbel Bohley – die vor, fast auf den Tag genau, 25 Jahren das neue Forum gründete – bald nach der deutschen Einheit formuliert hat: Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Für Sie alle hier ist es ein trübsinniges Diktum. Ein wenig bedrohlich auch. Aber für unzählige Menschen im Lande kam das mitten aus dem Herzen, mitten aus ihren Empfindungen heraus. Deshalb müssen Fachjuristen solche Fragen aushalten. Und sie werden mit Sorgfalt und Entschlossenheit darauf reagieren.

Gehen wir einmal darauf ein: Das ist ja ein Wort aus der Perspektive der Betroffenen gewesen, aber vielleicht auch irgendwie verständlich. Versetzen wir uns einen Moment in die damalige Zeit. Das Verfahren gegen Honecker – was hatte das Politbüro nicht alles auf dem Kerbholz? Aber dann wird das Verfahren eingestellt, weil der Mann krank ist. Völlig klar für jemanden, der in einer Rechtsordnung lebt und aufgewachsen ist. Aber völlig unverständlich für viele Leute, die gesagt hätten: Mit demselben Gesundheitszustand hätte er uns doch noch viele Jahre unterdrückt: Warum können wir ihn dann nicht behandeln wie einen normalen Menschen? Auch vielen anderen hohen Funktionären ist eher eine milde Gerechtigkeit widerfahren. Das Gefühl für eine solche Form der Gerechtigkeit gab es bei den allermeisten Menschen in dem zugrunde gegangenen Lande damals noch nicht.

Sehen wir uns andere Verfahren an, die sogenannten Mauerschützenverfahren. Sie endeten fast durchgängig mit Bewährungsstrafen. Jetzt stellen wir uns diejenigen vor, die in der DDR eingesperrt wurden, wenn sie das Regime kritisiert hatten. Oder stellen wir uns diejenigen vor, die einen nahen Menschen bei einem Fluchtversuch verloren hatten. Oder auch nur die, die unter Lüge und Indoktrination gelitten hatten. Stellen wir uns die Millionen vor, denen Freiheit verwehrt, Lebenschancen geraubt und Grundrechte vorenthalten wurden. Die konnten solche Entscheidungen leicht als Schwäche und einige sogar als Kapitulation des Rechtsstaats empfinden.

Jetzt fragen wir uns, wie es zu dieser Beurteilung kommt, die Ihnen möglicherweise fremd ist, weil Sie mit dem Recht vertraut sind, weil Sie mit ihm aufgewachsen sind, weil die Rechtsnormen und die Rechtspraxis einen Teil Ihres Lebens begleitet, ja, geprägt haben. Nun schauen wir wieder auf die andere Seite. Was hätte uns der Bezug auf das Recht in Zeiten der DDR gebracht, uns, den Unterdrückten? Natürlich, der eine oder andere hätte uns verstanden. Aber viel wichtiger war es damals für die Unterdrückten, dass sie die bessere Moral hatten. Die Moral war eine starke Waffe gegen die Unterdrücker, sie war auf der Seite der Unterdrückten. Mit moralischen Gründen konnten wir den Machthabern zurufen: Du nimmst mir Rechte und Freiheiten, die mir zustehen. Als aber die Unterdrücker keine Macht mehr hatten, als es dann nach 1989 darum ging, die Demokratie aufzubauen, da spürten viele von uns, aber nicht alle, dass allein die bessere Moral eben jetzt nicht mehr ausreichte – übrigens auch nicht das Gerechtigkeitsempfinden der Unterdrückten.

Und so musste in dieser Transformationszeit von der Diktatur zur Demokratie noch einmal neu ein Prozess stattfinden, der in den Rechtsstaaten zu Beginn der Zeit stattfand, als das Recht gegenüber der Macht der Herrschenden Norm wurde. Ich erinnere mich noch genau: Als Sprecher einer Bürgerbewegung von 1989 in meiner Heimat und später als Behördenleiter spürte ich, und alle politischen Akteure spürten es damals: Wir brauchen Rechtsnormen, wenn wir nicht neuerlich Willkür in Kauf nehmen wollen.

