Jahrestagung der Fraunhofer-Gesellschaft

Schwerpunktthema: Rede

Wiesbaden, , 9. Juni 2015

Der Bundespräsident hat am 9. Juni bei der Jahrestagung der Fraunhofer-Gesellschaft eine Rede gehalten: "Damit aus Innovationen Geschäftsideen werden und aus Geschäftsideen Erfolge, braucht es eine Gesellschaft, die Neuem offen und mit informiertem Blick gegenübersteht. Auch da ist noch eine Menge zu tun. Wir wollen ja technikaffine und technikmündige Bürgerinnen und Bürger."

Bundespräsident Joachim Gauck hält eine Ansprache bei der Jahrestagung der Fraunhofer-Gesellschaft im Kurhaus Wiesbaden

Der Blick auf die Naturwissenschaft – zumal der anwendungsbezogenen – weist nach vorn. Ich bitte Sie um Verständnis dafür, dass ich zu Beginn einmal in die Vergangenheit zurückschaue.

München um 1800: Der junge Joseph Fraunhofer, mit kaum zwölf Jahren schon Vollwaise, hat keine besonders rosigen Zukunftsaussichten. Obwohl wissbegierig und ehrgeizig, bleibt ihm der Weg zu einer akademischen Bildung verschlossen. Er geht so bei einem Glasschleifer in die Lehre und erhält nicht einmal die Erlaubnis, die Sonntagsschule zu besuchen. Dass man ihn noch heute kennt, dass eine große Forschungsorganisation nach ihm benannt wurde, das hat mit einem Zufall, genauer genommen mit einem tragischen Unglück zu tun. Das Haus seines Lehrherrn stürzt ein, Fraunhofer jedoch wird aus den Trümmern gerettet – im Beisein von Kurfürst Max, der ihm daraufhin ein Geldgeschenk macht. Auch der Unternehmer Utzschneider wird auf Fraunhofer aufmerksam – er erkennt mit der Zeit das Potenzial und das Talent des jungen Mannes und fördert ihn nach Kräften. Fraunhofer dankt es ihm – und wird schließlich zum anerkannten Erfinder und Unternehmer.

Das zeigt: Ein Leben muss durchaus nicht immer geradlinig verlaufen, um zu einer Erfolgsgeschichte zu werden. Manchmal können aus Krisen, aus großen Schwierigkeiten neue Chancen erwachsen – und stets gilt es dann, solche Chancen beherzt zu ergreifen. Dafür ist der Mensch Joseph Fraunhofer ein ebenso gutes Beispiel wie die Institution, die seinen Namen trägt: Gegründet im Jahr 1949, wurde sie schon drei Jahre später als eine der tragenden Säulen der außeruniversitären Forschung in der jungen Bundesrepublik anerkannt. Zwischendurch stand sie dann kurz vor der Auflösung und erlebte schließlich eine dynamische Entwicklung, als der Wissenschaftsrat ihren Ausbau empfahl.

In mehr als 65 Jahren hat die Fraunhofer-Gesellschaft die Entwicklung der bundesdeutschen Forschungslandschaft nun begleitet und auch geprägt. Wie einst ihr Namensgeber genießt die Fraunhofer-Gesellschaft hohes internationales Renommee. Heute ist sie die größte Organisation anwendungsorientierter Forschung nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.

Auf der Suche nach den Wurzeln dieses beeindruckenden Erfolgs stößt man auf eine weitere Parallele zwischen Joseph Fraunhofer und der nach ihm benannten Gesellschaft: Ich meine das Geldgeschenk des Kurfürsten und die beherzte Unterstützung eines Unternehmers, die dem jungen Mann aus Bayern den Weg ebneten. Auch die erfolgreiche Arbeit der Fraunhofer-Gesellschaft ist möglich dank dieser Mischung aus staatlicher Grundfinanzierung einerseits und eingeworbenen Drittmitteln für die Vertragsforschung auf der anderen Seite.

Ziel der Fraunhofer-Gesellschaft ist die anwendungsorientierte Forschung zum unmittelbaren Nutzen für die Wirtschaft und zum Vorteil für die Gesellschaft. Dieser Aufgabe widmet sie sich seit der Wiedervereinigung in ganz Deutschland. So zählt zu den vielen Leistungen der Fraunhofer-Gesellschaft, dass sie die ostdeutschen Forschungseinrichtungen erfolgreich integriert hat und so zu einer wahrhaft gesamtdeutschen Institution geworden ist.

