Teilnahme an der traditionellen Matthiae-Mahlzeit

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 20. Februar 2015

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 20. Februar als Ehrengast an der traditionellen Matthiae-Mahlzeit in Hamburg teilgenommen. Dort hielt er eine Rede: "Unser Erinnern ist wie ein Spiegel, in dem wir erkennen, was uns heute wichtig ist. Mit unserer Erinnerung an die demokratische Umwälzung im unfreien Teil Europas und an die Wiedervereinigung Deutschlands vergewissern wir uns, wer wir sind und was uns weiterhin eint."

Bundespräsident Joachim Gauck hält als Ehrengast der traditionellen Matthiae-Mahlzeit im Kaisersaal des Rathauses der Freien und Hansestadt Hamburg eine Rede

Was für ein schöner Abend! In dieser Gesellschaft zusammen zu essen und zu trinken, miteinander zu reden, das ist menschliche Begegnung in einem guten, wunderbaren Sinne. Gastfreundschaft und Gemeinschaft sitzen gleichsam mit am Tisch.

Das Matthiae-Mahl ist mehr als eine ehrwürdige Feier, oder, wie man heute sagen würde, eine Gala. Es ist ein Symbol, ein Sinnbild dafür, dass wir miteinander verbunden sind, als Bürger und als Menschen. Bei jedem Gastmahl, einem so großen und prächtigen zumal, da weiß man, dass die Gesellschaft und die Geselligkeit selbst zur Botschaft werden können. Sie lautet: Wir setzen uns an einen Tisch und kommen miteinander ins Gespräch – Convivium nennt man dieses verbindende Ritual seit der Antike.

Dass Hamburg neben Bürgern und Würdenträgern stets auch ausländische Gäste an den wohlgedeckten Tisch bat und dass diese internationale Tafelrunde gerade hier seit dem 14. Jahrhundert zur Tradition wurde, das wundert wohl niemanden. Der Handel, vor allem der Seehandel, hat die Stadt geprägt. Wer über die See schaut und über die See fährt, dem öffnen sich Blicke über die eigenen Grenzen hinaus. Er erkennt auch, was uns mit Fremden und anderen verbindet. So verdankt Hamburg seine Weltverbundenheit dem ausgeprägten Bürgersinn und dem klugen Geist des ehrbaren Kaufmanns.

Ohne Umschweife geben die Quellen allerdings auch Auskunft über einen nicht so ganz symbolischen Zweck des Matthiae-Mahls: Man wolle sich, die Vertreter der Hamburg freundlich gesonnenen Mächte noch gewogener machen. Vielleicht, so darf ich vermuten, bin auch ich als jemand, der Hamburg tatsächlich seit jeher freundlich gesonnen ist, deshalb heute hierher gebeten worden. Ich deute dieses Zeichen jedenfalls positiv und danke den Mitgliedern des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg sehr herzlich dafür, dass ich hier heute eingeladen bin.

25 Jahre europäische und deutsche Einigung – auch darüber wollen wir ja heute Abend sprechen. Schon mit der Wahl des ausländischen Ehrengastes beweist Hamburg wieder einmal seine diplomatische Kunst: Es ist ein Freund Deutschlands und ein Freund Europas. Es ist der polnische Präsident, Bronisław Komorowski.

Herr Präsident, lieber Freund,

ich freue mich, Sie wieder in Deutschland zu sehen. Und ich freue mich besonders, dass Sie bei Ihren Besuchen nicht nur die Hauptstadt beehren, sondern auch unser Land bereisen. Und heute sind Sie in einer der schönsten und interessantesten Städte der Republik.

Präsident Komorowski und ich können eine gemeinsame europäische Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte vom Aufbruch aus der Unfreiheit, auch von der beglückenden Erfahrung, die Freiheit und die Vereinigung Europas auf friedlichem Weg zu erringen. Wir erzählen diese Geschichte nicht nur als Pole oder als Deutscher. Wir erzählen sie als Europäer im Bewusstsein geteilter Erfahrungen und gemeinsamer Erwartungen. Das nivelliert keinesfalls die nationale Geschichte und die nationale Verantwortung. Vielmehr zeigt es, wie weit wir auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erzählung schon gekommen sind. Das habe ich bei allen unseren Begegnungen dankbar empfunden.

Bei einem Jubiläum wie diesem 25. geht es nicht allein um die Würdigung zurückliegender Ereignisse. Es geht immer auch darum, wie wir uns gegenwärtig wahrnehmen. Unser Erinnern ist wie ein Spiegel, in dem wir erkennen, was uns heute wichtig ist. Mit unserer Erinnerung an die demokratische Umwälzung im unfreien Teil Europas und an die Wiedervereinigung Deutschlands vergewissern wir uns, wer wir sind und was uns weiterhin eint.

Die Ereignisse vor 25 Jahren markieren das Ende der Zeit, in der Europa durch Mauer und Stacheldraht getrennt war. Die Menschen hoben mit friedlichen Mitteln Diktaturen aus den Angeln. Ihr Mut beendete eine Epoche der Unterdrückung – und wenn ich Mut sage, fällt mir in Europa immer zuerst Polen ein: jene Menschen, die in Polen schon lange vor 1989 aufgestanden sind und den Aufbruch in Europa so immens befördert haben. Dafür kann man nicht genug danken. Erst durch diesen Aufbruch ist aus Europa ein geeintes Europa geworden. So hat mit dem Hinzukommen der mittelosteuropäischen Länder Europa ja insgesamt zu sich selbst gefunden, vereint in den Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Selbstbestimmung.

