Festakt zur Verleihung der Zelter- und Pro Musica-Plakette

Schwerpunktthema: Rede

Celle, , 15. März 2015

Der Bundespräsident hat am 15. März anlässlich der Verleihung der Zelter- und PRO MUSICA-Plakette eine Rede gehalten: "In dieser Migrationsgesellschaft wird es von herausragender Bedeutung für die Zukunft des Musiklandes Deutschland sein, ob und wie Migranten einen Zugang finden zu diesem wesentlichen und unverwechselbaren Bestandteil unserer Kultur. Und wie sie sich diese Kultur möglicherweise kreativ und innovativ aneignen und sie mit dem, was sie selber mitbringen, bereichern."

Bundespräsident Joachim Gauck hält anlässlich der Verleihung der Zelter- und PRO MUSICA-Plakette eine Ansprache in Celle

Lassen Sie mich ausnahmsweise mit dem Schluss beginnen. Am Ende dieser Veranstaltung, werden wir miteinander singen. Viele können das Lied sicher auswendig: Kein schöner Land….

Und das soll nun zunächst einmal mein Stichwort sein für das, was ich heute ausdrücken möchte.

Kein schöner Land in dieser Zeit / als hier das uns’re weit und breit…

Ich will jetzt gar nicht der Frage nachgehen, ob dieser Komparativ stimmt. Vielleicht gibt es doch irgendwo ein schöneres Land als hier das uns’re. Aber ich möchte ganz entschieden festhalten, dass unser Land ein besonders schönes, ein besonders lebenswertes und liebenswertes Land ist. Und je weiter ich als Bundespräsident herumkomme, und je länger und je mehr ich sehe, was in diesem Land an Gutem und buchstäblich Vorbildlichem geschieht, umso mehr muss ich sagen: Es ist ein sehr schönes Land, in dem wir alle zusammen leben.

Das liegt eben nicht nur daran, wie es im Lied heißt, dass wir schöne Täler haben. Auch die Linden mögen wir und den Eichengrund und den hohen Himmel, den lieben wir, wo auch immer er sich zeigt. All das stimmt zwar, macht es aber doch nicht allein aus.

Es ist doch vor allem das Land, in dem Menschen leben, die einander zugetan sind und die nicht nur für sich allein, sondern für die Gemeinschaft etwas tun und für den Nächsten, um ein altes Wort zu gebrauchen. Und das tun sie auf vielfältige Weise: zum Beispiel indem sie miteinander musizieren, füreinander singen und ihre Instrumente klingen lassen. In unserem Land gibt es viele tausend Chöre und Orchester, und wir sehen daran, wie in diesem Land das Engagement der Einzelnen und der vielen engagierten Gruppen lebt. Es ist dieser Geist des ehrenamtlichen Einsatzes für andere, der ein Dorf, eine Stadt und das ganze Land in so besonderer Weise schmückt.

Natürlich singen wir auch für uns persönlich, weil es jedem Einzelnen Freude macht, weil es uns erfüllen kann, weil man sich neu kennenlernt, wenn man musiziert und wenn man singt. Wir kommen heraus aus alltäglichen Sorgen und Mühen, und wir spüren, dass wir eine Seele haben. Wir spüren, dass es so etwas wie einen Seelengrund gibt, um ein anderes altes Wort zu benutzen. Die Mystiker in alter Zeit haben davon gesprochen. Deshalb können Singen und Musizieren im vollen Sinne des Wortes geradezu beseligend wirken. Wir erspüren wieder etwas von unseren tieferen Schichten, wir haben das Gefühl, auf andere Art als im Alltag bei uns selber ankommen zu können.