Die Breite des Spektrums, das sich aus den einzelnen Forschungsbereichen der Fraunhofer-Institute ergibt, ist beeindruckend. Nicht nur für einen Laien wie mich, sondern für viele informierte Fachleute in der ganzen Welt. Und die Innovationen, die aus diesen Instituten kommen, sollen nicht nur ein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit sein. Häufig zielen sie gleichzeitig auf soziale Gerechtigkeit oder auf ein nachhaltiges Wachstum. Wir lesen dies auch im Leitbild der Fraunhofer-Gesellschaft. Und wir erleben es ganz praktisch in all den Bereichen, in denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraunhofer-Institute forschen und wirken. Und das ist sicher auch einer der Gründe dafür, dass sie so oft unter den Preisträgern des Deutschen Zukunftspreises zu finden sind, bei dem es ja ebenfalls um die Frage geht: Wie werden aus Ideen erfolgreiche Produkte, die dem Menschen dienen?

Die Beantwortung dieser Frage ist von entscheidender Bedeutung. Denn nur mit innovationsbasierten Technologien, Produkten und Dienstleistungen kann es gelingen, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland und Europa zu erhalten und zentralen Herausforderungen – bei uns und weltweit – zu begegnen.

Nun das Motto dieser Versammlung – Licht gestaltet – bietet zahlreiche Beispiele dafür, zumal im Internationalen Jahr des Lichts, und auch mit Blick auf die Person von Joseph Fraunhofer, der es vom Glasschleifer zum Erfinder optischer Instrumente brachte.

Licht ist Grundlage allen Lebens auf der Erde. Licht ermöglicht es uns auch, die Welt mit unseren Augen zu erkennen. Welch große Rolle das Licht in der Kulturgeschichte der Menschheit gespielt hat, das können wir auch in diesem Raum sehen, wenn wir auf das Deckengemälde dieses Saales schauen: Der Titan Helios lenkt seinen prächtigen Sonnenwagen den Himmel entlang. Spätestens seit der europäischen Aufklärung gilt das Licht ja als Sinnbild für Wissen und für die unbändige Kraft des menschlichen Verstandes – die Begriffe Enlightenment und Les lumières zeugen noch heute davon.

Dass es auch ein Zuviel an Licht geben kann, erscheint uns vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund fast unvorstellbar. Wir sprechen in unserer technisierten Welt manchmal sogar vom Verlust der Nacht oder gar von Lichtverschmutzung – ein Wort, das ich in meiner Kindheit und Jugend nicht kannte. Rund ein Viertel des weltweiten Stromverbrauchs wird heute dazu benötigt, Gebäude und Straßen zu beleuchten. Die Entwicklung ressourceneffizienter Mittel zur Beleuchtung – wie zum Beispiel organischer LEDs – nimmt daher eine herausragende Rolle ein.

Aber Licht erhellt nicht nur unsere Städte, es ermöglicht auch Einblicke in kleinste Strukturen des Lebens. Für seine Entwicklung hochauflösender Lichtmikroskope erhielt der deutsche Forscher Stefan Hell im vergangenen Jahr sogar den Chemie-Nobelpreis. Daneben ist Licht längst ein unverzichtbares Werkzeug, ob zum Abtasten von CD-ROMs und DVDs, zum Schneiden von Werkstoffen oder zur Herstellung von Gegenständen im 3D-Druck. Ich bin Ihnen, meine Herren, sehr dankbar, dass Sie mir dieses Gefühl von etwas Unheimlichem genommen haben, als Sie mir in aller Kürze das Verfahren des 3D-Drucks erklärt haben. So durfte ich heute auch etwas dazulernen. Herzlichen Dank dafür! Ich freue mich, dass die Fraunhofer-Gesellschaft bei diesem Zukunftsthema eine so starke und im Wortsinn sichtbare Rolle spielt.

Ein anderes zunehmend sichtbares Zukunftsthema ist der demographische Wandel. Unser Land verändert sich bereits heute. Umso mehr gilt: Für eine Gesellschaft, in der die Menschen länger leben, sind Innovationen von entscheidender Bedeutung für ein gutes Leben.

