Besuch bei der Ostafrikanischen Gemeinschaft

Schwerpunktthema: Rede

Tansania, , 5. Februar 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 5. Februar vor den Vertretern der Organe und der Zivilgesellschaft der Ostafrikanischen Gemeinschaft eine Rede gehalten: Wir dürfen in unseren Bemühungen nicht nachlassen: Menschenrechtspolitik ist eine Daueraufgabe. Auch in Europa mussten die Menschenrechte gegen heftige Widerstände erkämpft werden. Und auch in Europa sind sie bis heute keine Selbstverständlichkeit.

Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede vor Vertretern der EAC Organe und Zivilgesellschaft der Ostafrikanischen Gemeinschaft anlässlich des Staatsbesuchs in der Vereinigten Republik Tansania

Dass Sie mich in Ihr Parlament eingeladen haben, ehrt mich sehr. Dieses Haus ist das Haus einer großen Familie – der Ostafrikanischen Gemeinschaft. Mehr noch: Es ist ein Haus, in dem das Bekenntnis zu Frieden und Freiheit, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu Menschenwürde und Mitmenschlichkeit seinen Platz gefunden hat.

Sie haben mich gefragt, ob ich als deutscher Gast zugleich auch als Europäer sprechen möchte. Das tue ich gern und aus tiefster Überzeugung. Schließlich sind sich die Ostafrikanische Gemeinschaft und die Europäische Union in vielen Punkten sehr ähnlich, besonders bei den Zielen der politischen Integration. Und so teile ich gern einige Erfahrungen, die wir als Deutsche und Europäer gemacht haben, mit Ihnen. Unsere gemeinsamen Themen liegen auf der Hand. Aber ich weiß auch, dass Sie an eigenen Lösungen arbeiten, dass Sie eine eigene Agenda und entsprechende Zeitpläne verfolgen. Ostafrika sucht seinen eigenen Weg. So geschieht es gerade – und so soll es auch sein.

Ich bin als Partner gekommen – Partner im wohlverstandenen Sinne, wenn wir über die Begegnung von Afrikanern und Europäern sprechen. Thabo Mbeki, den ich im Januar in Berlin getroffen habe, schrieb schon vor einigen Jahren ganz grundsätzlich über das Verhältnis zwischen Afrikanern und Europäern: Beide Seiten müssen akzeptieren – und durch ihr Verhalten zum Ausdruck bringen –, dass nun ein neues Zeitalter angebrochen ist, ein Zeitalter der gleichberechtigten Partnerschaften. Ein richtiger Satz und eine wichtige Maxime, an der wir uns orientieren sollten. Partnerschaftliche Zusammenarbeit heißt: hinsehen, zuhören, verstehen lernen und erst ein Urteil äußern, wenn man erkannt hat, dass es mehr gibt als die eigene Perspektive. Das ist die Haltung, mit der die Europäische Union und die Ostafrikanische Gemeinschaft aufeinander zugehen sollten. Sie ist auch aus dem Respekt vor den komplexen Bedingungen geboren, aus denen regionale Zusammenschlüsse von Staaten wachsen.

Nach Auskunft der Fachleute könnte die Ostafrikanische Gemeinschaft mit ihren selbstgesteckten, sehr ehrgeizigen Zielen zum Vorbild und zum Tempomacher auf dem Kontinent werden. Die bisherige Bilanz stimmt jedenfalls zuversichtlich. Mehr als sechs Prozent Wirtschaftswachstum – und das kontinuierlich in den vergangenen zehn Jahren – konnten die beteiligten Volkswirtschaften im Durchschnitt erzielen. Hinzu kommt:

Die 145 Millionen Menschen in diesem Wirtschaftsraum sprechen – bei allen kulturellen Unterschieden – eine gemeinsame Verkehrssprache, Swahili. Diesen Luxus haben wir in Europa nicht.