Aber wir musizieren eben nicht nur für uns selbst, nicht nur allein. Wir brauchen das Miteinander, um einen Chor, um ein Orchester zu gründen und lebendig zu halten. Und vielleicht ist das ein Sinnbild für das, was in einer Gesellschaft insgesamt geschehen muss. Wie lange hat dieses Miteinander oft gehalten, von dem wir gerade reden. Und wie oft musste es auch wieder erneuert werden:

Denn 100 Jahre, das geht ja über Generationen hinweg, und die Vorgängergenerationen haben manches erlebt, was niemand erleben möchte: Kriege, Inflationen, Diktaturen mit ihrer vergewaltigenden Indienstnahme unserer musikalischen Traditionen, wechselnde Staats- und Wirtschaftsformen! Alle hier ausgezeichneten Chöre sind mindestens 100 Jahre alt – und nicht nur heute und hier in Celle, in den vergangenen Jahrzehnten sind schon viele geehrt worden, die eine so lange Geschichte haben.

Darauf kann und darf unser Land einfach stolz sein. Vielleicht gibt es schönere Länder. Vielleicht. Aber man muss wohl lange suchen, um ein Land zu finden, in dem die Musikkultur mehr gefördert wird. Wir haben in Deutschland nicht nur die Hälfte aller Opernhäuser der Welt: Diese sogenannte musikalische Hochkultur gibt es nur, weil es an der Basis, in den Dörfern und Kleinstädten und in den Stadtvierteln der Großstädte unzählige Orte gibt, an denen aktiv gesungen und musiziert wird. Freude an der Musik, Leidenschaft zum Hören der großen Werke: Das wächst meist beim eigenen Musizieren. Ginge das verloren, würde auch das Opern- und Konzertpublikum der großen Häuser langsam aber sicher schwinden.

Eine lange Tradition ist etwas sehr Schönes – aber eine lange Tradition ist noch keine Garantie dafür, dass es auch in Zukunft so weitergeht. An der Zukunft muss immer aktiv und bewusst gebaut werden.

Dazu zwei Gedanken: Unsere Gesellschaft, sie verändert sich. Unsere deutsche musikalische Tradition, jenes immaterielle Kulturerbe, von dem wir gerne sprechen, wird in Zukunft auch vielen anvertraut werden, die aus ganz anderen Kulturen und musikalischen Traditionen zu uns kommen. Wie wird also das Erbe erhalten? Oder wird es sich verändern? Ich finde es deshalb sehr gut und bemerkenswert, dass es in diesen Tagen der Chor- und Orchestermusik in Celle zum Beispiel ein Forum gibt, das sich mit dem Thema Chorsingen in der Migrationsgesellschaft beschäftigt.

In dieser Migrationsgesellschaft wird es von herausragender Bedeutung für die Zukunft des Musiklandes Deutschland sein, ob und wie Migranten einen Zugang finden zu diesem wesentlichen und unverwechselbaren Bestandteil unserer Kultur. Und wie sie sich diese Kultur möglicherweise kreativ und innovativ aneignen kann, was andere mitbringen. Ich finde es sehr gut, dass die Verbände diese Zukunftsaufgabe sehen und sich darauf einstellen.

Und ein zweiter Gedanke: Ein großer Teil der musikalischen Kultur unseres Landes wird seit unvordenklichen Zeiten von kirchlichen Chören und Orchestern getragen.

Ich muss an dieser Stelle eine kleine Abschweifung machen. Ich hatte Sie vorhin erinnert an Diktaturen und Kriege. Ich bin im Krieg geboren, also noch im Deutschen Reich und aufgewachsen im Osten Deutschlands, in der DDR. Die noch älter sind, die wissen sehr genau, was Diktaturen auch mit der Kultur machen – auch mit unseren Liedern, mit unserer Musik. Nicht nur gute Menschen haben Lieder, sondern auch böse und niederträchtige. Es gibt ja auch Hassgesänge. Ich habe im vorigen Jahr schon daran erinnert, dass unsere über 100-jährige Tradition immer auch eine Tradition ist, über die man sich nicht nur freuen kann.