Ich habe ein ganz kleines Beispiel aus der Praxis, als ich gerade frisch berufen wurde, um als Behördenleiter über die Stasi-Akten zu wachen. Aus der Bürgerbewegung, auch von Bärbel Bohley zum Beispiel, kam der Ruf: Na, jeder nimmt seine Stasi-Akte, wir haben sie ja nun gesichert. Es sind schließlich unsere, und jeder geht damit nach Hause. Das hört sich zunächst einmal sehr gut an. Die Unterdrückten werden in den Zustand versetzt, das Herrschaftswissen ihrer Unterdrücker selber in Besitz zu nehmen.

Das wollten wir auch – auch wir Abgeordneten. Aber wir mussten darauf achten, dass es inzwischen ein Datenschutzrecht gab und andere Rechtsnormen. Es ging so nicht mit dem Nach-Hause-Nehmen eines Aktenkonvoluts, und wir mussten begreifen: Wir brauchen Regeln, Rechtsnormen. Und wir wollten nicht neuerlich Willkür in Kauf nehmen. Es gibt ja auch eine Willkür der Guten. Das wollten wir aber nicht. Wir mussten begreifen, dass der Rechtsstaat nur dann stark ist, wenn er seinen Regeln treu bleibt, auch und gerade denen gegenüber, die Recht missachtet und missbraucht haben. Sein Wert liegt genau darin, dass er die Gleichheit aller vor dem Gesetz garantiert, dass er Rechtssicherheit garantiert und damit letztlich auch Rechtsfrieden. Rache oder einen Ausgleich aller durch die Diktatur geraubten Lebenschancen kann der Staat nicht leisten – auch wenn nach Diktaturen dieses Bedürfnis deutlich, manchmal überdeutlich zutage tritt, auch übrigens, wenn es menschlich verständlich ist, dass diese Bedürfnisse existieren.

Aber zu den Regeln der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit Schuld gehört nun einmal – so schwer es fällt –, dass auch der Rechtsbrecher Rechtssicherheit genießt und dass ein Täter – so strafwürdig sein Tun erscheinen mag – nur dann juristisch verurteilt werden kann, wenn seine Tat, gemessen an dem zur Tatzeit gültigen Gesetz und Recht, auch strafbar ist.

Das mussten viele erst lernen. Rund 100.000 Ermittlungsverfahren sind nach 1989 wegen SED-Unrechts eingeleitet worden, eine wahrlich beachtliche Zahl. Dann wurden 1.286 Hauptverfahren eröffnet, und etwas mehr als 750 Beschuldigte wurden verurteilt und nur 40 zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Wenn ich diese Zahlen nenne, verbindet sich die Nennung der Zahlen mit folgendem Eindruck: Wunderbar! Die Justiz hat ihre Pflicht getan, als sie anfing zu ermitteln. Sie hat damit der Bevölkerung gezeigt: Wir nehmen ernst, was ihr erlitten habt. Aber wir spüren auch, warum so viele Landsleute damals erschrocken sind vor der, wie sie es meinten, unnötigen Milde des Rechtsstaates. Sie hatten die Segnungen, über die ich eben gesprochen habe und die Ihnen vertraut sind, aufgrund Ihres Lebens in einem Rechtsstaat, noch nicht erkennen können. Manche arbeiten heute noch daran.

Welch schwierige Fragen in der Zeit nach 1989 erneut zu beantworten waren, haben insbesondere die Mauerschützenprozesse gezeigt. Gerade weil das Rückwirkungsverbot so wichtig ist, zeigte doch die damals viel diskutierte und auch dann angewendete Radbruch'sche Formel: Es geht nicht allein um fachjuristische Fragen, es geht auch um komplexe rechtsphilosophische Fragen. Mit ihr, der Radbruch'schen Formel, kann in Ausnahmefällen, wenn ein unerträglicher Widerspruch zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit besteht, die materielle Gerechtigkeit höher zu bewerten sein als die Rechtssicherheit.