So sind ganz einfach neue Beleuchtungstechnologien nicht nur ressourcenschonend, sondern eröffnen auch neue Wege im Lichtdesign – etwa um Menschen im Alter das Leben in der eigenen Wohnung einfacher und bequemer zu machen. Mein Besuch in der Stadt Arnsberg hat mir gezeigt, wie vielfältig der Nutzen technologischer Innovationen gerade in diesem Bereich ist. Innovationen können einen Beitrag zu einem längeren und selbständigeren Leben leisten – denken wir etwa an Hörgeräte, E-Bikes, Fahrassistenten und Roboter, die Hilfestellung im Alltag geben.

Innovationen helfen uns auch, die Chancen eines längeren Lebens nun besser zu nutzen. Die gewachsenen Möglichkeiten der medizinischen Früherkennung und Prävention gehören, ebenso wie neue Behandlungsmethoden, zu den Voraussetzungen dafür, dass Menschen heute eine längere Lebenserwartung haben und dass wir dieses verlängerte Leben auch für sinnvolle Tätigkeiten nutzen können.

Wenn wir über Demographie sprechen, dann tun wir gut daran, diese Diskussion nicht auf Deutschland zu verengen. Denn Tatsache ist: Anders als bei uns wächst die Weltbevölkerung insgesamt. Deshalb geht es darum, möglichst vielen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen – und das ist eben immer nur mit Innovationen zu erreichen: bei erneuerbaren Energien, bei ressourcenschonenden Produktionsprozessen, bei der Lebensmittelversorgung. Und auf all diesen Feldern ist die Fraunhofer-Gesellschaft aktiv und leistet so einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unserer Lebens- und Wirtschaftsweise.

Auch dank der Fraunhofer-Gesellschaft gehört Deutschland – zusammen mit den skandinavischen Ländern – zu den innovativsten Staaten der Europäischen Union. Und darüber freue ich mich besonders. Möglich ist das durch ein gutes Zusammenwirken von Politik und Wirtschaft, von Wissenschaft und Gesellschaft. Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen, dass ich manchmal, wenn ich im Ausland unterwegs bin, von nichtmateriellen Exportgütern spreche. Und dazu würde auch dieser Ansatz, den die Fraunhofer-Institute und die Fraunhofer-Gesellschaft anbieten, gehören. Es ist nicht nur diese Art und Weise, wirtschaftliche Effizienz zu verbinden mit technologischen Innovationen und Wissenschaft, Staat, Unternehmen zusammenzubringen. Wir haben auch andere Exportgüter – ich denke an unsere duale Berufsausbildung oder etwas ganz anderes: die Art und Weise, wie in Deutschland Unternehmen, Unternehmensverbände und Arbeitnehmer und Gewerkschaften miteinander arbeiten. Mit kooperativen Herangehensweisen auch schwierige Situationen zu meistern. Das heißt, es ist diesem Land gelungen, nach seinem tiefen Fall nicht nur durch einzelne wissenschaftliche und technologische Spitzenleistungen ein lebenswertes Leben und Zukunftsfähigkeit zu generieren, sondern es hat Haltungen hervorgebracht, die Einzelnen wie dem Gemeinwesen nützen.

Und Sie sollen einfach wissen, dass ich Sie einordne in diese Gruppe von positiven Exportgütern, die unser Land anderen anbietet. Nicht um andere zu bevormunden, sondern um unsere Erfahrung mit Ländern, die sie brauchen könnten, zu teilen. Ich spüre dann oftmals, dass wir für viele Länder schon so etwas wie ein Rollenmodell darstellen. Als ich das zum ersten Mal merkte, habe ich mich richtig erschrocken. Aber immer wenn ich genau hinsehe, was sind denn diese vorbildlichen Leistungen, die andere so noch nicht entwickelt haben, ist mir aufgefallen: Nein, für das Erschrecken gibt es keinen Grund. Vielmehr muss ich dankbar sein und voller Freude, was sich in diesen Jahren entwickelt hat.