Es gibt etliche Themenfelder, über die sich ein Erfahrungsaustausch lohnen würde, etwa die Zollunion, die Währungsunion oder die politische Union. Noch wichtiger scheint mir jedoch der Austausch über etwas Grundsätzliches, nämlich über die Frage: Warum lohnt es sich, so viel Kraft in die Integration zu investieren? In der Europäischen Union lautet die Antwort seit Jahrzehnten: um Frieden, um Stabilität, um Wachstum und Wohlstand aller Mitglieder der Gemeinschaft zu fördern. Getragen von dieser Motivation entstand unsere enge Zusammenarbeit auf demokratischer und rechtsstaatlicher Grundlage. Auch in schwierigen Zeiten haben uns gemeinsame Überzeugungen zusammengehalten. Wir wissen: Für diese Werte lohnt es sich, Kompromisse zu suchen, geduldig zu bleiben, nötigenfalls auch einmal eigene Interessen zurückzustellen.

Ich will nicht verschweigen: Konflikte gab und gibt es in diesem Prozess immer wieder, auch Krisen, die uns viel Kraft abverlangen. Wie oft haben wir in der EU um Tempo und Tiefe der Integration gerungen und tun es bis heute. Aber wir spüren auch: Das Bekenntnis zu Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Kooperation ist kostbar. Es zu leben, verleiht Stärke.

Wer die EU nur aus der Ferne betrachtet, der kann seit 2010 alle paar Tage den Eindruck bekommen, wir stünden dort am Rande des Abgrunds. Apokalyptiker kündigen regelmäßig das Ende des Euro oder gleich den kompletten Untergang Europas an. Bitte misstrauen Sie den Propagandisten des Niedergangs. Sie lagen bisher immer falsch. Wahr ist doch: Es gibt sie weiterhin, Europas Familie der Staaten – größer denn je, solidarisch mit Hilfe zur Selbsthilfe, wenn ein Mitglied in Not gerät, und bereit, sich konstruktiv mit sich selbst auseinanderzusetzen. Bei allen Schwierigkeiten, die wir überwinden müssen, bleibt unbestreitbar: Nie zuvor in der Geschichte ging es so vielen Menschen so gut in Europa.

Ich hoffe, dass es in Ostafrika gelingt, eine ähnlich erfolgreiche Entwicklung voranzubringen. Die anspruchsvollen Ziele der Ostafrikanischen Gemeinschaft verdienen höchsten Respekt. Ich ahne, dass auch Sie schon mit Rückschlägen zu kämpfen hatten, mit Zweifeln und Selbstzweifeln, auch mit öffentlicher Kritik. Bitte lassen Sie sich von Schwierigkeiten nicht entmutigen! All das musste auch die Europäische Union durchleben. Sie ist daran nicht gescheitert, sondern gewachsen.

Julius Nyerere hat schon in den 1970er Jahren gesagt: Wenn Entwicklung wirklich stattfinden soll, dann müssen die Menschen einbezogen werden. Genau das haben wir auch in Europa beobachtet: Je ambitionierter ein Projekt, desto größer ist der Bedarf an Selbstvergewisserung. Erfolgreich ist die Europäische Union immer dann, wenn große Mehrheiten in den Mitgliedstaaten wichtige Entscheidungen mittragen. Die Erweiterungsrunde 2004 bot dafür ein gutes Beispiel. Sie war beflügelt von dem Willen von Millionen von Europäern, die Teilung des Kontinents endgültig zu überwinden. Wenn es in anderen Fällen aber misslang, den Sinn einer Neuerung der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, dann ließ sich das Projekt am Ende auch nicht durchsetzen. Der Entwurf einer Europäischen Verfassung beispielweise konnte deshalb nicht voll verwirklicht werden.

Viele waren 2004 enttäuscht, weil wir keinen Text gefunden hatten, hinter dem sich alle versammeln konnten. Als uns jetzt die Anschläge von Paris erschütterten und Millionen Menschen, nicht nur in Frankreich, auf die Straße gingen, um Solidarität mit den Opfern zu zeigen und die demokratischen Werte zu verteidigen, da dachte ich: Wir haben zwar keine gemeinsame Verfassung, aber so viele Europäer treten entschlossen für ihre gemeinsamen Werte ein. Ich glaube, das ist es, was uns in Europa eint.