Schwer zu akzeptieren war für viele Betroffene auch eine andere Grenze der juristischen Vergangenheitsbewältigung. Sie liegt darin, dass ein Gesetz grundsätzlich nach dem rechtswidrigen und schuldhaften Verhalten Einzelner fragt. Das Politbüro oder die Stasi konnte man moralisch schon verurteilen, nicht aber juristisch als Kollektiv.

Die Individualisierbarkeit von Schuld war bereits in früheren Zeiten schon eines der wesentlichen Probleme der ungleich zögerlicheren, gerichtlichen Auseinandersetzung mit den unfassbaren Massenverbrechen unter nationalsozialistischer Herrschaft. Denn konkrete Einzelheiten und Einzeltaten waren oft kaum nachzuweisen. Und an dieser Stelle erinnern wir uns an Fritz Bauer, den mutigen hessischen Generalstaatsanwalt und Initiator des Auschwitz-Prozesses. Er kam schon damals zu dem Schluss – eine extreme Minderheitenmeinung –, die Justiz privatisiere und entschärfe das kollektive Verbrechen an den Juden durch Atomisierung des Gesamtgeschehens. Ihn hätte vermutlich elektrisiert, wie vor wenigen Jahren das Urteil gegen den mutmaßlichen KZ-Wachmann John Demjanjuk begründet wurde.

Aber auch, wo Urteil und Strafe nicht hinreichen, sind justizielle Bemühungen nicht vergeblich. Strafverfahren haben Aufklärungsfunktion, wenn es um systematisches Unrecht geht. Es war das große Verdienst von Fritz Bauer, dass im Auschwitz-Prozess gleich 22 Angeklagte vor Gericht standen und so ein komplexes Bild ihres schrecklichen Tuns in den Lagern gewonnen werden konnte. Und die Mauerschützenprozesse nach 1989 zeigten, wie Grenzsoldaten durch Instruktionen und Indoktrination in ein Unrechtssystem eingebunden waren. Diese Verfahren machten aber auch klar, welcher Handlungsspielraum dem Einzelnen dennoch blieb.

So schärften Strafverfahren den Blick für die Verstrickung in Schuld. Sie sandten eine öffentliche Botschaft an die Täter wie an die Opfer. Es war Unrecht, und es sind Menschen, nicht Systeme, die dieses Unrecht begehen. Und dieses Unrecht wird verfolgt, auch wenn es formaljuristisch legalisiert zu sein scheint und von den Herrschenden befördert wurde.

Was also kann Recht? Was dürfen wir von ihm erwarten? Was nicht? Die Antwort lautet: Recht kann, was es können darf. Was nach rechtsstaatlichen Maßgaben nicht verurteilt werden kann, das darf dann auch nicht verurteilt werden.

Dies klar zu benennen und offen zu verteidigen, ist wichtig. Denn es entlastet von all zu großen Hoffnungen und schützt vor Enttäuschungen. Die juristische Aufarbeitung von Unrecht ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Gerechtigkeit und Rechtsfrieden. Das gilt allgemein, aber insbesondere im Umgang mit einer belasteten Vergangenheit. Wir würden das Recht überfordern, wenn wir ihm allein die Aufgabe zuweisen würden, ein Unrechtsregime aufzuarbeiten, auch zu delegitimieren, und einen innergesellschaftlichen Ausgleich herbeizuführen.

Auch die Aufklärungsfunktion des Rechts hat Grenzen. Die Fragen der Justiz sind vom konkreten Fall und von den juristischen Vorgaben bestimmt und von ihnen auch beschränkt. Historiker beispielsweise brauchen keinen förmlichen Schießbefehl Schwarz auf Weiß, um über Schuld und Mitschuld bei der Tötung von Flüchtlingen an der Grenze zu einem Urteil zu gelangen. Allerdings ergänzen sich juristische, öffentliche und historische Aufarbeitung oft sehr gut bei ihrer Annäherung an die Wahrheit. Historiker haben den Hintergrund mancher Tat ausgeleuchtet, und am Ende ist es dann auch Aufgabe der Medien und der Öffentlichkeit zu fragen: Wer trug für welches Unrecht Verantwortung?.