Natürlich wissen wir, dass die Politik einen verlässlichen rechtlichen Rahmen bieten muss. Sie muss Infrastruktur und eine auskömmliche Grundfinanzierung von Bildung, Forschung und Entwicklung bereitstellen. Hier ist, Gott sei Dank, in den vergangenen Jahren viel geschehen: Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind gestiegen, auch mit dem sogenannten Paket der Pakte ist hier etwas geschehen, das uns hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt. Die Fortführung dieser Pakte ist auch für die kommenden Jahre bereits ganz konkret oder, wo nicht konkret, dann wenigstens im Grundsatz beschlossen. Mit der Hightech-Strategie wurden verschiedene Maßnahmen für Forschung und Innovation in Deutschland gebündelt. Eine Änderung des Grundgesetzes ermöglicht die Kooperation von Bund und Ländern auch im Hochschulbereich. Und nun kommt es darauf an, dass wir diese zum Teil neuen Möglichkeiten intelligent und entschlossen nutzen.

Auch die Unternehmen sollten mitziehen und weiter in Innovationen investieren, im eigenen wie im gesamtgesellschaftlichen Gesamtinteresse. Auch hier sehen wir positive Entwicklungen: Die deutsche Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung deutlich erhöht. Es gibt nun auch Zeichen der Zurückhaltung – etwa wenn es darum geht, Wagnisse einzugehen. Es ist schon ein wenig paradox: Einerseits hat unser Land ganz enorm von all den neuen Ideen profitiert und ist auch in der Zukunft auf sie angewiesen. Aber andererseits leisten sich viele von uns den Luxus, das Wort Risiko ausschließlich negativ zu verstehen. Da muss sich wohl auch noch etwas ändern.

Damit aus Innovationen Geschäftsideen werden und aus Geschäftsideen Erfolge, braucht es eine Gesellschaft, die Neuem offen und mit informiertem Blick gegenübersteht. Auch da ist noch eine Menge zu tun. Wir wollen ja technikaffine und technikmündige Bürgerinnen und Bürger. Und gerade deshalb müssen die, die davon am meisten verstehen – die Fachleute – auch eine wichtige Stimme in der öffentlichen Debatte sein und aufklärerisch wirken.

Die meisten Menschen in Deutschland – so sagen uns Umfragen – stehen Innovationen eigentlich offen gegenüber. Doch es gibt auch Anzeichen von Skepsis, umso mehr, wenn sich der Nutzen von Innovationen nicht unmittelbar erschließt oder wenn sie mit Risiken verbunden sein könnten. Es bleibt daher eine drängende Aufgabe, die Technikmündigkeit der Gesellschaft weiter zu fördern und immer wieder einen offenen, sachorientierten Dialog über neue Technologien zu ermöglichen.

Wir wissen es ja – nicht alles, was neu ist, ist auch schon automatisch gut. Aber andererseits wird es eine Zukunft, eine gute Zukunft, nicht ohne technische Innovationen geben. Umgekehrt gilt nun auch, dass sich sogar die beste Innovation nicht durchsetzen kann, wenn ihr die Akzeptanz bei den Menschen fehlt. Daher meine Einrede.

Vor wenigen Tagen habe ich den Festakt zum 50-jährigen Jubiläum der Ruhr-Universität in Bochum besucht und eine Woche davor die 50. Bundessiegerehrung von Jugend forscht. Dass diese Jubiläen in denselben Zeitraum fallen, ist wohl Zufall, aber ich sehe doch auch eine gewisse Symbolkraft darin. Denn Spitzenforschung, wie sie an den Fraunhofer-Instituten stattfindet, ist auf Nachwuchs angewiesen und damit auf ein leistungsfähiges Bildungs-, Ausbildungs- und Hochschulsystem.

Wenn wir jungen Menschen die besten Chancen eröffnen wollen, ihren Weg selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu gehen, dann müssen wir in die außeruniversitäre Forschung und in die Hochschulen, in die berufliche Bildung und vor allem in die schulische Bildung investieren.

Wir können damit nicht früh genug beginnen, Menschen und ihre Begabungen zu entdecken. Das Beispiel des jungen Joseph Fraunhofer zeigt es uns: Talente brauchen Förderung.

Die kreativen Köpfe, die Erfinder und Entdecker von morgen, sie leben schon heute unter uns, ebenso wie die Nutzer künftiger Technologien. Wir tun gut daran, sie bestmöglich zu fördern – zum unmittelbaren Nutzen für die Menschen und zum Vorteil für die Gesellschaft. Ich danke Ihnen.