Auch Russlands Verstöße gegen das Völkerreicht in der Ukraine haben uns in jüngster Zeit noch enger zusammenrücken lassen. Was die Europäische Union für jeden einzelnen bedeutet, ist vielen Europäern mit dem Ausbruch dieses Konflikts erst wieder richtig bewusst geworden. In Gesprächen mit Jugendlichen stelle ich oft fest: Das friedliche Miteinander in Europa war für die meisten einfach Alltag. Jetzt lernen sie aus aktuellem Anlass: Nichts ist selbstverständlich. Familiensinn muss gepflegt werden, Nachbarschaft auch.

Ich glaube, es ist sehr weitsichtig, dass die Ostafrikanische Gemeinschaft besonders die junge Generation in den fünf Mitgliedstaaten anspricht. Denn diese Generation wird es sein, für die viele Versprechen von heute Realität werden können. Es braucht Zeit, ein so großes Vorhaben wie die Ostafrikanische Gemeinschaft umzusetzen. Und es braucht junge Menschen, die sagen: Wir probieren neue Wege, auch wenn wir hier und da einmal stolpern. Vor allem: Wir probieren es gemeinsam.

In Europa hat es sich auch als hilfreich erwiesen, dass Schüler und Studenten aus verschiedenen Ländern schon früh bei Austauschprogrammen aufeinandertreffen. Mit 15 von Berlin nach London, mit 21 nach Madrid oder Riga – solche Erlebnisse stiften ein Gemeinschaftsgefühl, das kein Gesetz verordnen könnte. Ich bin froh, dass wir dieses Wachsen von unten Jahr für Jahr nach Kräften fördern. Denn Begeisterung entsteht durch Erfahrung. Und Erfahrung kann man nur unter Menschen machen, nicht zwischen Paragrafen.

Liebe EAC-Jugendbotschafter hier im Saal,

Sie haben sich entschieden, die Zukunft Ostafrikas mitzugestalten. Der Zusammenschluss Ihrer Staaten ist ein guter Ort dafür. Allerdings wird es nicht leicht werden. Politik ist oft mühsam. Lösungen müssen immer wieder neu diskutiert, neu verhandelt, neu errungen werden. Das ist aufwendig, aber es lohnt sich. Denn wer verhandelt, der lernt, sich in sein Gegenüber hineinzudenken. Wer verhandelt, der akzeptiert, dass beide Seite Interessen haben und dass ein Ausgleich gesucht werden muss. Und wer verhandelt, der signalisiert: Meine Stärke ist das Argument, nicht die Waffe.

Integrationspolitik kann – ich finde: muss – beides sein: Wirtschafts- und Friedenspolitik. Konflikte zwischen Staaten müssen friedlich gelöst werden, deshalb brauchen wir belastbare Regeln für unser internationales Miteinander. Die wichtigste Grundlage für alle Vereinbarungen bilden in meinen Augen die Menschenrechte. Denn sie sind universell. Sie sind nicht an Herkunft oder Religion, nicht an einen sozialen oder materiellen Status gebunden. Die Menschenrechte sind ausnahmslos jedem Menschen eigen, wo und wie auch immer er leben möchte.

Ich weiß, hier im Saal klingen solche Bekenntnisse vertraut. Fast alle afrikanischen Staaten haben die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen ratifiziert und mit der Banjul-Charta eine eigene, afrikanische Menschenrechtscharta geschaffen. Dennoch wissen wir um die große Kluft, die sich mancherorts zwischen Anspruch und Realität auftut. Ich möchte mich heute an die Seite der Opfer stellen. Deren Botschaft ist eindeutig. Menschenrechtsverletzungen dürfen nicht toleriert werden! Und wer die Menschenrechte verletzt, muss zur Verantwortung gezogen werden – in Straßburg genauso wie in Arusha.