Gerade weil während der SED-Herrschaft so Viele Unrecht begangen hatten, ohne sich im strafrechtlichen Sinne schuldig gemacht zu haben, war – auch für mich persönlich – wichtig zu begreifen, dass es verschiedene Dimensionen von Schuld gibt.

Dazu hat mir besonders einer verholfen, der in der Frühphase der Bundesrepublik in den öffentlichen Diskursen eine enorme Rolle spielte: Karl Jaspers. Er hatte sich schon 1946 mit der Verstrickung der Deutschen in die Gräueltaten unter dem NS-Regime auseinandergesetzt. In seiner kleinen Arbeit Die Schuldfrage habe ich gelesen, dass es diese Mehrdimensionalität von Schuld gibt: die strafrechtliche Dimension von Schuld, aber auch die moralische und ganz gewiss die politische Verantwortung und dann für gläubige Menschen natürlich eine metaphysische Dimension von Schuld. Indem er dies darstellt, wird jedem Leser klar, was er dann anführt: Jede dieser Dimensionen von Schuld braucht eine eigene Instanz zur Bearbeitung.

Deshalb ist das Gericht eben nicht die allumfassende Aufarbeitungsinstanz für jede Art von Schuld. Dies in den öffentlichen Diskurs von Unrechtsregimen nach deren Ende einzubringen, ist von enormer Wichtigkeit für einen befriedigenden Diskurs innerhalb der Gesellschaften. Ich denke, der Diskurs wird nicht auf Anhieb befriedigend sein, sondern er wird erst einmal spalten – und er muss spalten. Es gibt keinen wirklichen Kompromiss zwischen der Lüge und der Wahrheit, zwischen dem Recht und dem Unrecht. Das gibt es nicht. Es gibt manch notwendigen Kompromiss, aber deshalb muss man zur Urteilsfähigkeit erzogen werden, und es müssen die Kategorien für das Urteil erstellt werden. Und die Kategorien, um urteilsfähig zu werden, sind eben im Strafrecht andere als in den anderen Bereichen, von denen wir mit Recht von Schuld reden und die Pflicht haben, über Schuld und Verantwortung nachzudenken.

Ich habe diese Gedanken damals als befreiend empfunden, als ich eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung des SED-Unrechts übernommen hatte. Ich konnte auch meinen Frieden schließen mit Urteilen der unterschiedlichen Instanzen gegenüber Tätern, weil ich gesehen habe, dass wir in der öffentlichen Debatte sind. Hier ist die Instanz, die politische Verantwortung aufarbeiten muss, der öffentliche Diskurs, weil wir dort eine machtvolle andere Möglichkeit hatten, Unrecht Unrecht zu nennen und zu delegitimieren. Wir mussten nicht auf Richter warten, um urteilsfähig zu werden. Und es ist wichtig, dass wir uns das alle klarmachen und den Menschen, die es so schwer haben, in eine positive Beziehung mit der Rechtsordnung eintreten, vergewissern: Es gibt diese Möglichkeit einer nicht-strafrechtlichen Delegitimierung.

Es gilt wahrlich nicht nur für Deutschland und die Aufarbeitungsphänomene nach Diktaturen. Das ist weltweit ein wichtiges Handwerkszeug, um mit Zeiten von Unrecht im öffentlichen Diskurs klarzukommen.

Ich hatte damals diese Gedanken aber sehr nötig: Ich war Abgeordneter der Volkskammer und selbst mit meiner Annäherung an das Gebäude des Rechts verspätet. Ich war dann Vorsitzender eines Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und später Beauftragter für die Stasi-Unterlagen. Und ich habe damals wirklich erfahren, dass es für den inneren Frieden und den Neubeginn im vereinigten Deutschland heilsam war, dass wir damals verschiedene rechtliche Möglichkeiten schufen, das Herrschaftswissen einer nie legitimierten Macht öffentlich zu durchdringen und zu diskutieren.

Sehen wir uns einmal ein anderes Element an, das rechtsstaatlich in dieser Zeit gestaltet werden musste: das Recht auf Akteneinsicht für die Einzelnen, die mit diesem Recht ein Stück Rückerstattung geraubter Freiheit und Persönlichkeitsrechte erhielten. Aber es galt auch, Vertrauen zu schaffen in die neuen Institutionen der neuen Demokratie. Und so wurde ein anderes rechtlich geordnetes Element der Aufarbeitung von Diktatur geschaffen, nämlich die Möglichkeit, den öffentlichen Dienst zu überprüfen.