Wenn wir heute Abend am Tisch sitzen, bei gutem Essen und offenem Gespräch, dann wissen wir um die identitätsstiftende Kraft dieser europäischen Ideen und dieser universellen Werte. Im Kern beruhen sie – und hier darf ich Präsident Komorowski zitieren – auf einem ähnlichen Verständnis der Rolle des Menschen in der Welt. Dieses Verständnis ist das Fundament, auf dem wir stehen und das unser europäisches Haus trägt. Es ist ein Menschenbild, das die Idee von der Freiheit und der Würde des Einzelnen ins Zentrum rückt und so die Grundnormen politischen Handelns und Denkens prägt. Wegen dieses gemeinsamen Menschenbildes ist Europa für uns mehr als Politik und Wirtschaft. Es ist Teil unserer Identität, Teil dessen, was wir sind und was uns eint.

Wir wissen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns heute auf unsere Gemeinsamkeiten berufen, alles andere als selbstverständlich ist: Europa, so steht es uns vor Augen, Europa in der Moderne – das sind Aufklärung, Freiheitsrevolutionen und Reformbewegungen, aber immer auch Gewaltausbrüche und menschenfeindliche Ideologien, geschlossene Grenzen und geschlossene Herzen. Wie oft haben europäische Nachbarn, Nationen gegeneinander Krieg geführt und, so erinnern wir uns, die halbe Welt mit ins Verderben gezogen.

Dem Beginn unseres heutigen Europa der gleichberechtigten Menschen und gleichberechtigten Nationen ging ein tiefer, von Nazideutschland verursachter Bruch voraus; der Bruch mit einer hellen Tradition, der Bruch mit den Ideen von Menschenwürde und Freiheit. Auch das Matthiae-Mahl wurde in diesen Jahren, von denen ich sprach, ausgesetzt.

Wie sollte nach so viel Gewalt jemals wieder Gemeinsamkeit entstehen? Wie sollte man sich je wieder an einen Tisch setzen und Raum für Begegnung und Dialog schaffen? So fragt sich jedenfalls zumindest ein Mensch, der meiner Alterskohorte angehört oder noch ein wenig älter ist. Aber doch ist es gelungen.

Die Wiederannäherung, dieses Geschenk der Geschichte, hatte für das weltoffene, internationale Hamburg, das von seinen Handelsbeziehungen in alle Teile der Welt lebt, ganz besondere Bedeutung.

Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, fast zeitgleich mit dem Beginn der europäischen Einigung, 1957 und 1958, begründete die Freie und Hansestadt Hamburg ihre ersten beiden Städtepartnerschaften: mit Leningrad und Marseille – anfänglich durchaus skeptisch aus Bonn betrachtet. Der Westen Europas übte in diesen Jahren wie das geht, sich friedlich zu einigen. Und die beteiligten Staaten wussten, dass sie im gemeinsamen Interesse auch das eigene verwirklichten. In Etappen schuf man robuste und lernfähige Institutionen, ein supranationales Gebilde auf der Grundlage des Rechts.

Das Matthiae-Mahl – wieder aufgenommen Mitte der 1950er Jahre – steht beispielhaft für diese Entwicklung. Als Ausdruck der besonderen Hochachtung wurde es zum geschätzten Hilfsmittel, um das Trennende der Vergangenheit zu überwinden und die einheitsstiftenden Ideen des Humanismus und der Aufklärung zu befördern. Und so saßen in den letzten Jahrzehnten auch hier in Hamburg Diplomaten zusammen, um die Konturen des gemeinsamen Europa zu entwerfen. Sie knüpften wieder Bande, wo sie abgerissen waren. Sie suchten die Verbindung zu den guten Traditionen der Verständigung, der Gemeinschaft und der Solidarität.

Nicht nur die Politik der Vergangenheit, auch die der Gegenwart sitzt hier mit am Tisch.

Das gemeinsame Europa gerät wieder unter Druck. Wir müssen Risse im Fundament kitten und wollen die Traditionen des Matthiae-Mahls umso mehr hüten. Gerade jetzt, unter dem Eindruck der fundamentalistischen Terroranschläge in Paris und Kopenhagen, auch im Licht des europaweiten Zulaufs für einen angstgetriebenen Populismus und ganz besonders angesichts des Versuchs völkerrechtswidriger Grenzverschiebungen an der Peripherie, gerade jetzt ist es notwendig, die Erzählung Europas fortzuschreiben: Wir müssen uns sagen, wer wir sind, damit wir bleiben, was wir sind. Die Menschen, die nach den Attentaten auf die Straße gingen, sie haben demonstriert, wie stark Mitmenschlichkeit, Freiheit und Recht in Europa verankert sind.

Diese Werte, wir wollen sie weitertragen. Und in diesem Geist wollen wir gemeinsam weiter essen, trinken, miteinander reden, uns verständigen.

Haben Sie Dank.