Hier in Arusha finden sich sogar gleich drei bedeutende Gerichte: das Ruanda-Tribunal, der Gerichtshof der Ostafrikanischen Gemeinschaft und der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte der Völker. Es liegt mir sehr daran, allen drei Institutionen meinen Respekt zu versichern – ganz persönlich und im Namen der Bundesrepublik Deutschland.

Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda hat einen unschätzbaren Beitrag zur Versöhnung und für das friedliche Zusammenleben geleistet. Ich bin dankbar, dass Deutschland diese wichtige Arbeit unterstützen konnte.

Der EAC-Gerichtshof überwacht die Einhaltung der Verträge, die sich die Ostafrikanische Gemeinschaft gegeben hat – zweifellos eine Kernaufgabe.

Und auch der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte der Völker ist nicht mehr wegzudenken, wie mir heute Vormittag bei meinem Besuch sehr deutlich wurde. Die Hälfte der Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union hat diese Gerichtsbarkeit inzwischen anerkannt. Deutschland und die Europäische Union begrüßen alle Bemühungen, weitere Staaten zur Anerkennung zu bewegen. Sie fördern den Gerichtshof auch. So unterstützt die Bundesrepublik zum Beispiel den Aufbau des Gerichtshofs hier in Arusha.

Damit der Gerichtshof über Menschenrechtsverletzungen von Kapstadt bis Kairo, von Dakar bis Dschibuti urteilen kann, sind aber nicht nur seine umfassende Anerkennung und seine reibungslose Verwaltung nötig. Es ist genauso wichtig, dass der Zugang zu diesem Gericht tatsächlich für jede Bürgerin und jeden Bürger Afrikas offen steht. Denn das ist ja die eigentliche Errungenschaft eines internationalen Gerichtswesens für Menschenrechte: dass es jedem Einzelnen zu seinem Recht verhelfen beziehungsweise in seinen Rechten schützen kann.

Sieben afrikanische Staaten räumen ihren Bürgerinnen und Bürgern dieses Recht bereits ein. Mögen die anderen Länder diesem Beispiel folgen! Wir dürfen in unseren Bemühungen nicht nachlassen. Menschenrechtspolitik ist eine Daueraufgabe. Auch in Europa mussten die Menschenrechte gegen heftige Widerstände erkämpft werden. Und auch in Europa sind sie bis heute keine Selbstverständlichkeit.

Was mich zuversichtlich stimmt: Ich bin hier unter Verbündeten. Sie alle sind ja nicht nur Botschafter der Ostafrikanischen Gemeinschaft, sondern auch Mitglieder der Afrikanischen Union, der weltweit größten Kontinentalfamilie, die sich Frieden, Stabilität, Zusammenhalt und eben auch die Menschenrechte auf die Fahne geschrieben hat.

Sie sind es, die eine afrikanische Sicherheitsarchitektur entwerfen. Sie sind es, die gemeinsames Handeln in den entscheidenden Momenten fordern – sei es vor, während oder nach einem Konflikt. Sie sind es, die Maßstäbe für Good Governance setzen.

Und Sie sind es, die afrikanische Wege für die Lösung dieser Fragen suchen.

Viele Menschen zählen auf Sie, wenn es um Probleme geht, die nur von innen lösbar sind, von Afrika selbst. Als ich 2013 bei der Afrikanischen Union zu Besuch war, haben wir über solche Aufgaben gesprochen. Korruption, Willkür bei Polizei und Justiz, schlecht funktionierende Verwaltungen – ich weiß, Sie haben all das längst auf der Agenda. Ich möchte Ihnen versichern: Deutschland sieht Ihre Anstrengungen und würdigt jede einzelne. Und Deutschland wird Sie unterstützen, wenn Sie weiter vorangehen.

Ihr Erfolg bedeutet mir viel. Weil ich als Deutscher und Europäer Ihr Partner bin. Weil wir gemeinsame Ziele haben und Interessen verfolgen. Weil wir als Erdenbürger gemeinsam die Wahrung der universellen Rechte der Menschen anstreben.

Nina kushukuru sana!