In diesem Überprüfungsverfahren konnten Namen und Sachverhalte offenbart werden. Man konnte benennen, wer als inoffizieller oder auch als offizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit die Freiheit unterdrückt, wer die Menschenrechte gebeugt und die Mitmenschen denunziert hatte. Man konnte Personen benennen, die sich durch derartige klandestine Aktivitäten von anderen Menschen und von anderen Bewerbern im öffentlichen Dienst unterschieden haben. Man konnte ihnen eine mangelnde Eignung für Vertrauensposten im öffentlichen Dienst nachweisen. So sollte mehr Vertrauen der Bevölkerung in Zeiten der Transformation geschaffen werden, denn der öffentliche Dienst ist in Zeiten der Diktatur immer ein Instrument der Diktatoren gegen die Bevölkerung. Nebenbei konnte durch Aktenöffnung und Überprüfung verhindert werden, dass Menschen wie Ibrahim Böhme oder Wolfgang Schnur, die sich jahrelang als Spitzel betätigt hatten, Ministerpräsident oder Minister wurden.

Und auch die individuelle Auseinandersetzung und – wo möglich – Versöhnung zwischen Täter und Opfer konnte es nach meiner Erfahrung nur geben, wenn Aufklärung vorangegangen war. Denn vergeben kann man doch nur, was man weiß, und nur dem, den man kennt.

Es gab damals Stimmen, die diese Form der Auseinandersetzung mit dem Unrecht nicht wollten. Einige bemühten sich um ein Schlussgesetz oder eine Generalamnestie. Ihre Motive waren unterschiedlich. Manche waren von persönlichen Interessen geleitet oder von der Furcht, Fehleinschätzungen bezüglich der DDR schlicht und einfach korrigieren zu müssen. Andere hielten den gesellschaftlichen Frieden für gefährdet, oder sie verwiesen auf osteuropäische Länder, in denen diese Form der Aufarbeitung noch nicht gegriffen hatte, oder auch Spanien nach der Franco-Herrschaft mit der Politik des Punto Finale.

Letztlich aber wurden diese Stimmen übertönt. Es gab in den verschiedenen politischen Parteien keine Mehrheiten für eine solche Praxis. Mächtiger war in unserem Land die Erfahrung, wie schmerzhaft die Verdrängung der Vergangenheit sein kann und wie heilsam eine offene Auseinandersetzung mit ihr. Wir wussten um die empörende Nachsicht gegenüber den Tätern des NS-Regimes in der Zeit nach 1945. Wir wussten um das Schweigen über das Unrecht und um die fehlende Empathie gegenüber den Opfern. Wir wussten um die gesellschaftlichen Wunden, die in den späten 1960er und 1970er Jahren in der alten Bundesrepublik gerade an dieser Frage aufgebrochen waren.

Genauso sollte es eben nicht wieder sein nach 1990 – um der Opfer willen und um des gesellschaftlichen Friedens willen. Letztlich gab es also 1990 den mutigen politischen und gesellschaftlichen Konsens für einen offenen Umgang mit der Vergangenheit.

Fehlt ein solcher Konsens, dann sind es oft einzelne, die maßgeblichen Anteil daran haben, dass der Widerstand gegen eine Auseinandersetzung mit dem begangenen Unrecht in Gesellschaft und Politik überwunden wird. Für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft beschreibt Fritz Bauer in seinen Lebenserinnerungen seinen oft einsamen Kampf, wenn er sich beim Gang durch sein Dienstgebäude gelegentlich fühle, als sei er unterwegs in Feindesland. Ihm und wenigen anderen Mitstreitern, insbesondere in der Ludwigsburger Zentralstelle, haben wir es hauptsächlich zu verdanken, was an gerichtsförmiger Aufarbeitung der NS-Verbrechen gelang.