Man kann sich über Auferstehung, Wiederentdeckung und über das Bewahren freuen. Aber man muss wohl auch sehen, dass alles, was existiert, sogar das wunderbare Gewebe unserer Seele, das menschliche Herz, der menschliche Geist und natürlich auch die Künste, das Brauchtum immer gefährdet sind und missbraucht werden können.

Und wenn wir heute einen kirchlichen Posanenchor und einen kirchlichen Chor auszeichnen, dann denken wir auch voller Dankbarkeit daran, dass gerade in Zeiten der Diktaturen im Raum der Kirchen etwas anderes aufbewahrt wurde, das die zeitweilig Herrschenden gar nicht mochten. Wieviel Treue gehörte dazu, das zu pflegen und zu bewahren, und wieviel Hingabe?

Das war eine kleine persönliche Erinnerung an solche Zeiten. Jetzt kommen wir wieder dankbar zurück in unsere Zeit.

Stellvertretend für alle anderen, zeichne ich hier und heute einen katholischen Kirchen- und einen evangelischen Posaunenchor aus. Unzählig viele Menschen in unserem Land sind großer Musik übrigens nur deshalb begegnet, weil sie im Gottesdienst vielleicht einmal eine Mozartmesse oder eine Bachkantate gehört oder vielleicht in einem kleinen Kirchenchor mitgesungen haben. Oder auch weil sie bei einem Bläsersatz über einen Paul-Gerhardt-Choral mitmusiziert haben.

Insofern sehe ich es natürlich auch mit Sorge, wenn Kirchenchöre eingehen, weil es an musikalischem Nachwuchs fehlt oder wenn Kirchenmusikerstellen eingespart werden. Hier droht an vielen Orten – oft auch an kleineren, und darum zunächst im Großen und Ganzen wenig sichtbar – ein Abbruch unersetzlicher kultureller Praxis. Ich weiß, dass man an vielen Stellen – innerhalb und außerhalb der Kirche und mit Hilfe neuer Kooperationen – versucht, diesem Trend entgegenzusteuern. Ich wünsche diesen Bemühungen von ganzem Herzen Erfolg, denn hier geht es um eine lebendige, identitätsstiftende und unverwechselbare Tradition, die auch für unsere Zukunft wertvoll ist.

Um eine reiche Chor- und Orchesterlandschaft zu erhalten, braucht es mehr als nur Freude am Singen und Musizieren. Deswegen möchte ich heute allen danken, die sich um das kümmern, was man im Konzert zwar nicht hören kann, was aber immer unbedingt dazugehört, damit es überhaupt erst zu einem Konzert kommt. Ich denke zum Beispiel an diejenigen, die die Programme zusammenstellen und drucken, die Flyer verteilen und Plakate aufhängen, die die Noten verwalten und die Anwesenheitshefte führen, die sich um den Nachwuchs kümmern, die Sponsoren und Unterstützer werben, die Anzeigen sammeln für Programmhefte, die die Räume in Schuss halten, die die Mitgliedsbeiträge einsammeln, die die Kasse prüfen, die Auftritte planen, Chorreisen organisieren, Chroniken und, und, und – und dann immer wieder an die Musiklehrerinnen und die Musiklehrer an unseren Schulen und Musikschulen. Allen zusammen ein herzliches Denkschön!

Und dann muss ich ja noch ein anderes wichtiges Dankeschön sagen, nämlich an all die, die sich in die Vorstände und auf Präsidentenpositionen wählen lassen und Verantwortung übernehmen. Wir brauchen diese Verantwortungsträger genau so wie die Künstlerinnen und Künstler und all die, die ich eben genannt habe. Ohne sie alle wäre buchstäblich Schweigen im Walde.

Also, ein schönes Land, in dem so vieles freiwillig und ehrenamtlich geschieht! Ein schönes Land, in dem so viel, so gern und so schön und interessant gesungen und musiziert wird! Ein schönes Land, zu dem wir alle das beitragen, was wir vermögen.

Haben Sie Dank und alles Gute für die Zukunft.