Dennoch überwiegt im Rückblick die Scham über die ungezählten Versäumnisse der Justiz, über geschickt unkenntlich gemachte Amnestien und über Begründungen für Verfahrenseinstellungen, die in den Ohren der Opfer wie Hohn klingen mussten. Noch immer gibt es ungesühnte Verbrechen und Opfer, die gar nicht unbedingt nach Strafe fragen, sondern nach der offiziellen Feststellung, dass Unrecht begangen wurde.

In diesem Rückblick steckt aber nicht nur eine Rückbindung an das vergangene Geschehen und an die Defizite und Desiderate der Rechtsordnung. In diesem Rückblick steckt auch eine Mahnung, eine Mahnung für die Möglichkeiten rechtsförmiger Auseinandersetzungen, mit Unrecht beständig weiter zu kämpfen, die vorhandenen Möglichkeiten einzusetzen und, wo nötig, zu erweitern. Auch international gilt das. Politik und Justiz sind hier gemeinsam gefragt. Viele Opfergruppen der NS-Zeit mussten Jahrzehnte auf Anerkennung hinarbeiten, Zwangsarbeiter oder Deserteure etwa. Andere haben sie sogar noch immer nicht völlig erreicht. So gelten etwa rund 360.000 Menschen, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden, bis heute nicht als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes.

1989, um dorthin zurückzukehren, fanden wir keine Rechtsnorm vor, die uns geholfen hätte, mit den Akten der Geheimpolizei umzugehen, sondern wir mussten uns selbst überlegen, wie unsere politischen Absichten in einer rechtsstaatlichen Form umzusetzen wären. Zu Gute kam uns damals das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, für das wir kein Gesetz hatten, aber immerhin den Spruch unseres höchsten deutschen Gerichtes in einem hochinteressanten Fall: das Volkszählungsurteil, wenige Jahre zuvor war es postuliert worden.

Ich wusste manches über die Bundesrepublik, aber diese Feinheiten der Rechtsordnung waren mir unbekannt. Dann lernte ich es durch einen verdienstvollen Juristen, Hans-Jörg Geiger, der damals in meiner Nähe war und Direktor der Behörde wurde. Diese Begegnung war sehr wichtig. Denn es musste doch rechtsförmig sein, was wir machten.

Die Einbringung des Gedankens des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung war so etwas wie ein Meilenstein – auch in der Akzeptanz des Rechts auf Aktenöffnung durch eine juristisch gebildete Öffentlichkeit. Zur Selbstbestimmung gehörte fortan, dass jeder, der bespitzelt wurde, das Recht hatte zu erfahren, was über ihn und gegen ihn zusammengetragen oder geplant wurde vom Ministerium für Staatssicherheit oder von der SED, auch wer daran mitgewirkt hatte.

Heute ist das alles eingeführt und eingefahren. Es klingt einleuchtend. Aber ich werde nicht vergessen, wie hartnäckig wir für die Idee der Offenlegung der Akten kämpfen mussten. Politisch, weil sie vielen damals Beteiligten unbequem oder einfach zu heikel erschienen, und rechtlich, weil ungezählte Probleme bedacht, Rechte gegeneinander abgewogen und Verfahren gefunden werden mussten. All das war ein Lernprozess, wie eine gewissermaßen tribunalfreie Akteneinsicht möglich sein konnte.

Heute können wir sagen, das Stasi-Unterlagen-Gesetz war ein innovatives Gesetzeswerk, in einer einzigartigen historischen Situation entstanden. Es war eine spezialgesetzliche Regelung, die es nicht nötig hatte, sich das Odium des Sonderrechts anheften zu lassen. Es passte in die entwickelte Rechtsordnung der erwachsen gewordenen Bundesrepublik Deutschland.

Immer wieder bin ich und sind meine Nachfolger im Amt des Stasi-Unterlagen-Beauftragten gefragt worden von Gästen im Ausland, aus Osteuropa, aber auch aus arabischen Ländern, aus Lateinamerika, aus Südafrika, aus Asien: Zuletzt hat sich die tunesische Nationalversammlung dafür interessiert, wie unsere Gesetze Transparenz für die Opfer mit dem nötigen Datenschutz vereinbaren. Dass der deutsche Rechtsstaat Innovationen entwickelt hat, Transformationen von der Diktatur zur Demokratie zu befördern – das ist für mich ein Grund zu wirklicher Freude.

Ich will daran eine Schlussbemerkung anknüpfen und für Erweiterung wie auch für Selbstbeschränkung werben.

Anfangs habe ich formuliert: Recht ist nicht nur Recht, es wird auch. Es kann, was gewollt, gesetzt und durchgesetzt werden. Dahinter steckt die Aufforderung an Sie, die Sie hier versammelt sind: Justieren Sie unser Recht immer wieder neu, wo es nicht mehr zeitgemäß ist. Suchen Sie nach den besten rechtlichen Lösungsmöglichkeiten, wenn Lebenswirklichkeiten sich geändert haben.

Manche Rechtsbereiche haben sich erst in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt, Sie wissen das besser als ich: Datenschutz, Umweltrecht. Für neue Entwicklungen bedarf es des entsprechenden Rechtsrahmens. Die Sorge vor rechtsfreien Räumen im Internet existiert weltweit. Ich habe mich gefreut, welch prominente Rolle sie im Eröffnungsvortrag gespielt hat, sie beschäftigt uns seit Jahren. Ich frage mich: Wie lässt sich das von uns erkämpfte Recht auf informationelle Selbstbestimmung für diesen riesigen Bereich sichern? Ich bin auch gespannt auf Ihre diesjährigen Debatten, etwa über das Thema Urheberrecht in der digitalen Welt.

Was können nationale Rechtsordnungen überhaupt noch ausrichten in grenzüberschreitenden Räumen? Oder was dürfen wir vom Völkerrecht erwarten angesichts spektakulärer Völkerrechtsbrüche? Viele hoffnungsvolle Entwicklungen gab es in den vergangenen 25 Jahren, etwa die Etablierung des internationalen Strafgerichtshofs. Er steht für das Versprechen der Staatengemeinschaft, dass Verantwortliche für Völkermord, Verbrechen gegen Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

Zum Abschluss wiederhole ich einen anderen Gedanken: Recht kann, was es können darf. Gerade unter dem öffentlichen und politischen Erwartungsdruck, der oft auf der Justiz lastet, hatte und hat sich unser Rechtsstaat zu beweisen. Sie tragen dabei eine hohe Verantwortung, dem Druck zu widerstehen und nur die angemessenen Erwartungen zu befriedigen. Solcher Druck entsteht zum Beispiel, wenn in den Medien oder in der Politik schon während eines Ermittlungsverfahrens öffentliche Vorverurteilungen ausgesprochen werden. Solcher Druck entsteht auch durch die oft verständlichen Erwartungen von Opfern und deren Angehörigen.

Aber, wir machen uns das erneut bewusst, Recht kann nicht alle Fragen jeder Schuld beantworten. Und gerade die Frage nach der Verstrickung von Minderschuldigen oder nach der stillschweigenden Tolerierung der Vielen ist außerordentlich schwer und oft gar nicht strafrechtlich zu beantworten. Nicht alle politischen und gesellschaftlichen Hintergründe können also in einem gerichtlichen Verfahren erhellt werden. Und so haben wir eben immer wieder zu fragen, was Recht kann und was es nicht können kann. Aber wir haben auch zu fragen, was wir leisten müssen, dass es vermag, was es können sollte.

Wir haben in Deutschland erlebt, dass Recht fragil ist, dass es missbraucht werden kann. Aber was haben wir danach erlebt? – eine hochimponierende Etappe deutscher Rechtsstaatlichkeit. Und wir sind miteinander froh und glücklich, dass dieser so gut gewachsene Rechtsstaat nicht in der Gefahr ist, ausgehöhlt zu werden, jedenfalls dann nicht, wenn wir die neuen Herausforderungen, seien sie technologischer oder kultureller Art, auch juristisch annehmen.

Unser Rechtsstaat braucht die Weitblickenden, die ihn voran bringen in neues Terrain. Und er braucht die Vielen, die ihn verteidigen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen nun einen guten und ertragreichen Juristentag.